Kleine Sektenkunde 1994 / 4

Ex.: FUNDAMENTUM

Zeugen Jehovas
Dr. theol. S. Leuenberger

I. Einige entwicklungsgeschichtliche Fakten
1. Charles Taze Russel als Initiant der Sekte

Der 1852 in Pittsburgh/Pennsylvania geborene Russel betätigte sich als Fachmann in der Herrenmode. Bereits in jungen Jahren verfügte er über ein grosses Vermögen.

Ursprünglich gehörte Russel der Presbyterianischen Kirche an. Dort fand er jedoch nicht die für ihn richtige Nahrung. Er meinte, die Kongregationalistenkirche könnte ihm die nötige geistliche Kost bieten. Doch auch in der Gemeinde der Kongregationalisten fühlte er sich nicht wohl, weil er dort
auch der Lehre der doppelten Prädestination begegnete. Diese Lehre er- füllte ihn mit Abscheu. Für Rüssel kam nach dieser Enttäuschung eine Zeit, wo er an der Bibel irre wurde.

Im Jahre 1870 kam er mit einer von den Adventisten abgespaltenen Gruppe in Berührung. Diese Splittergruppe lehrte, die Wiederkunft Christi werde 1872 oder 1873 stattfinden. Da sich die Prophezeiung nicht erfüllt hatte, wich die Splittergruppe auf das Jahr 1874 aus. Solche Machenschaften er weckten in Russel Misstrauen, und so verband er und sein Bibelgesprächs kreis sich mit ehemaligen Adventisten, die sich «Second Adventists» nannten. Dort fand er in N. H. Barbour, der das Blatt «The Heraid of the Morning» redigierte, einen Freund. Russel gelang es, in der Redaktion dieses Blattes mitzuarbeiten. Doch Lehrdifferenzen brachten die beiden aus einander, so dass sich Russel von Barbour 1878 trennte und aufgrund der gewonnenen Redaktionserfahrung einen eigenen Zeitschriftenverlag zu gründen wagte, nämlich «Zion's Watch Tower and Heraid of Ghrist's Presence» (Zions Wachtturm und Herold der Gegenwart Christi).

Zeugen Jehovas 39 1879 heiratete er in Pittsburgh seine Verlagsangestellte Maria Francis Ackley. Es kam zu grossen Spannungen, weil Russel die literarische Tätigkeit seiner Gattin als Konkurrenz empfand. 1906 kam es zur Scheidung. Viele Anhänger distanzierten sich deswegen von Russel.

Am Anfang seiner Wirksamkeit hatte Rüssel noch die Gelegenheit, in den etablierten Kirchen Vorträge zu halten; denn damals vertrat er auch noch die wahre Ökumene aller wahrhaft Gläubigen quer durch alle Konfessionen hindurch, was in den Ausgaben des Wachtturms aus dem Jahr 1910 noch spürbar war. Doch begannen sich etwas später fanatisierende Tendenzen immer mehr mit unbiblischen Ansichten zu paaren, so dass sich für ihn die Türen der Kirchen nach kurzer Zeit schlössen. Seine Reaktion auf die zu nehmende reservierte Haltung der Kirchen zeigte sich darin, dass er deren Mitglieder dazu aufrief, ihre Denominationen zu verlassen.

Er sammelte nun vom Jahr 1878 an alle Leser der «Wachtturm-Traktate» zur sog. «Ecciesia», die er aber bis gegen das Jahr 1910 noch nicht als Konkurrenz zu den etablierten Denominationen verstand, sondern eher als ergänzende Gesinnungsgruppen, die den Akzent auf die unmittelbar bevor stehende Wiederkunft Christi setzten. Er teilte diese in weitere Gruppen auf. Die Hauptaufgabe einer Gruppe bestand darin, die Traktate Russels bekannt zu machen. Aus den Gruppen der «Ecciesia» rekrutierte er Kolporteure, welche die Traktate in die Häuser bringen und Kunden für ein Wachtturm-Abonnement gewinnen mussten. Mit dem Erlös hatten sie ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.

1889 verkaufte Rüssel sein Kleidergeschäft. Die dadurch flüssig gemachte Geldsumme investierte er in sein Werk, das er in eine Aktiengesellschaft umwandelte. Das Werk wuchs derart schnell, dass Rüssel in New York zwei Gebäude zu kaufen und das Werk zu einem Konzern auszuweiten vermochte. Im Jahre 1907 war es so weit, dass Rüssel der Wachtturmgesellschaft ein siebenköpfiges Direktorium gab; die Kompetenz zur Veröffentlichung von Wachtturm-Traktaten übertrug er einem fünfköpfigen Komitee. Seine Gründung erhielt 1939 den Namen «Watch Tower Bible and Tract Society of New York».

Seit 1884 reiste Russel rastlos in den Staaten umher. Sein ungeheurer Fleiss zeigte sich darin, dass er seine Predigten und Vorträge an fast drei tausend Zeitungen in den USA und Europa versandte. Im Verlauf seines Lebens hat Russel gegen dreissigtausend Predigten gehalten und auf seinen Reisen 1.6 Millionen Kilometer zurückgelegt. Seine schriftlichen Erzeugnisse umfassen fünfzigtausend Druckseiten. Seine wichtigsten Lehren finden wir in den «Schriftstudien», die insgesamt eine Auflage von sechzehn Millionen Exemplaren erreicht haben. Russel leistete Enormes als Bibelforscher, Schriftsteller, Redner und Organisator, jedoch vor allem in quantitativer Hinsicht. Russel erging sich in Spekulationen über

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die Wiederkunft Christi und das Tausendjährige Reich, dessen Anbruch er für das Jahr 1914 prophezeite. Fehlerhafte eschatologische Prognosen versuchte er immer wieder durch Flickwerk zu retten.


Eines müssen wir Rüssel im Gegensatz zu seinem Nachfolger zugute halten: Er dachte in positivem Sinn über die Juden, deren zionistische Bewegung er als ein deutliches Zeichen der Endzeit wertete. Rüssel besuchte das Heilige Land und pflegte Kontakte zu Juden. Es war auf der Heimreise von einer Vortragstour, als er am 30. Oktober 1916 vom Tod ereilt wurde.

2. J. F. Rutherford baut die Wachtturmgesellschaft weiter aus

Der Jurist J. F. Rutherford war stellvertretendes Mitglied jenes Gremiums, das für die Veröffentlichung der Wachtturm-Traktate die Verantwortung hatte. Das Direktorium wählte diesen tüchtigen Juristen als Nachfolger Russels

Rutherford stammte aus einer baptistischen Farmerfamilie, die in Missouri ansässig war. 1894 lernte er die Wachtturmgesellschaft kennen. 1906
wählte diese ihn zum Rechtsberater. Rutherford zeichnete sich aus durch geschickte Taktik und grosses Können in organisatorischen Angelegenheiten. An Hingabe und Opferbereitschaft fehlte es Ihm nicht. Er formte Russels Lehren um, indem er diesen ein stark juristisches Gepräge gab. Als Rechtsgelehrter gehörte Rutherford zu den wenigen Akademikern der Wachtturm-Gesellschaft. Er fühlte sich deshalb auch über die etwas einfachen Gemüter dieser Organisation erhaben, was u.a. durch sein kaltschnäuziges Gebaren zum Ausdruck kam. Kraft seiner Stellung gelang es ihm, die Glaubensgenossen zu gehorsamen Funktionären zu machen. Rutherford gab zwei Mitarbeitern den Auftrag, das sechsbändige Werk Russels, seine «Schriftstudien», mit einem siebenten Band zu erweitern. Damit wollte er die Theologie Russels verfremden und untergraben. Nach dem man im Direktorium diese Machenschaften erkannt hatte, brach eine kräftige Opposition gegen Rutherford aus. Dieser schmiss jedoch die uniebsamen Kritiker heraus und besetzte das Direktorium eigenmächtig mit seinen Anhängern. Auf dem Kongress in Columbus/Ohio kam im Jahre 1931 der Name «Zeugen Jehovas» auf. Die Wachtturm-Gesellschaft stützte diesen Namen auf Jes 43, 10-12 ab. Es kamen Namensergänzungen hinzu wie «Theokratische Organisation», «Neue Weltgesellschaft». Die typischen Züge einer Sekte traten erst mit dem Machtantritt Rutherfords in Erscheinung. Die Lehrveränderungen wurden seit der ersten grossen Versammlung unter Rutherford in Cederpoint/Ohio im Jahre 1919 deutlich, was sich in der Zeitschrift «Erwachet» zeigt. Unter Rutherford kam ein stark antizionistischer Zug auf, wobei die Behauptung eine grosse Rolle spielt.

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die Juden seien nun nicht mehr das erwählte Bundesvolk Gottes, sondern diese Würde sei seit 1918 auf die exklusive endzeitliche Heilsgemeinde der Zeugen Jehovas übergegangen.^ Rutherfords Werk umfasst achtzehn Bände mit durchschnittlich 350 Seiten und 32 Traktate. Polemik und Beschimpfungen vermischt mit Bibelinterpretationen prägen seine schriftstellerischen Erzeugnisse. Unter seiner Führung ging die vorerst noch demokratische Organisation immer mehr verloren. Die Mitglieder konnten nicht mehr die Leiter der örtlichen Versammlung wählen; diese wurden unter Rutherford vom Direktorium bestimmt. Aus der anfänglich demokratischen Verfassung wurde eine autoritäre theokratische Ordnung. Rutherford rief jährliche Kongresse ins Leben, um die Anordnungen des Direktoriums bzw. der Zentrale den Mitgliedern bekannt zu geben. Gerade die Kongresse sollten durch ihre hervorragende Organisation Werbung nach aussen hin sein. Es gibt nicht nur Bezirks- und Länderkongresse, sondern auch Weltkongresse. Die Zeugen Jehovas gehören zu den kongressfreudigsten Glaubensgemeinschaften.

3. Nathan Homer Knarr und die weitere Entwicklung der «Theokratischen Organisation»

Rutherford starb 1942. Sein Nachfolger wurde der 1905 geborene Nathan Homer Knorr. Dieser trug viel zum weiteren Ausbau der «Theokratischen Organisation» bei. Es gibt zwei juristische Körperschaften. Die wichtigste ist die «Watch Tower Bible and Tract Society of Pennsylvania». Diese ist die Weiterführung der von Rüssel 1881 gegründeten «Wachtturm-Gesellschaft». Die «Watch Tower Bible and Tract Society of Pennsylvania» stellt die Exekutive dar. In der «Watch Tower and Tract Society of fiew York» haben wir die zweite juristische Körperschaft. Knorr fügte eine dritte Körperschaft hinzu, nämlich die «International Bible Students Associatlon». Diese drei Organisationen bil den das Gesamtwerk.

1971 hat sich unter Knorr eine leitende Körperschaft mit elf Mitgliedern gebildet, die die Spitze darstellt. Die elf Mitglieder kommen im Selbstwahlverfahren lebenslänglich an die Macht und verstehen sich nach Mt 24, 45 als den «treuen und verständigen Sklaven». Die «Leitende Körperschaft» besitzt die Kompetenz der Legislative. Für den Druck von Bibeln und sonstigen Schriften ist seit 1944 die «Watch Tower Bible and Tract Society of Pennsylvania» verantwortlich. Diese ist die Exekutive und führt die Befehle der «Leitenden Körperschaft» aus. Derselben juristischen Körperschaft obliegt die Aussendung von Missionaren, die Gründung von Bibelschulen
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1 Vgl. Im Herz! Year Book, Vol. V, den Artikel von Yona Malachy, «Jehovas Witnesses and their Attitüde toward Judaism and the Idea of the Return to Zion», 1963, 8. 200.

42 Zeugen Jehovas und der Betrieb von Radiosendern. Die «Walch Tower Bible and Tract Society of Pennsylvania» ist auf eine Mitgliedschaft von 500 Personen be grenzt. Die grosse Masse der Zeugen Jehovas darf keinen Einfluss nehmen auf die Wahl dieser 500 Mitglieder, auch nicht auf die Wahl des Gremiums der «Leitenden Körperschaft». Der ganzen «Theokratischen Organisation» mit den drei genannten Körperschaften steht ein Präsident vor, der zum Elfergremium der «Leitenden Körperschaft» gehört.

II. Der Aufbau der «Theokratischen Gesellschaft» von unten her

A. Die wichtigsten Einheiten
1. Die Versammlung


Die Versammlung bildet die kleinste Einheit. Im Königreichsaal finden die Lehrvorträge jeweils statt. Älteste stehen der Versammlung vor. Doch diese können nicht von der Versammlung gewählt werden. Die 500 Mitglieder der Walch Tower Bible and Tract Society of Pennsylvania bestimmen darüber, wer Ältester sein darf während der Periode eines Jahres.

2. Der Kreis
Mehrere Versammlungen bilden einen Kreis. Der für einen Kreis Verantwortliche ist der Kreisaufseher.

3. Der Bezirk
Mehrere Kreise bilden einen Bezirk, für den es einen eigenen Vorsteher gibt.

4. Der Zweig
Verschiedene Länder bilden zusammen einen Zweig mit eigenem Aufseher.

B. Die wichtigsten Ämter und Gremien sowie Drillkurse im Dienst missionarischer Propaganda
1. Die Kolporteure und ihre Aufgaben
Die «Theokratische Organisation» ist eine riesige Propagandamaschine. Es braucht Kolporteure, um ein Maximum an Traktaten an den Mann zu bringen. Diese Kolporteure müssen für den Konzern werben. Sie gehen von Haus zu Haus in Begleitung eines Glaubensbruders oder einer Glaubensschwester. Zuerst versuchen sie, den Wachtturm abzugeben für einen Franken oder eine Mark. Der wichtigste Inhalt der Werbung besteht darin, dem Bekehrungsobjekt zu versprechen, es dürfe sich darauf freuen, einmal auf einer ewig heilen Welt leben zu dürfen. Allerdings gehört zur Bedingung, ein Zeuge Jehovas zu werden. Nebenbei drohen die Kolporteure mit

Zeugen Jehovas 43 der Schlacht von Harmagedon, wo alle, die nicht zu den Zeugen Jehovas gehören, der Vernichtung anheimfallen würden. Zeigt das Missionsobjekt Interesse, so findet kurz danach ein Nachbesuch von 15 Minuten statt. Bei diesem Besuch liegt der Hauptakzent auf Harmagedon. Ist der Nachbesuch positiv verlaufen, so geben die Kolporteure Anleitung zu einem Heimbibelstudium. Ein von der Organisation empfohlenes Buch müssen die Kandidaten lesen, aber auch den Wachtturm abonnieren, der übrigens mit einer Auflage von über 16 Millionen Exemplaren die quantitativ stärkste religiöse Zeitschrift ist. Das Heimstudium geschieht aufgrund eines Frage- und Antwortspiels, das den angestammten Glauben madig zu machen versucht.

2. Der Studienleiter und das Bezirksstudium

Sobald die Kandidaten ihr Heimstudium beendet haben, gelangen sie in die Obhut eines Studienleiters, der ein sog. «Bezirksstudium» durchführt. Die Studienleiter bereiten die Kandidaten auf die Vorträge im Königreichsaal, dem eigentlichen Gottesdienstlokal der Zeugen Jehovas, vor. Der Kandidat muss sich dort Vorträge anhören, die ihn immer wieder davor warnen, den Kontakt zur Organisation abzubrechen.

3. Die Dienstversammlung

Wenn der Kandidat das Soll an gottesdienstlichen Vorträgen im König reichsaal erfüllt hat, muss er der «Dienstversammlung» beiwohnen. Dort er hält er eine Ausbildung zum Prediger oder Verkündiger, um später als Kolporteur im Felddienst tätig sein zu können. Die Dienstversammlung ist nichts anderes als eine Schulung für die Erledigung missionarischer Aufgaben. Erst nach Abschluss dieser Schule geschieht durch die Taufe die Aufnahme in den Konzern der Zeugen Jehovas. Die Taufe geschieht durch Untertauchen, wobei der Kandidat seine Arme gekreuzt auf der Brust hält. Die Taufe ist zugleich die Ordination zum Predigtdienst und Kolporteur. Vergegenwärtigen wir uns noch einmal kurz die sieben Schritte des Kandidaten auf dem Weg zum formell anerkannten Zeugen Jehovas:
Erstens: Ein Kolporteur und eine Begleitperson sprechen das Missionsobjekt an der Türe an und verkaufen ihm einen Wachtturm.
Zweitens: Es findet ein Nachbesuch statt, der die Abonnierung des Wachtturms zur Folge haben muss.
Drittens: Der Kandidat verpflichtet sich zu einem Heimbibelstudium. Viertens: Der Kandidat besucht unter der Führung eines Studienleiters das «Bezirksstudium» als Vorbereitung auf die Teilnahme an den Versammlungen im Königreichsaal.
Fünftens: Das Bekehrungsobjekt hört sich im Königreichsaal die Vorträge an.

44 Zeugen Jehovas Sechstens: In der «Dienstversammlung» geschieht die weitere Ausbildung zum Kolporteur und Prediger.
Siebtens: Die offizielle Aufnahme in die Organisation und die Ordination zum Verkündigungsdienst geschieht durch die Taufe.

4. Drillkurse und die täglichen Pflichten eines Zeugen
Der weitere Weg eines Zeugen Jehovas geht über fortwährende Wiederholungs- und Fortbildungskurse. Diese Schulungen dauern lebenslang, wobei der Zeuge vier bis fünf Abende pro Woche investieren muss. Die Organisation verlangt, dass getaufte Zeugen Jehovas Kurse für Wachtturmstudien, Gesprächsführung und richtiges Sprechen besuchen. Dazu kommt der obligatorische Besuch von Kreisversammlungen und Kongressen. In diesen Kursen erhalten die Zeugen Unterlagen mit Frage- und Antwortmodellen als Anleitung zum Werbegespräch. Ein gewöhnlicher nebenamtlicher Kolporteur, der einem weltlichen Beruf nachgehen muss, ist verpflichtet, den grössten Teil seiner Freizeit übers Wochenende für den Felddienst und die Versammlungen im Königreichsaal zu opfern. Monatlich setzt ein Zeuge mindestens zwanzig Stunden nur für die Besuche im Felddienst ein. Zusätzlich kommen die Stunden, die er für die Leitung von Heimbibelstunden und Kursbesuchen einsetzen muss. Wendet jemand hundert Stunden im Monat auf für die Werbetätigkeit, so gilt er als «Pionier». Bringt es ein in einem weltlichen Beruf tätiger Zeuge nicht zustande, monatlich Pionierdienste zu leisten, so ist er verpflichtet, wenigstens die Ferien für Pionierdienste dranzugehen. Für einen Zeugen gibt es keinen Feierabend. Immer wieder muss er über die Bücher gehen und sei ne Protokolle über den Besuchsdienst auf dem neuesten Stand halten. Wir dürfen nicht vergessen, dass ein nebenamtlicher Zeuge die Werbeliteratur selber berappen muss. Der Gewinnanteil ist derart klein, dass er mit gut Glück gerade die Spesen decken kann. Von einem eigentlichen Gewinn kann man gar nicht sprechen.

5. Kreis- und Bezirksaufseher
Männer und Frauen mit diesen Ämtern stehen im Vollzeitdienst. Sie tragen die Verantwortung dafür, die lokalen Versammlungen zu inspizieren. Sie verlangen von den Kolporteuren und Leitern der Versammlung die Besuchs- und Nachbesuchskarteien, um diese einzusehen. Kolporteure und Versammlungsleiter müssen über die Anzahl der Besuche und der verkauften Werbeliteratur Rechenschaft ablegen. Die hauptamtlichen Arbeiter krampten neben ihren Inspektionsarbeiten in Druckereien oder Farmen, wobei sie Kost und Logis gratis erhalten, jedoch keinen Lohn, sondern lediglich ein bescheidenes Taschengeld von ungefähr 120 Dollar.

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III. Die Lehren der Zeugen Jehovas

1. Die Geschichtsschau und Eschatologie

Die Geschichtsschau ist vor allem durch Rüssel geprägt, von Rutherford später modifiziert worden. Für die Geschichtsschau der Zeugen Jehovas sind Zahlenberechnungen in Bezug auf die Wiederkunft Jesu und den Weltuntergang typisch. Rüssel lehrte drei Hauptabschnitte der Heilsgeschichte. Der erste Zeitabschnitt währt von der Schöpfung bis zur Sintflut. Engelwesen hatten die Verantwortung für diese Periode. Es stellte sich ein zweiter Zeitabschnitt unter der Herrschaft Satans ein. Er dauerte von der Sintflut bis zum Kommen Christi. Die dritte Periode nahm mit dem Kommen Christi ihren Anfang und dauert bis zum Weltuntergang durch die Schlacht von Harmagedon. Nach dem Ereignis dieser Schlacht werden die übriggebliebenen Zeugen Jehovas mit Christus das Paradies auf Erden aufbauen.
In der Geschichtsschau der Zeugen Jehovas geht es um das Drama des «Verlorenen Paradieses», das nun über viele Kämpfe zurückzugewinnen ist. Im wesentlichen sieht das für die Zeugen Jehovas folgendermassen aus: 4128 v. Chr. wurde das erste Menschenpaar erschaffen. Luzifer erhielt das Amt, die ersten Menschen zu betreuen. Doch im Drang, Gott gleich zu werden, verführte er sie zum Abfall von Jehova. 6000 Jahre stellt nun Gott der Menschheit zur Verfügung, um gegen Jehova kämpfen zu dürfen. Er will sich aber in diesem sechs Millenien dauernden Kampf vor der ganzen Welt rechtfertigen und sich als der Sieger über Luzifer erweisen. In dieser Zeitspanne sammeln sich Gott und Satan ihre Anhänger. Jehova hatte bereits wichtige Gegenmassnahmen ergriffen. Er brauchte Abel und Moses sowie andere Gottesmänner als die ersten «Zeugen Jehovas» im Kampf gegen Satan.

Im Jahre 1513 v. Chr. erwählte Jehova das Volk Israel, dem er eine theokratische Regierung gab. Wegen der Untreue der Könige Israels entzog er im Jahre 606 v. Chr. Israel das Recht, weiterhin ein Vorbild theokratischer Regierung sein zu dürfen. Im gleichen Jahr nahm die Herrschaft der Heiden ihren Anfang. 2520 Jahre sollte diese dauern. Jehova sandte seinen Sohn Jesus, der sich zur moralischen Vollkommenheit emporarbeitete. Am Kreuz hat er den Lösepreis für alle Menschen bezahlt, um ihnen dadurch die Möglichkeit zur Rückkehr ins Leben zu geben anlässlich des Tausendjährigen Reiches. Die Urgemeinde war noch in Ordnung. Doch bereits im Jahr 100 n. Chr. begann der grosse Abfall einzusetzen. Mit dem Aufkommen kirchlicher Organisation nistete sich Satan in der Kirche ein. Nicht nur kirchliche Organisationen weisen diabolischen Charakter auf, sondern auch politische Systeme. Die wahren Nachfolger Jehovas sammeln sich ausserhalb der etablierten

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Kirchen; denn diese sind Inbegriff des Bösen und sind schuld an der Kriminalität, der politischen Korruption, Habsucht, Rauschgiftsucht und an der Auflösung biblischer Ethik. (2) Interessant ist u.a. auch, wie die Zeugen Jehovas gerne zur Abqualifizierung Andersdenkender Bilder aus dem Bereich zügelloser Sexualität verwenden, was z.B. in jenem 1972 erschienenen Buch «Die Nationen sollen erkennen, dass ich Jehova bin» deutlich zum Ausdruck kommt. Dieses Buch bezeichnet die Kirche als Dirne, Ehebrecher, als Weib der Zügellosigkeit, als Bordell usw. Die Kirchtürme sind nach der Interpretation nichts anderes als ein Abbild des männlichen Phallus und drücken die Geilheit aus. Bereits zur Zeit Russels begann sich ein Stosstrupp zu bilden, den er «Theokratische Organisation» nannte. Nur wer zu dieser Organisation gehört, kann in der endzeitlichen Schlacht von Harmagedon überleben und sich eines ewigen irdischen Lebens in Wonne erfreuen. Jehova ist der grosse Rechner, der in der Bibel einen genauen Terminkalender für den Ablauf der heils- und gerichtsgeschichtlichen Ereignisse gegeben hat. (3)
Wiederholen wir die wichtigsten Zahlen: 4128 v. Chr. wird das erste Menschenpaar erschaffen. 4126 findet der Sündenfall statt. Die Sündenherrschaft dauert 6000 Jahre. Hängt man 6000 Jahre an das Jahr des Sündenfalls, so kommen wir auf die Jahreszahl 1874 n. Chr. Auf 1874 setzte Russel die Wiederkunft Christi an. Doch er kam in jenem Jahr nicht leibhaftig auf Erden zurück. Rüssel wusste sich dadurch zu helfen, dass er nun plötzlich von einer unsichtbaren Wiederkunft zu sprechen begann und beauptete, Jesus throne nun als unsichtbares Geistwesen in den Lufträumen.

Russel lehrte, von 1874 weg gäbe es noch eine vierzigjährige Zeit der Prüfung und Ernte. Das Ende der Geschichte träte 1914 ein und gäbe gleichsam den Auftakt zum Millenium.
Als sich das angesagte Ende nicht eingestellt hatte, gab es eine grosse Verunsicherung unter Russels Anhängern. Rutherford wusste diese Verunsicherung auszunützen und den verunsicherten Zeugen aus der Patsche zu helfen. Er veröffentlichte eine Schrift mit dem reisserischen Titel «Die Welt ist am Ende - Millionen jetzt Lebender werden nie sterben». In dieser Schrift legte Rutherford eine neue Endzeitberechnung vor. Nach Lev 25 soll das Sabbathjahr mit dem Einzug der Israeliten in Kanaan seinen Anfang genommen haben. Rutherford setzte die Landnahme der Israeliten aufs Jahr 1575 v. Chr. fest. Ein Sabbathjahr wurde alle 50 Jahre gefeiert. Nach Jer 25, 11 muss es im ganzen 70 Jubeljahre geben.
Bis zum letzten Sab-
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(2) Vgl. Zeltschrift «Erwachet» vom 22.9.1971.
(3) Vgl. Wachtturm vom 1. Oktober 1951.

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bathjahr verstreichen 3500 Jahre. Fügt man nun zum Jahr 1575 v. Chr. 3500 Jahre, so gelangen wir zum Jahr 1925 n. Chr. Rutherford lehrte, 1925 würden die alttestamentlichen Propheten auf die Erde zurückkehren. Für den Empfang der Patriarchen Hess er in San Diego ein schönes Haus bau en mit dem Namen Beth Sarim. Da aber 1925 nichts Besonderes geschah, musste Rutherford die Aufmerksamkeit der Leute auf etwas Neues lenken. Er gab die Erklärung heraus, Jehova habe aus Barmherzigkeit eine Verzögerung gewollt, um besonders in der Alten Welt noch vielen zur Rettung Gelegenheit zu geben.^ So verstand es Rutherford, sich mit Schlauheit aus der Patsche zu helfen. Den apokalyptischen Alarm machte er zum Dauer zustand, indem er erklärte, Harmagedon stehe vor der Türe. Er gab aber vorläufig keine festen Daten bekannt; denn er wusste genau, dass die Leute eine Ruhepause benötigen, bevor man sie wieder mit einem Datum in Spannung versetzen kann. Das nächste veröffentlichte Datum war 1975, jedoch geschickterweise mit einem Fragezeichen versehen. Als Alternativen gab das Direktorium noch die Daten 1996 und 1997 heraus. Immerhin müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass der jetzige amtierende Präsident der «Leitenden Körperschaft», M. G. Henschel, in der Zeitschrift «Erwachet» vom 22. März 1993 auf S. 4 folgendes Eingeständnis gemacht hat: «Jehovas Zeugen haben in ihrem Enthusiasmus für Jesu zweites Kommen auf Daten hingewiesen, die sich als unkorrekt herausgestellt haben.» Was hat es nun mit diesem Harmagedon für eine Bewandtnis? Harmagedon ist jene Schlacht, wo Jehova nach Offb 16,14+16 mit all jenen Völkern abrechnen wird, die sich gegen ihn und sein auserwähltes Volk zu einem Vernichtungskampf aufgemacht haben. Es handelt sich um die endzeitliche hier auf Erden ausgetragene Schlacht schlechthin. Die Zeugen Jehovas fassen aber Harmagedon als eine Endzeitschlacht auf, die gegen sie selber gerichtet ist; denn sie, die Zeugen, sind ja das Auserwählte Volk. Jehova wird als der grösste Feldherr aller Zeiten mit himmlischen Heerscharen gegen alle politischen und falschen religiösen Mächte die gewaltige Schlacht gewinnen. Jehova wird vor dem ganzen Universum gerechtfertigt dastehen. (5)) Den von Jehova geführten Kampf schildern die Zeugen in blutrünstigen Bildern bis ins Detail. Vor allem im Wachtturm vom 15. März 1956 finden wir ein grausames Bild von Jesus. Dieser ist der grosse Keltertreter, der sich mit seinem Trupp in den Keltertrog stürzt, um die hochaufgehäufte Last fauler Früchte zu zerstampfen. Die Pferde, die unter dem Befehl Christi stehen, können beinahe im vergossenen Menschenblut schwimmen. Der Wachtturm vom 15. Juni 1967 malt in geradezu sadistischer Weise aus, wie die durch die Schlacht von Harmagedon entstandenen Leichenfelder




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(4) Vgl. Wachtturm vom 1. August 1955.
(5) Vgl. Wachtturm vom 15. Mai 1990, S. 5.

48 Zeugen Jehovas zum Fest für die Aas fressenden Geier werden. (6) Alle Menschen, die sich nicht den Zeugen Jehovas anschliessen wollen, gehören zur Klasse der Böcke. Diese Greuelschilderungen sind in den Siebzigerjahren allerdings mehr in den Hintergrund getreten.

Zur Sonderlehre der Zeugen gehört, dass Jehova sich eine besondere Heiligtumsklasse sammelt, die für den Aufbau des Tausendjährigen Reiches zugerüstet werden soll. Es handelt sich um die sogenannten 144'000. Zur Zeit Russels begann sich bereits der Stosstrupp zu bilden, eben die Theokratische Organisation. Nur wer zu dieser Organisation gehört, kann in der endzeitlichen Schlacht von Harmagedon überleben und sich eines ewigen irdischen Lebens in Herrlichkeit erfreuen.

Nach Harmagedon, das termingerecht 1996/97 stattfinden sollte, folgt das Millenium. Beim Anbruch des Tausendjährigen Reiches gelangen alle verstorbenen Zeugen Jehovas zur Auferstehung. Mit ihnen zusammen erhalten alle jene ihr Leben zurück, die nie die Gelegenheit erhalten haben, die «Frohbotschaft» der Theokratischen Organisation kennen zu lernen. Vor allem jene Zeugen Jehovas, die zur besonderen Klasse der Geweihten gehören, also zu den 144'000, werden mit Christus zusammen die Leitung bei den Aufbauarbeiten im Millenium übernehmen. Dieses wird folgende Kennzeichen aufweisen: Es werden paradiesische Zustände herrschen, d.h. Tod und Krankheit sowie Kriege werden nicht mehr vorhanden sein. Unter den Tieren wird Frieden herrschen.^ Während des Milleniums werden ca. 14 Milliarden Verstorbene auferweckt werden. Die Zeugen Jehovas meinen, dass auf der dann 149 Millionen Quadratkilometer umfassenden Erde soviele Auferstandene Platz haben würden. Einer Bevölkerungsexplosion wird Jehova dadurch entgegenwirken, dass er den Menschen die Fortpflanzungsfähigkeit wegnimmt, im Millennium sollen pro Tag 55*000 Auferweckungen stattfinden. Jene, die noch nicht die Lehre der Zeugen Jehovas kennengelernt haben - und das sind Milliarden von Menschen - brauchen Lehrer. Durch Bekehrungen werden auch die Lehrkräfte im Jahr um drei Prozent zunehmen, so dass schliesslich alle nach Ablauf der tausend Jahre die Lehre der Theokratischen Organisation kennen durften dank einer genügenden Anzahl von Lehrkräften.® Wer sich am Ende des Milleniums nicht von Satan verführen iässt, darf dann ewig auf der paradiesischen Erde leben.
Was die Eschatologie betrifft, denken die Zeugen mehr an die Wiederherstellung des ursprünglichen Paradieses, sie denken also mehr regressiv (9)

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(6) Vgl. auch Wachtturm vom 1. Februar 1985, S. 4.
(7) Vgl. Jes 11, 6-9.
(8) Vgl. Wachtturm vom 1. Dezember 1967.
8)) regressiv = hier: rückbildend, wiederherstellend.


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Die biblische Sicht ist vor allem die einer Neuschöpfung, die den alten paradiesischen Zustand bei weitem übertreffen wird. Wir haben es also bei den biblischen Perspektiven mit einer progressiven Sicht zu tun. Werner Thiede stellt in seinem Aufsatz «Jehovas Zeugen - Sekte zwischen Fundamentalismus und Enthusiasmus» folgendes fest: «Die apokalyptische Hoffnung des Neuen Testamentes auf einen neuen Himmel und eine neue Erde wird als bloss 'symbolisch' gemeinte ausgegeben: Nach dem Mythos der Zeugen bleibt es bei der alten Erde, die lediglich mit einer neuen, theokratischen Herrschaftsform überzogen und sich entsprechend verändern wer de. Das universal gestimmte 'Siehe, Ich mache alles neu der Johannesapokalypse wird zurückgeschraubt auf ein mythologisch gefärbtes Renovierungsprogramm. »^ ° Typisch für die Zeugen bezüglich der Eschatologie sind die naiv-realistischen Bilder, die im menschlich-Allzumenschlichen verhaftet bleiben. Für die ernsten Bibelforscher ist auch der Zeitbegriff im materialistischen Sinne kalkulierbar und unterscheidet sich nicht von der Ewigkeit.

2. Die Gotteslehre
a) Die Lehre von Gott als Jehova
In engstem Zusammenhang mit der endzeitlichen Schlacht von Harmagedon erhielten wir bereits etwas Einblick ins Gottesbild. Der Jehova Gott zeigt sich als blutrünstiger Herrscher und Feldherr. Er erweist sich als eine Gottheit, die sich vor den Engeln und Menschen, ja vor dem ganzen Universum, rechtfertigen muss. Jehova sind gewisse sadistische Züge eigen; denn er findet Genugtuung, indem er im Gerichtsakt von Harmagedon sei ne Rachegelüste befriedigen kann. Jehova ist vor allem ein strenge Kontrol le ausübender Aufseher.

b) Christologie
Auch Jesus sehen die Zeugen Jehovas einseitig als zornigen Richter. Er ist keinesfalls der Heiland der Sünder, der mit werbender Liebe das «Kommt zu mir alle, die Ihr mühselig und beladen seid» spricht, sondern er ist der Vergelter im Auftrag Jehovas. Nach der Auffassung der Zeugen Jehovas ist Jesus Gott nicht wesensgleich. Er ist Geschöpf, dem sie allerdings Präexistenz zubilligen.
Im präexistenten Zustand soll Jesus der Erzengel Michael gewesen sein.
Während seines Erdenlebens entwickelte sich Jesus zum vollkommenen Menschen.
Als sündlos gewordene Person war er imstande,
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(10) Werner Thiede, Jehovas Zeugen - Sekte zwischen Fundamentalismus und Enthusiasmus
, in: Materialdienst der Evangelischen Zentrale für Weltanschauungsfragen, Stuttgart, 1. Oktober 1993, 8. 281.
(11) Vgl. Wachtturm vom 15. Februar 1989.


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am Kreuz Sühne zu wirken für jene Menschen, die sich zur Theokratischen Organisation berufen lassen.


c) Pneumatologie
Der Heilige Geist ist keine Person, sondern lediglich Gottes wirksame Kraft.

d) Auseinandersetzung mit der Trinitätslehre
a') Unhaltbarkeit von der Bibel her
Vor allem verdient nun aber die Ablehnung der Trinität unsere Aufmerksamkeit. Nach der Auffassung der Zeugen Jehovas ist diese Lehre nicht klar und eindeutig in der Bibel formuliert. Wichtig ist ihnen, dass in der ganzen Heiligen Schrift nirgends ein Begriff auftaucht, der mit Trinität übersetzt wer den könnte. In der Sonderausgabe des Wachtturms von 1989 sind Zitate modernistischer Theologen mit einer negativ kritischen Haltung gegenüber der Trinität plötzlich gut genug, um die Auffassung der Zeugen Jehovas zu stützen. So zitieren sie namhafte katholische Theologen als Schützenhilfe wie Karl Rahner, Hans Küng, Herbert Vorgrimmler, aber auch evangelische Theologen. Was ich als erstaunlich erachte, ist das Bemühen, kurz auf das Zeugnis der Kirchenväter einzugehen. Das dürfte ein Novum unter den nicht besonders theologiegeschichtlich interessierten Zeugen Jehovas sein. Sie bringen Zitate der vornicänischen Väter, z. B. von Justin dem Märtyrer, Clemens von Alexandrien, Tertullian, Hippolyt und Origenes. Alle diese Zitate sollen die Auffassung der Zeugen Jehovas bekräftigen. Es ist aber typisch, dass man diese Zitate kaum nachkontrollieren kann.^^ Die Literaturangaben fehlen. Selbst mit dem Stichwortverzeichnis der deutschen Gesamtausgabe der Kirchenväter konnte ich diese Zitate nirgends lokalisieren. So behaupten die Zeugen Jehovas, Jesus vertrete einen strengen Monotheismus und weisen auf die in Mk 12, 29 zitierte Stelle aus Dtn 6, wo es heisst: «Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist allein Herr.» In diesem Zusammenhang ist für sie auch Jes 42, 8 wichtig: «Ich bin der Herr, das ist mein Name, und ich will meine Ehre keinem andern geben ...» Die Zeugen machen geltend, Jesus oder der Heilige Geist würden nirgends als allmächtig bezeichnet. Diese Qualifikation sei nur dem Jehovagott gegeben.

Wenn es in Gen 1, 16 von Gott heisst: «Lasset uns Menschen machen nach unserm Bild», so behaupten sie, es handle sich hier lediglich um einen Pluralismajestatis (13) oder einen Intensitätsplural.


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(12) Vgl. Wachtturm Sonderausgabe von 1989 mit dem Titel «Sollte man an die Dreieinigkeit glauben?»
(13) Pluralismajestatis = Majestätsplural.

Zeugen Jehovas 51 Grossen Wert legen die Zeugen Jehovas auf die Präexistenz Jesu. Auch im präexistenten Zustand war er keinesfalls ein Teil einer dreieinigen Gottheit. Sie führen Kol 1, 15 an, wo Jesus als «Erstgeborener der Schöpfung» bezeichnet wird. Die Zeugen Jehovas beziehen Spr 8, 22-28 auf Jesus. Diese Verse sprechen von der Erschaffung der Weisheit, mit der Jesus identifiziert wird. Er ist der Werkmeister, durch den der Jehovagott die materielle Schöpfung ins Leben gerufen hat. Ein weiterer Beweis gegen die Gottheit Christi und somit gegen die Trinität ist der Tatbestand seiner Versuchung. Nach Jak 1, 13 kann Gott gar nicht versucht werden. Also ist Jesus nicht Gott.

Hebr 2,9 redet davon, Jesus sei unter die Engel erniedrigt worden. Die Zeugen Jehovas sehen das als klares Indiz an, dass Jesus nicht göttlicher Na tur ist. Ein Gott würde sich niemals Engeln unterstellen. Auch Joh 1, 18 dient den Zeugen als Beweis dafür, dass Jesus Gott nicht wesensgleich sein kann. In 1. Kor 8, 6 unterscheide Paulus unmissverständlich Jesus vom Vater, wobei der Vater allein als Gott qualifiziert werde. Wesentlich ist den Zeugen weiterhin Mk 10, 18, wo Jesus einem reichen Mann antwortet: «Was nennst du mich gut? Niemand ist gut ausser Gott allein.» Weil sich Jesus nach Joh 5,19; 6,38 und 7,16 seinem Himmlischen Vater unterordne, könne er keinesfalls mit ihm wesensgleich sein. Apg 4, 27 spreche von Jesus als einem Knecht, was wiederum auf Unterordnung hin weise.

Bei der Taufe Jesu bestätige der Himmlische Vater seinen Sohn, indem er sagt: «Dies Ist mein geliebter Sohn, an dem Ich Wohlgefallen habe.» Die Zeugen meinen nun, eine Wesensgleichheit Jesu mit dem Vater ergäbe den Widersinn, dass der Himmlische Vater sich selber ein Kompliment machen würde. Gott sagte aber dabei auch aus, dass er sein eigener Sohn sei, was wiederum ein Widersinn sei. Wäre Jesus Gott, so würde er beim Gebet zu sich selber beten. Auch der Verzweiflungsschrei Jesu am Kreuz «Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?» würde bedeuten, dass Jesus zu sich selber geschrieen und sich selber verlassen habe, falls er Gott wäre.

Wenn Thomas Jesus als «Mein Herr und mein Gott» angesprochen hat, so ist diese Aussage für die Zeugen nicht stichhaltig. Sie argumentieren da mit, dass in der Bibel Menschen und Engel als Götter bezeichnet werden. Nach der Auffassung der Theokratischen Organisation ist es sogar eine Beleidigung Gottes, wenn von einem andern gesagt wird, er sei ihm gleich. In Hebräer 5, 8 heisst es, Christus habe Gehorsam lernen müssen. Die Zeugen meinen, für eine Gottheit sei es niemals nötig, in einem Lernprozess drinnen zu stehen. Auch machen sie geltend, Stephanus habe bei der


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( 14) Vgl. Jes 46, 9.

52 Zeugen Jehovas

Steinigung zwei voneinander getrennte Personen gesehen, nämlich Jesus und den Himmlischen Vater, aber nicht den Heiligen Geist. Er sah also keine Trinität.


Der Heilige Geist sei niemals eine Person, sondern lediglich Gottes wirksame Kraft. Wichtig ist für die Zeugen, dass der Heilige Geist als Symbol nie eine menschliche Gestalt angenommen hat, sondern die Gestalt einer Taube oder die Form des Feuers oder des Windes.

b') Politische Machenschaften Politische Machenschaften sind schuld an der Trinitätslehre. Die Zeugen kommen zum Schluss, Kaiser Konstantin der Grosse habe in der Phase des Konzils von Nicäa der teilweisen Uneinigkeit unter den Bischöfen in bezug auf die Gottheit Christi sein Machtwort entgegengesetzt, um die Einheit des Reiches nicht durch religiöse Spaltungen zu gefährden. So habe er befohlen, die Untertanen seines Reiches müssten die Gottheit Christi als verbindliches Dogma anerkennen. Damit sei denn auch die Grundlage geschaffen worden, um auf dem Konzil von Konstantinopel im Jahre 381 die Trinitätslehre erstmals klar zu formulieren. Die Quintessenz für die Zeu gen Jehovas ist, dass die wichtigsten theologischen Verlautbarungen nicht aufgrund der Bibel entschieden worden sind, sondern aufgrund politischer und klerikaler Erwägungen. Die Formulierung der Trinitätslehre gehört also nach den Zeugen Jehovas zur Apostasie^® der Kirche. In diesem Zusammenhang stellen sie folgende Bibelstellen auf den Leuchter: 2. Thess 2,3+7; Apg 20,29-30; 2. Petr 2, 1; 1. Joh 4, 1-3; Judas 3, 4 sowie 2. Tim 4,3+4.

c') Adaption an heidnische Vorbilder
Der Hauptgrund zu dieser Apostasie der Trinitätslehre liegt nach den Zeugen Jehovas in der Adaption an heidnische Vorbilder. Die Zeugen meinen, Triaden der Gottheit in der babylonischen und ägyptischen Kultur seien Vorbilder zur Entwicklung der Trinitätstheologie gewesen, aber auch die griechische Philosophie, vor allem jene Piatos.

d') Die Trinitätslehre verhindert die wahre Anbetung Gottes Die Zeugen Jehovas bezeichnen die Trinitätslehre sogar als teuflisch. Weil sie diese angebliche Irrlehre nicht vertreten, können sie im Wachtturm mit dem Artikel über die Trinität unter dem Titel «Sollte man an die Dreieinigkeit glauben» folgendes schreiben: «Wenn wir Gott als den Höchsten ehren und Ihn so anbeten, wie Er es will, können wir dem Gericht entgehen, das Gott bald an der abtrünnigen Christenheit vollziehen wird. Wir können statt des-

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(15)Apostasie = Abfall.

Zeugen Jehovas 53

sen mit Gottes Gunst rechnen, wenn das gegenwärtige System zu seinem Ende kommt...»



3. Die Anthropologie

Die Anthropologie weist weitgehende Übereinstimmungen mit derjenigen der Adventisten auf. Der Mensch zerfällt als Ganzer. Die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele lehnen die Zeugen Jehovas radikal ab. Sie kennen weder eine Dichotomie"' (16) noch eine Trichotomie (17) , sondern vielmehr einen anthropologischen Monismus, d.h. Leib, Seele und Geist werden nicht unterschieden, sondern bilden eine nahtlose Einheit, die als Ganze sterblich ist. Der Mensch ist so etwas wie ein höher organisiertes Tier. Mit Vorliebe zitieren die Zeugen Jehovas dann auch Prediger 3, 18-20.

Zur Anthropologie gehört auch die den Zeugen Jehovas eigentümliche Blutlehre. Sie stützen sich vor allem auf Dtn 12, 23-25 und Apg 15, 29. Blut dürfen die Zeugen weder in Speise noch durch eine Transfusion zu sich nehmen. Im Blut steckt das Wesen oder der Charakter des Menschen gleichsam wie eine materielle Substanz. Deshalb sind Bluttransfusionen strengstens verboten. Lieber stirbt ein Zeuge Jehovas bei einem Verkehrsunfall, als dass er sich Blut von einem anderen Menschen geben Hesse. Zeugen Jehovas tragen häufig auf der Brust eine Etikette mit der Aufschrift: «Bluttransfusion nicht erwünscht». Eine Bluttransfusion führt zu einer unzulässigen Wesensvermischung. In einer Sonderausgabe des Wachtturms vom Jahr 1990 mit dem Titel «Wie kann Blut dein Leben retten?» werden auf 31 Seiten vor allem medizinische Gründe aufgeführt, die gegen eine Bluttransfusion sprechen. An erster Stelle stehen Argumente, die von der Gefahr einer Übertragung von diversen Krankheiten sprechen. Für die Zeugen Jehovas gibt es also kein Jenseits. Auch eine Hölle existiert nicht. Unmittelbar nach der Schlacht von Harmagedon werden verstorbene Menschen durch einen Wiederherstellungsakt des Jehovagottes in die irdische Existenz zurückversetzt. Allerdings betrifft das nur zwei Kategorien von Menschen. Erstens: All jene Menschen, die während ihres Erdenlebens überzeugte Zeugen Jehovas geworden sind. Zweitens: All jene Menschen, die noch keine Gelegenheit erhalten haben, sich mit dem Heilsangebot der Theokratischen Organisation auseinanderzusetzen. All jene Ungläubigen, die die Belehrung der Zeugen Jehovas während des Milleniums nicht annehmen, werden annihiliert''® werden. Ihnen widerfährt das gleiche Schicksal wie jenen, die bei der Schlacht von Harmagedon um kommen sollen. Es gibt nun aber eine spezielle Gruppe unter den Zeugen

(16) Dichotomie = Zweiteilung des menschlichen Wesens in Leib und Seele. (17) Trichotomie = Dreiteilung des Menschen in Leib, Seele und Geist, (18)
(18) annihiliert = vernichtet.

54 Zeugen Jehovas

Jehovas, die im Tod keiner provisorischen Annihilation zum Opfer fallen wie die übrigen Zeugen Jehovas. Es handelt sich um die 144'000, die beim Sterben direkt in den Himmel eingehen. Zum Menschenbild gehört wesentlich, dass eigenes Prüfen und Denken sowie freie Entscheidung klein geschrieben sind. Die Theokratische Organisation versteht den Menschen als ein Wesen, das sie durch Diktatur bevormunden und durch Kadavergehorsam formen muss. Der Mensch zählt als Individuum wenig. Die Theokratische Organisation schätzt vor allem die gehorsame und gefügige Masse. Bei den Zeugen wird der Gehorsam durch Drohungen und Strafmassnahmen erzwungen. Jerry R. Bergman spricht von einer ausgesprochenen Bestrafungsmentalität. Niemand darf Ausgeschlossene, die der Versammlung beiwohnen, grüssen. Jerry Bergman, der die Zeugen Jehovas in psychologischer Hinsicht analysiert hat, meint, Gemeinschaftsentzug diene vor allem als Druckmittel, um die Zeugen Jehovas zu konformem Verhalten zu zwingen.(19)
In diesem Punkt unterscheiden sich nun die Adventisten wesentlich von den Zeugen Jehovas. Die Ideologie der Zeugen Jehovas versteht den Menschen kaum als Ebenbild Gottes, der mit seinem Schöpfer persönlichen Kontakt pflegen und sei ne geschenkten Gaben kreativ entfalten soll. In engstem Zusammenhang mit dieser Sicht des Menschen hängt auch die für die Zeugen Jehovas so typische Kulturlosigkeit zusammen. Zur gleichen Schlussfolgerung kommt Werner Thiede, wenn er schreibt: »Dadurch, dass die Leitende Körperschaft dem Durchschnittszeugen eine so grosse Zahl von Entscheidungen abnimmt, wird er auf Dauer in einem kindlichen Zustand gehalten... Ein derartig hilfloser, infantiler Zustand verhindert oder beschränkt die Entfaltung der meisten höher stehenden menschlichen Eigenschaften und Fähigkeiten, wie zum Beispiel die Kreativität, und blockiert den höchst individuellen Wachstumsprozess und das innere Ringen, das uns erst menschlich macht. (20)

Ein eigenständiges Denken ist unter den Zeugen Jehovas wenig zu finden. Wenn wir nun zur Lehre der Erlösung übergehen, so stellen wir fest, wie sehr diese mit dem dargestellten Menschenbild korrespondiert. (Fortsetzung folgt)

(19) Jerry R. Bergman, Zur seelischen Gesundheit von Zeugen Jehovas, Ahrensburg 1991 S. 36.

(20) Vgl. Werner Thiede, a.a.O., S. 287.



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Zeugen Jehovas 86

Fundamentum 1995/1

Kleine Sektenkunde

Zeugen Jehovas
Ideologie der Entmündigung


2. Teil
Dr. theol. S. Leuenberger
(Biographische Angaben finden sich
am Ende des Artikels)

4. Die Soteriologle (1)

Die Anthropologie der Zeugen Jehovas hat ihre klaren Konsequenzen. Weil der Mensch dem Tier gegenüber keinen Vorzug hat, deshalb gibt es auch keine geistigen Werte zu pflegen. Das zeigt sich in der Soteriologie. Erlösung beinhaltet lediglich ein Weiterexistieren auf Erden unter vollkommenen materiellen Bedingungen. Geistige Momente kommen kaum zum Tra gen. Weil die Zeugen Jehovas die biblische Lehre von der Wiedergeburt ablehnen, geht es bei der Erlösung nicht um den erneuerten Menschen mit der Frucht des Heiligen Geistes. Es geht um reinen Eudämonismus^, um Wohlfahrtserlebnisse. Bei den Vorstellungen vom Leben auf der Neuen Welt fehlt die himmlische Liturgie als Dank, Anbetung und Lobpreis. Bei der Erlösung handelt es sich um eine Existenz, das Leben eines «homo consumens» (3) ohne zeitliche Begrenzung führen zu können. Erlösung be deutet, sich für immer irdischer Wohlfahrt ohne Todesbedrohung freuen zu dürfen, wobei die Befriedigung biologischer Bedürfnisse im Vordergrund steht.

5. Ethik
a) Dekalogethik

Ein Zeuge Jehovas möchte den Dekalog' ( 4) ernst nehmen. ( 5) Libertinistische Tendenzen gibt es nicht. In der treuen Gesetzeserfüllung sind die Zeugen oft vorbildlich. Sie setzen viel dran, ihren Glauben in die Tat umzusetzen.


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(1) Soteriologie = die Lehre von der Erlösung, vom Heil.
(2) Eudämonismus = Ethik, die behauptet, dass das Gute im Glück bestehe.
(3) Homo consumens = konsumierender Mensch.

(4) Dekalog = 10 Gebote.
(5) Vgl. Wachtturm vom 15. November 1989.

Zeugen Jehovas 87 Allerdings steckt dahinter häufig die Angst, in der Schlacht von Harmagedon nicht bestehen zu können.

Die Zeugen haben sich vor allem im Dritten Reich unter schauderhaften Umständen bewährt. In den Konzentrationslagern fielen sie auf durch ihre Sauberkeit, aber auch durch ihre Hilfsbereitschaft selbst anders Gesinnten gegenüber. Trotz Folterungen und Prügelstrafen Hessen sie sich nicht zu Lästerungen oder dergleichen hinreissen. Die Kommunistin Margareta Buber-Neumann war Gefangene im Block 3 im Konzentrationslager zu Ravensbrück, wo sie vorwiegend mit Zeuginnen Jehovas zusammen war. In ihrem Buch «Als Gefangene bei Stalin und Hitler» berichtet sie darüber, wie vorbildlich sich die Zeugen Jehovas aufgeführt haben. Man konnte mit ihrer Ehrlichkeit und Zuverlässigkeit rechnen. Sie teilten immer wieder Essensrationen mit solchen, die mehr Nahrung benötigten. Einschüchterungsversuche nützten nichts. Die Zeugen gingen lieber in den Tod als ihrer Lehre abzuschwören. Sogar ein grosser Naziführer wie Himmler fand würdigende Worte für die Zeugen. Ihre unglaubliche Opferbereitschaft hinterliess sogar bei den Folterknechten einen nachhaltigen Eindruck. Viele Zeugen Jehovas starben als Märtyrer. Sie waren bereit, für die Theokratische Organisation alles herzugeben, Hab und Gut, Gesundheit, ja selbst das Leben. Für die Theokratische Organisation ist es wichtig, dass ihre Mitglieder auf dem Arbeitsplatz durch ihr Verhalten ein besonders gutes Beispiel geben.

b) Staatsethik
Die Pflichten gegenüber Staat und Nation erfüllen die Zeugen nur mit Widerwillen; denn die Theokratische Organisation lehrt grundsätzlich, der Staat sei ein Werkzeug des Teufels. Allerdings herrscht heute in dieser Hinsicht etwas mehr Zurückhaltung. Der Staat gehört zum sog. «gegenwärtigen System», das man nicht durch eine Armee stützen darf. Deshalb verweigern die Zeugen den Wehrdienst. Immerhin verstehen sie seit 1962 die in Römer 13 erwähnte Obrigkeit als die von Jehova eingesetzte Macht zur Aufrechterhaltung von Ordnung. Die finanzielle Schuld gegenüber den Behörden zahlen sie im allgemeinen gewissenhaft.

c) Der Geist der Engführung des Gesetzes («Gesetzlichkeit»)
Bei der sog. «Gesetzlichkeit» geht es darum, den vom Schöpfer den Menschen durch Verordnungen als Hilfe vorgezeichneten Weg schmäler zu machen, als er von Gott her ursprünglich ist. So wird das Gesetz zur Schikane und kann keine wirkliche Lebenshilfe mehr sein. Bei dieser Engführung der Ordnungen Gottes geht es oft um Extravaganzen, bei deren Erfüllung der Zeuge das Gefühl erhält, sich besondere Verdienste zu erwerben. Bei dieser Art von Gesetzeserfüllung verliert man den Blick für das Wesentliche.



88 Zeugen Jehovas

So darf z.B. ein Zeuge an keinem Fest mit fröhlichem Rahmen teilnehmen, sei es an einem Jubiläum einer Firma oder an Hochzeiten von Verwandten, die nicht zur Theokratischen Organisation gehören. Alles, was den Charakter des Vergnügens hat, wie der Besuch eines Konzertes, einer Sportveranstaltung, eines Theaters usw., gilt als Vergeudung von Zeit, die man für den Zeugendienst einsetzen sollte. Ein Zeuge darf keinem Verein angehören, also keinem weltlichen Männer- oder Frauenchor, keinem Schachclub oder Schützenverein. Eine Ferienreise, ja überhaupt das Verbringen von Ferien, ist für die Zeugen Jehovas Luxus, auf den sie verzichten müssen. Dieser unnatürliche Opferzwang dürfte einer der Ursachen sein, weshalb Zeugen wenig Freude ausstrahlen. Zu diesem Geist der Engführung gehört vor allem auch das Verbot von Bluttransfusionen. Verpönt ist das Essen von Blutwürsten oder jeglicher Nahrungsmittel, wo Blutextrakt beigemischt worden ist.

6. Ekklesiologie
a) Äussere Strukturen


Beim frühen Russel zur Zeit vor dem Ersten Weltkrieg ist das Sektiererische noch nicht eindeutig zum Vorschein gekommen. Rüssel betrachtete anfänglich alle wahrhaft Gläubigen als zur Kirche Christi gehörig unabhängig von ihrer Konfession. Diese ökumenische Haltung findet man noch in einem Wachtturm aus dem Jahre 1910. Rutherford war es, der die Wachtturmgesellschaft mit ihren Anhängern zur endzeitlichen Heilsgemeinde erklärte. Schon die späteren Ersatznamen sind für die Ekklesiologie der Zeugen Jehovas bezeichnend. In den Dreissigerjahren ist der Begriff «Theokratische Organisation» entstanden. 1953 kam eine weitere Bezeichnung hinzu, nämlich «Neue-Welt-Gesellschaft».
Bei der Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas handelt es sich in erster Linie um eine kalte und geschäftstüchtige Organisation. Diese masst sich an - so weit es die «Leitende Körperschaft», also das höchste Gremium betrifft - Stellvertreter Gottes auf Erden zu sein. Die Organisation der Zeugen Jehovas können wir am besten mit einem riesigen Konzern vergleichen, der sich durch das Vertreiben von Traktaten zu einer Finanzmacht hohen Ranges aufgeschwungen hat. Doch dieser Konzerncharakter wird gut getarnt. Die «Theokratische Organisation» interpretieren die Zeugen als Jehovas eigene Schöpfung, die ihren Ursprung im Himmel hat. Was man organisatorisch auf Erden sieht, ist die Verlängerung der unsichtbaren Organisation der 144'000, die sich teilweise bereits im Himmel befinden. Die «Theokratische Organisation» ist gleichsam die Braut Jehovas. Bei der «Theokratischen Organisation» setzt sich das oligarchische (6) Prinzip durch

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(6) Oligarchie = Herrschaft Weniger.
Zeugen Jehovas 89
und zwar in der «Leitenden Körperschaft», die vor 1971 noch unter dem Namen «Direktorium» bekannt gewesen ist. Die «Theokratische Organisation» mit ihrer oligarchischen Führungsspitze ist irrtumslos und steht unter der vollkommenen Herrschaft Gottes, ja sie ist der direkte Verbindungskanal zu Jehova. Diese Organisation versteht sich als Jehovas Sturmbock gegen Satan. Sie ist die einzige Trägerin von Jehovas Verheissungen. Nur bei Ihr gibt es Rettung aus dem scheusslichen Gericht von Harmagedon. Gott handelt nicht mit Einzelpersonen. Er ist nur an der «Theokratischen Organisation» als Kollektiv interessiert. Nur wer dieser Organisation angehört, wird von Gott ernst genommen. ( 7) Die «Neue-Welt-Gesellschaft» versteht sich als Mittelpunkt der Geschichte. Alle grossen geschichtlichen Umwälzungen oder wirtschaftlichen Krisen infolge von kriegerischen Auseinandersetzungen gelten letztlich den Zeugen Jehovas, weil diese derart wichtig sind, dass alle Mächte dieser Welt sich gegen sie aufmachen. Zu diesen Mächten gehören die etablierten Kirchen, aber auch die Finanz- und Wirtschaftsmächte.

Kritik gegenüber der «Theokratischen Organisation» gilt als Abfall. Den von der Leitung ausgehenden lehrmässigen Verlautbarungen schuldet der Zeuge absoluten Gehorsam. Die «Theokratische Organisation» versteht sich als Sklave Jehovas.

Zur ekklesiologischen Eigenart der «Theokratischen Organisation» gehört es, dass sie sich gut mit einer Fabrik vergleichen lässt. Alle funktionieren den Räder sind in dieser Fabrik gleichsam durch Transmissionsriemen mit der Leitungsitze verbunden, wobei Christus als Produktionsleiter verstanden wird.® Christus leitet diese Organisation so, dass das Maximum an Produkten herausgewirtschaftet wird. Die einzelnen Zeugen sind die Arbeiter dieser Fabrik. Es geht vor allem um Riesenproduktion und Umsatz. Die von der Wachtturmgesellschaft herausgegebene Broschüre «Die Wahrheit, die zum ewigen Leben führt», hat eine Auflage von 63 Millionen erreicht. 1980 gelang es der Wachtturmgesellschaft, ihre Schriften in 106 Sprachen herauszugeben. Die «Theokratische Organisation» ist eine riesige Propagandamaschine. Damit man ein Maximum an Traktaten an den Mann bringen kann, braucht es Prediger und Kolporteure, die mehr oder weniger ehrenamtlich für den Konzern werben.


b) Innere Strukturen

Was sich in den Königreichssälen abspielt, dürfen wir nicht als Gottesdienst im eigentlichen Sinn bezeichnen. Lob und Preis sowie Verkündigung der

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7 Vgl. Wachtturm vom 1. April 1948.
8 ® Diesen Vergleich findet man im Wachtturm vom 1. März 1957.

90 Zeugen Jehovas Frohbotschaft kommen kaum zum Zug. Die Predigten sind einseitig Lehrvorträge mit einer Drohbotschaft. Es gibt keine Proklamation der freien Gnade und Liebe Gottes in Jesus. Selbst in den Liedern und Gebeten herrscht das Lehrmässige derart vor, dass Lob und Dank stark in den Hintergrund treten. Das 1966 neu eingeführte Liederbuch trägt zu Unrecht den Titel «Singt und spielt dabei Jehova in euren Herzen». Es handelt sich in diesem Buch um 119 Lieder, in denen das Lehrgut der «Theokratischen Organisation» in simplen Reimen zum Ausdruck kommt. Eine Strophe aus Lied 65 möge als Beispiel genügen:

«Sei loyal zu deinem Bruder, hilf dem Neuen Immer gern. Mit dem Schwachen zu studieren hilf Ihm, Felddienst zu vermehren. So wie Im Familienkreise, zeigen wir Loyalität; nie misstrauen wir einander, jeder treu zum Bruder steht.»

Alle guten traditionellen Melodien aus kirchlichen oder freikirchlichen Kreisen werden als von babylonischer Herkunft abqualifiziert. Es handelt sich bei den Liedern der Zeugen hinsichtlich der Melodien um eine Neuschöpfung. Das immer wiederkehrende Hauptthema ist der Ansporn zum Verkündigungsdienst. Treffend charakterisiert Kurt Hutten die Versammlungen der Zeugen Jehovas, wenn er sagt: «Die Versammlungen haben denn auch viel mit kommunistischen Agitatlons- und Propaganda-Trupps gemeinsam: Es sind Werbe- und Propagandagruppen, die zusammen kommen, um sich zu schulen und anfeuern zu lassen, Dienstanweisungen In Empfang zu nehmen und Ihre Werbemethode zu verbessern.» (9)
Fassen wir diese Ekklesiologie in wenigen Sätzen zusammen: Es handelt sich bei der «Theokratischen Organisation» nicht um einen Organismus, sondern um eine starre, kasernenartige Ordnung zur Beherrschung dienstbarer Sklaven. Es geht im Wesentlichen darum, genügend Sklaven heran zuziehen, um die literarischen Erzeugnisse der Wachtturm-Gesellschaft in rentabler Welse zu vertreiben. Die Maschine des Traktatverteilungskonzerns darf ja nicht zum Stillstand kommen. Weil die Menschen bloss Räder im Getriebe sind, darf man sie jederzeit auswechseln. In diesen Rädern ist ja keine Seele mit postmortaler Existenz. Von dort her versteht es sich auch, weshalb Menschen verheizt werden dürfen. Liebeswerke im Sinn sozialer Hilfeleistungen finden in dieser ekklesiologischen Konzeption konsequenterweise keinen Platz. Fröhliche und herzliche Gemeinschaft können sich in diesem System nicht entfalten, da die ganze Mentalität auf Leistung und Akkord erpicht ist. Die dienstbaren Sklaven Jehovas werden von ihren ^


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(9) Kurt Hutten, Seher, Grübler, Enthusiasten, Stuttgart: Quell-Verlag der Ev. Ges., 1982, 8. 113-114.


Zeugen Jehovas 91

Vorgesetzten sogar ermuntert, Konflikte und Verfolgungen zu provozieren, weil es werbewirksam sei.



7. Schriftverständnis
a) Ein widerbiblisches und unreformatorisches hermeneutisches Prinzip



Auffallend ist, dass das reformatorische «sola scriptura (10) vergeblich zu suchen ist. «Fundamentalist» zu sein bedeutet noch lange nicht, das reformatorische «sola scriptura» ernst zu nehmen. Die Zeugen verstehen sich als strenge «Fundamentalisten». Jedes Wort ist vom Geist Jehovas eingegeben. Doch sieht die «Neue-Welt-Gesellschaft» die Bibel flächenhaft. Jede Aussage ist gleichwertig. Es gibt keine verschiedenen Akzente, was folgende ernste Konsequenz mit sich bringt: Das «scriptura sui ipsius interpres» ( 11) findet keinen Platz in ihrem Schriftverständnis. Das meines Erachtens sehr wesentliche hermeneutische Prinzip «Was Christum treibet» ( 12) ist unauffindbar. Das Zentrum der Bibel, auf das die ganze Interpretation der Zeugen hinausläuft, ist der auf das Millenium ( 13) zugehende Geschichtsplan Jehovas mit der Schlacht von Harmagedon. Die Bibel verstehen die Zeugen Jehovas als Baukasten mit jeweils kongruenten Bauelementen, die alle ineinander passen wie bei einem Lego-Baukasten. Kreuz und quer darf der Zeuge diese Bauelemente der Bibel aus dem Zusammenhang herausnehmen und willkürliche Verbindungen konstruieren, um die Ideologie der «Theokratischen Organisation» zu rechtfertigen. Was nun aber vor allem dem «sola scriptura» widerspricht, ist die Auffassung der nicht abgeschlossenen Offenbarung. Die «Leitende Körperschaft», die Spitze der «Theokratischen Organisation», hat die Kompetenz, neue Offenbarungen von Jehova zu empfangen und weiterzugeben. Für die Zeugen Jehovas besteht Bekehrung darin, sich davon überzeugen zu lassen, dass die Wachtturm-Organisation der Kanal Gottes ist und man ihr deswegen folgen muss. (14) Die richtige Interpretation der Bibel wird immer wieder durch die verlässliche Erkenntnis vermittelnden Traktate und Bücher der «Theokratischen Organisation» gegeben, so dass eine identitätsstiftende Gesamtorientierung zustande kommt.


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10 Sola scriptura = Allein die Schrift.
11 Scriptura sui ipsius interpres = Die Schrift ist ihr eigener Ausleger,
12 Martin Luther hat sehr viel Gewicht auf dieses «Was Christum treibet» gelegt. Für ihn war dies das wichtigste Auslegungsprinzip für das richtige Verständnis der Bibel.
13 Millenium = Das Tausendjahrreich.
14 Vgl. J. R. Bergmann, Zur seelischen Gesundheit von Zeugen Jehovas, Ahrensburg, 1991, S. 55

92 Zeugen Jehovas b) An den Haaren herbeigezogene Interpretationen

Wichtige Begriffe im Schriftverständnis der Zeugen Jehovas sind Vorausschattung und Gegenbild An und für sich sind diese Begriffe durchaus brauchbar. Doch müssen wir uns an den Kopf greifen, wenn wir sehen, was die Zeugen aus diesen Begriffen machen. Hiob 40,15-41,25 soll eine Vorausschattung heutiger technischer Errungenschaften sein. Die Kapitel 40 u. 41 im Buch Hiob schildern ein Ungeheuer, das mit Behemot oder Leviathan bezeichnet wird. In diesem Ungeheuer sehen sie eine Vorausschattung für die Dampfmaschine und Dampflokomotive. 1940 gab das Direktorium eine andere Interpretation als verbindlich heraus: Der Leviathan sei eine Versinnbildlichung für die Organisationen Satans. Nahe verwandt mit den Vorausschattungen sind die sog. «Parallelisierungen». Der Unterschied besteht in folgendem: Eine Vorausschattung meint nur ein bestimmtes Ereignis der Zukunft. Eine Parallelisierung lässt sich für verschiedene Ereignisse in der Zukunft einspannen. Bekannt ist die parallelisierende Deutung von Simson und den 300 Füchsen, deren Schwänze er in Brand gesteckt hat. Die Füchse sind die Millionen von Traktaten der «Theokratischen Organisation», die den geistlichen Nahrungsvorrat aller falschen Kirchen in Brand gesteckt haben. Der er grimmte Simson, der mit einem Eselskinnbacken 1000 Philister erschlagen hat, ist das Mundwerk der Zeugen Jehovas. Diese haben damit unzählige Anhänger der falschen Religion mundtot gemacht. Die Zeugen bemühen sich überhaupt nicht um den Literalsinn der Bibel. Der geschichtliche und kulturelle Zusammenhang wird sehr einseitig und vor allem nicht auf einem akzeptablem Niveau reflektiert.

c) Begriffsverfremdungen durch die «Neue-Welt-Übersetzung» mit ihrem spiritistischen Hintergrund

1961 kam die «Neue-Welt-Übersetzung» heraus, welche die Bibel als Propagandaschrift für die «Theokratische Organisation» umfunktioniert. Die von den Zeugen Jehovas geschaffene Terminologie prägt diese Übersetzung. Im Neuen Testament wird das für Christus im Grundtext gebrauchte Wort «Kyrios», was Herr bedeutet, mit Jehova übersetzt. Als Beispiele mö gen folgende Stellen dienen: 1. Kor 1,31 wird nicht übersetzt mit «Wer sich rühmt, rühme sich des Herrn», sondern «Wer sich rühmt, rühme sich in Je hova»; Kol 3, 23 wird nicht übersetzt mit «Was immer ihr tut, daran arbeitet von Herzen als für den Herrn», sondern «Was immer ihr tut, daran arbeitet mit ganzer Seele als für Jehova ...» Eine Stelle, die einige Kommentatoren auf Christus beziehen, ist jenes Ich-bin-Wort von Offb 1, 8, wo es heisst: ^®Vgl. Wachtturm vom 15. Mai 1967.



Zeugen Jehovas 93 «Ich bin das A und O, sagt Gott der Herr, der ist und der war und der kommt, der Allmächtige.» Diese Stelle gibt die Neue-Welt-Übersetzung mit «Ich bin das Alpha und das Omega, spricht Jehova Gott...» wieder. Überall, wo die Trinitätslehre anklingt, wird sie aus dem Text herausgenommen. Der universelle Versöhnungswillen Gottes wird im Text derart abgeändert, dass der Heilswille Gottes sich nur auf die Schar der Zeugen Jehovas bezieht. Das griechische Wort «aion», das im Urtext des Neuen Testaments je nach Zusammenhang mit Zeitabschnitt, Zeit oder Ewigkeit über setzt werden kann, gibt die «Theokratische Organisation» mit «System der Dinge» wieder. Die «Neue-Welt-Übersetzung» ändert jene Wörter sinnverfremdend ab, die mit Verkündigung zu tun haben. Statt «verkündigen» heisst es dann «unterweisen», «lehren». Überall, wo im griechischen Grundtext «Ekklesia» (Kirche, Gemeinde) steht, verwenden die Zeugen Jehovas den Begriff «Organisation». In der neuesten Übersetzung wird mit «Versammlung» übersetzt. Das Wort Kreuz wird in «Pfahl» abgeändert. Wo die Rede von der allerbarmenden Liebe Gottes ist, gilt diese nur den Zeugen. Der Verlorene Sohn ist einer, der eingesehen hat, dass er zur «Theokratischen Organisation» zurückkehren muss. Dass es in dieser Organisation der Zeugen Jehovas nicht um die Freiheit der Kinder Gottes geht, sehen wir in der für die ernsten Bibelforscher so typischen Übersetzung von Römer 12, 11, wo folgendermassen übersetzt wird: «Dient als Sklaven für Jehova» statt «Seid für den Herrn zum Dienst bereit.»
Das hermeneutische Prinzip ist nicht die Selbstauslegung der Bibel und schon gar nicht das «was Christum treibet», sondern «was Harmagedon treibet». Die Bibel kann grundsätzlich nur durch die Schriften Russels und Rutherfords richtig verstanden werden. Alarmierend muss es für uns sein, wenn wir zur Kenntnis nehmen müssen, dass die «Neue-Welt-Übersetzung» sich teilweise an die Übertragung des Neuen Testaments durch einen ehemals führenden Spiritisten anlehnt. Es handelt sich um Johannes Greber (1876-1944), der nach seinem Austritt aus der katholischen Kirche nach dem ersten Weltkrieg in New York eine spiritistische Gemeinschaft gründete. Er übersetzte das Neue Testament aus dem Griechischen, wobei ihm abgeschiedene Geister geholfen haben sollen. Diese Übertragung wurde unter dem Titel «Das neue Testament aus dem Griechischen neu übersetzt und erklärt» herausgegeben.

Die «Neue-Welt-Übersetzung» zeigt die Anlehnung an diese Übersetzung des Neuen Testaments von Greber In jenen Passagen, die für die Christologie von Bedeutung sind. Kolosser 1, 15 wird in engster Verbindung mit Grebers Übersetzung so paraphrasiert, dass Jesus nicht mehr der unerschaffene Sohn Gottes ist, sondern «ein Erster unter den Geistgeschöpfen.» Die Spekulation, Jesus sei in seinem präexistenten Zustand der Erz-


94 Zeugen Jehovas

engel Michael gewesen, haben die Zeugen Jehovas von Greber übernommen. Grebers Übertragung von Johannes 1, 1 geriet ebenfalls in die «Neue-Welt-Übersetzung», wo die Stelle folgendermassen wiedergegeben wird: «Und das Wort war ein Gott» statt «das Wort war Gott.» Es ist vordergründig paradox, dass ausgerechnet die Wachtturmgesellschaft, die ein materialistisches Weltbild kennt, sich in jenen für die Christologie wichtigen Passagen den Textmodifikationen eines Spiritisten an gleicht. Und doch ist eine gewisse Verwandtschaft gerade im Hinblick auf den Materialismus zwischen den Zeugen Jehovas und dem Spiritismus festzustellen. Bei beiden ist nämlich das Leben nach dem Tod im grossen und ganzen eine Fortsetzung des irdischen Lebens unter vollkommenen Bedingungen. Der Unterschied zu den Zeugen Jehovas besteht lediglich darin, dass es bei den Spiritisten keine provisorische Unterbrechung durch Annihilation gibt.


Die Botschaften des verstorbenen Mediums Beatrice Brunner von der spiritistischen Kirche «Geistige Loge Zürich» waren immer wieder gekennzeichnet durch Beschreibungen irdischer Wünsche, die man ins Jenseits verlagerte. So vernahm man vom abgeschiedenen Geist Josef, der jeweils durch Beatrice Brunner gesprochen haben soll, wie gewisse Verstorbene nun in ein neues schönes Haus eingezogen seien und sich elegante Kleider beschafft hätten usw. Was bei den Spiritisten ein Jenseits ist, zeigt sich bei den Zeugen Jehovas als ein mit Unterbruch fortgesetztes Diesseits. Die Wahrheit «les extremes se touchent ( 16) bestätigt sich hier.

Im Wachtturm vom 1. Juli 1983 musste die «Theokratische Organisation» Rechenschaft darüber ablegen, weshalb sie den Spiritisten Greber für ihre Bibelübersetzung zuhilfe genommen hatten. Die Antwort lautete, sie hätten Greber nur gelegentlich verwendet, um gewisse Stellen in der «NeuenWelt-Übersetzung» stützen zu können. Es geht aber um das Zentrale, um die Christologie. Liest man im Buch von Johannes Greber «Verkehr mit der Geisterwelt», so entdecken wir weitgehend die Christologie der Wachtturmgesellschaft. Es lohnt sich, Grebers «Neues Testament aus dem Griechischen neu übersetzt und erklärt» aus dem Jahr 1936 zu konsultieren und mit der «Neuen-Welt-Übersetzung» zu vergleichen. Aufschlussreich ist eine Gegenüberstellung der «Neuen-Welt-Übersetzung» von Mt 27, 52-53 mit Grebers Version. Die «Neue-Welt-Übersetzung» lautet folgendermassen: «Und die Gedächtnisgrüfte wurden geöffnet und viele Leiber der entschlafenen Heiligen wurden aufgerichtet und Leute, die nach seiner Auferweckung von den Gedächtnisgrüften herkamen, gingen in die Stadt und sie wurden vielen sichtbar.» Nun die englische Fassung von Johannes Greber: «Tombs were laid open, and many bodies of tho


(16) 
franz.; Die Extreme berühren sich.

Zeugen Jehovas 95 se buried were tossed upright. In this posture they projected from the graves and were seen by many who passed by the place on their way to the cIty.»

Auf Deutsch müsste man das so wiedergeben: «Grüfte wurden geöffnet und viele beerdigte Leichname wurden in aufrechtstehender Haltung hochgeschleudert. In dieser Position ragten sie aus den Gräbern heraus, wobei sie vielen, die an der Stelle auf ihrem Weg in die Stadt vor beizogen, sichtbar wurden.» Im Wachtturm vom 21. Juli 1962, der in Bogota erschienen ist, finden wir einen interessanten Kommentar zu dieser Stelle von Mt 27. Der Kommentar zeigt ein Verständnis, das in Zusammenhang mit Grebers Übersetzung stehen muss. Die Übersetzung dieses Kommentars aus dem Englischen sieht folgendermassen aus: «Wie dem auch immer sei, ein Vergleich der Auferstehungstexte macht es deutlich, dass diese Verse keine Auferstehung beschreiben, sondern lediglich den Auswurf von Körpern aus den Gräbern vergleichbar mit Ereignissen in Equador 1949 und wiederum in Bogota 1962, als 200 Leichname anlässlich eines gewaltigen Erdbebens im Friedhof aus den Gräbern geschleudert wurden.» Ein ehemaliges Mitglied der «Leitenden Körperschaft», R. Franz, hat in seinem Buch «Der Gewissenskonflikt» eine gründliche Abrechnung mit den Lehren der Zeugen Jehovas gemacht. Er schreibt in bezug auf das Schriftverständnis folgendes: «Alle Veränderung in mir erwuchs aus der Einsicht, dass ich die Bibel aus einer total sektiererischen Sicht heraus gesehen hatte - wovor ich mich eigentlich geschützt geglaubt hatte. Als ich die Heilige Schrift für sich selbst sprechen Hess, ohne dass alles erst durch den Trichter einer fehlbaren menschlichen Einrichtung als 'Kanal' gegangen war, machte ich die Entdeckung, dass sie erheblich an Aussagekraft gewann. Ich war höchst erstaunt darüber, wieviel Wichtiges mir vorher entgangen war.» (17) Wie weit die «Theokratische Organisation» im Sektiererischen steckt, se hen wir besonders auch daran, dass weder Weihnachten, Ostern, Himmel fahrt, noch Pfingsten gefeiert wird. (Fortsetzung folgt)

17 Raymond Franz, Der Gewissenskonflikt, München: Claudius Verlag, 1988, S. 215.

96 Zeugen Jehovas

Der Autor:
Pfr. Dr. Samuel Leuenberger wurde als Sohn eines reformierten Pfarrers 1942 in l\/loutier geboren. Bereits in den Teenager-Jahren machte sich bei ihm ein starkes Interesse am römischen Katholizismus bemerkbar. Dank seiner wertvollen Kontakte mit einem katholischen Jugendseelsorger er hielt er die Möglichkeit, mehrere Jahre in einem Benediktinerkollegium zu studieren und dort im Jahre 1964 die Matura zu absolvieren. Seine Auseinandersetzung mit dem Katholizismus fand eine notwendige Ergänzung durch die Studienjahre an der evangelisch-reformierten Fakultät in Bern. Ein Auslandssemester in Oxford 1966/67 führte auch zur eingehenden Beschäftigung mit dem Anglikanismus. Nach dem Staatsexamen in Bern folgten zwei Studienjahre in den USA, in die auch ein einjähriges Gemeindepraktikum eingeschlossen war. in den USA entdeckte Samuel Leuenberger erweckliches Christentum, dessen Impulse er in seiner Tätigkeit als landeskirchlicher Pfarrer in der Schweiz weiterzugeben versucht. 1975 begann er mit seiner Doktorarbeit und promovierte im März 1984 in Stellenbosch/Südafrika. Während der Auseinandersetzung mit seiner Doktorarbeit wurde er von der Richtigkeit der reformatorischen Wahrheit überzeugt. Pfr. Dr. Samuel Leuenberger ist seit 1986 Pfarrer an der reformierten Kirche in Schlossrued und lehrt seit 1985 an der STH Basel Kirchen-, Sekten- und Weitanschauungskunde.


Veröffentlichungen:

- »Cultus Ancilla Scripturae, das Book of Common Prayer als erweckliche Liturgie - ein Vermächtnis des Puritanismus», in: Bo Reicke (Hrsg.), Theologische Dissertationen, Bd. XVII, Basel: Friedrich Reinhardt Kommissionsveriag, 1986 (Vorstellung dieser Dissertation in FUNDAMENTUM 4/1984, S. 86-106).

- «Archbishop Cranmer's Immortal Bequest», Grand Rapids: Eerdmans, 1990.

- «Die theosophischen Wurzeln von New Age», in: P. Beyerhaus/L. von Padberg (Hrsg.), Eine Welt - eine Religion?, Assiar: Schulte & Gerth, 1988.

- «Jesu Sicht der Heiligen Schrift», FUNDAMENTUM 2/1989.

- «Zum 500. Geburtstag des englischen Reformators Thomas Cranmer», FUNDAMENTUM 4/1989. -

-«Pluralistisches New Age: Seine totalitären Elemente», FUNDAMEN TUM 2/1991.

- «Die Homöopathie Hahnemanns in der Sicht Herbert Fritsches»,
FUN DAMENTUM 1/1992.


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1995/2 Fundamentum

Zeugen Jehovas Kleine Sektenkunde Zeugen Jehovas

Ideologie der Entmündigung

Schluss

Dr. theol. S. Leuenberger (Biographische Angaben finden sich in

FUNDAMENTUM 1/1995, S. 96)

V. Versuch einer seelsorgerlichen Konfrontation und
Argumentation

1. Werkgerechtigkeit

Bei den Zeugen Jehovas sollten wir bei der Werkgerechtigkeit einsetzen. Glauben bedeutet bei den Zeugen Jehovas in erster Linie Felddienst tun. Es handelt sich um den ausweisbaren und verbuchbaren Einsatz, mit dem man sich in der «Theokratischen Organisation» die Rettung erkaufen kann. Diese Werkgerechtigkeit könnten wir mit Zeugen Jehovas, die uns besuchen, anhand von Galater 2, 15-16 sowie 3, 10-11 und Römer 3, 23ff reflektieren. Reflexion dürfte für die Zeugen etwas Neues und Unbekanntes sein, das sich vom Indoktriniert werden wohltuend abheben könnte. Mit diesen Stellen geben wir ihnen die Chance, dass sie etwas von der Selbstinterpretation der Heiligen Schrift ahnen können. Man muss die Zeugen bei ihren Monologen unterbrechen und ihnen mit Vollmacht kundtun, dass wir für sie eine Frohbotschaft hätten. Wie wäre es, sie darauf hinzuweisen, wie menschenfreundlich doch unser biblischer Gott ist, der nicht einen krampf haften Einsatz auf Kosten der Familie und der Gesundheit von einem verlangt? Sie müssen das zu hören bekommen, dass in Christus die Menschenfreundlichkeit Gottes erschienen ist, und dass es zu dieser Menschenfreundlichkeit gehört, uns Freizeit zur Erholung zu gönnen. Wir dürfen den Zeugen zurufen: Gott befreit euch in Jesus vom Zwang, Ihm eure Ver dienste vorrechnen zu müssen. Der Zeuge braucht die Herausforderung durch die Heilige Schrift, z.B. durch Titus 3, 4-7. Dieser Text und mit ihm viele andere Steilen widerlegen eindeutig eine gesetzliche Verdienstethik.


94 Zeugen Jehovas 2. Das Gottesbild
a) Das Bild vom Jehovagott


Dieses Bild, das unter Jehova den sich an Racheakten weidenden und sich vor der Menschheit rechtfertigenden Gott sieht, widerspricht dem Zeugnis des Alten und Neuen Testaments. Psalm 103 zeigt ein wesentlich anderes Bild von Gott als das der Zeugen Jehovas.

b) Das Verständnis von Jesus
Den Zeugen sollte man aufzeigen, wie die Ablehnung der Gottheit Jesu nur durch einen «Murks» möglich ist. Es ist auffällig, wie die Zeugen in ihrer Literatur zur Widerlegung der Gottheit Christi die so wichtigen johanneischen Ich-Bin-Worte Jesu nicht heranziehen. Ein Mensch, der nur Geschöpf wäre, könnte niemals von sich behaupten, das Licht der Welt, der Weg, die Wahrheit, das Leben, die Auferstehung, die Türe, der wahre Weinstock, das Brot des Lebens und das A und O zu sein. Auch das Zeugnis der Schrift, dass Jesus ohne Sünde durch dieses irdische Leben gewandelt ist, ist nur denk bar, wenn wir die Gottheit Christi voraussetzen. Die Sicht Anselms von Canterbury (1033-1109) scheint mir für die Auseinandersetzung in dieser Frage hilfreich zu sein. Wenn Menschen den unendlichen Gott durch ihren Abfall beleidigt haben und als Strafe ewige Trennung vom Himmlischen Vater gewärtigen müssen, so kann nur ein Wesen zwischen Gott und den Menschen vermitteln, das beide Seiten in sich vereinigt, die göttliche und die menschliche; ein Tier ist nicht nach dem Ebenbild Gottes geschaffen, weshalb es für die Vermittlung nicht in Frage kommen kann. Ein gewöhnlicher Mensch vermag wegen seiner Begrenzungen und Unzulänglichkeiten für den beleidigten vollkommenen Gott nie und nimmer die sühnende Zahlung zu leisten. Nur ein vollkommenes Wesen, das aber beide Seiten in sich vereinigt, vermag diese Zahlung zu leisten, nämlich Jesus als wahrer, jedoch sündloser Mensch und wahrer Gott. Auch Matthäus 28,18 steht im Widerspruch zur Auffassung, Jesus sei nicht Gott, sondern nur ein ausserordentlich begnadeter und ethisch einzigartig hochstehender Mensch. Wenn Offenbarung 19, 13 Jesus als das «Wort Gottes» bezeichnet, so meint der Begriff «Wort Gottes» den Ausfluss des ureigensten Gedankens und Wesens Gottes. Im Wort drückt eine Person ihr Wesen aus. Wenn Jesus den Würdetitel «Das Wort Gottes» trägt, so liegt es auf der Hand, dass Er mit dem Himmlischen Vater Wesen und Natur gemeinsam haben muss. Im gleichen Kapitel lässt sich der doxologische Ehrentitel «König der Könige und Herr der Herren» kaum erklären, wenn Jesus nicht Gott wäre. Schliesslich sind all jene Stellen im Buch der Offenbarung eindeutig, wo Jesus in der himmlischen Liturgie Anbetung empfängt wie z.B. in Offb 5, 12-14. Nach Hebräer 1, 6 beten Engel Jesus an. Eine


Zeugen Jehovas 95
sehr hilfreiche Stelle ist auch Titus 2,13, wo es heisst: «Wir warten auf die selige Hoffnung und auf die Erscheinung der Herrlichkeit unseres grossen Gottes und Heilandes Jesus Christus, der sich für uns dahingegeben hat...»
Für den bei den Zeugen Jehovas so hochgespielten Namen «Jehova» gibt es keine Grundlage. Apg 4, 12 weist unmissverständlich darauf hin, dass der Name Jesus der höchste Name ist. Eindeutig lehrt das Neue Testament, dass Wundertaten im Namen Jesu geschehen sind und noch geschehen, seien es Krankenheilungen, Dämonenaustreibungen und sogar Auferweckungen. Nach Kolosser 3,17 sind wir dazu angehalten, die alltäglichen Aufgaben im Namen Jesu zu erledigen: «Und alles, was ihr tut mit Wort oder mit Werk, das tut alles im Namen des Herrn Jesus, indem ihr Gott, dem Vater, durch Ihn dankt.»

c) Dreieinigkeit
Das Problem bei den Zeugen Jehovas ist das Unvermögen, drei zum einen Gott vereinte Personen als Realität hinnehmen zu können. Die Zeugen denken in Kategorien eines platten Rationalismus. Ihnen dürfen wir aufzeigen, dass gerade die Dreifaltigkeit mit der Liebe Gottes engstens zusammenhängt. Gott ist eben kein Einzelgänger wie Allah. In Ihm drinnen gibt es eine lebendige Gemeinschaft drei verschiedener Personen, die uns gleich sam das Modell und Urbild für die richtige Gemeinschaftsweise unter den Menschen gibt. Die Zeugen Jehovas sind durch die Meinung fixiert, Unterordnung sei für Gott eine Unmöglichkeit. Unterordnung bedeutet eben ein Werturteil im disqualifizierenden Sinn, das sich auf Gott nicht anwenden lässt. Wenn in der Dreieinigkeit Über- und Unterordnung vorhanden sind, so legitimiert das auch Über- und Unterordnung im gesellschaftlichen Leben. Ohne die trinitarische Struktur Gottes würde uns das wichtigste Modell fehlen für alles, was letztlich mit echter und tiefer Gemeinschaft zu tun hat. Im Johannesevangelium dürfen wir sehen, wie Jesus mit Seinem Himmlischen Vater umgeht. Wichtigste Elemente im gemeinschaftlichen Umgang zeigen uns die Gespräche zwischen Jesus und dem Himmlischen Vater, nämlich gegenseitiges Vertrauen, Ehrerbietung, Liebe, Anteilnahme, ge genseitige Rücksichtnahme und lebendige Auseinandersetzung.

Wer den Heiligen Geist als Person leugnet, dem verschliesst sich dieser Geist, so dass es gar nicht zur Selbstauslegung der Heiligen Schrift kommen kann. Deshalb stellen wir ja auch bei den Zeugen eine naiv willkürliche Schriftinterpretation fest. Folgende Stellen weisen u.a. auf den Heiligen Geist als Person: Mk 3, 28; Lk 12,12; Joh 14,26; Joh 15, 26; Joh 16, 7-15. Die wahrscheinlich wichtigste Stelle für die Einheit der drei göttlichen Personen ist Johannes 17, 20-23.


96 Zeugen Jehovas Theologiegeschichtlich handelt es sich bei den Zeugen um ein Wiederaufleben des alten Arianismus\ wenn auch in viel primitiverer Form.



d) Anthropologie (2)
Die monistische^ Anthropologie müssen wir streng unter die Lupe nehmen. Obschon der Mensch ein gefallenes Wesen ist, bleibt ihm die Ebenbildlichkeit Gottes, wenn auch in verzerrter Weise. Wenn der Mensch nichts dem Tier voraushaben soll im Tod nach Prediger 3,19-20, so steht das im Konflikt mit der dem Menschen zugedachten Würde, auch Träger geistiger Qualitäten sein zu dürfen. Der bekannte amerikanische Theologe Norman Geisler sieht in dieser Stelle von Prediger 3 nicht eine Lehre, sondern viel mehr eine Darstellung Salomes, zu welcher Schlussfolgerung ein materialistisch gesinnter Mensch kommen muss. Salome präsentiert also den Nihilismus' (4) eines materialistisch eingestellten Menschen. Natürlich darf eine Weiterexistenz über den Tod hinaus niemals mit Rettung verwechselt wer den. Auch der nicht gerettete Mensch ist Ebenbild Gottes und ein gemeinsames Schicksal mit dem Tier im Sinn einer Annihilation widerspricht dieser Ebenbildlichkeit: zur Ebenbildlichkeit gehört ja auch, dass Gott den Menschen einmal zur Rechenschaft ziehen wird für all seine Taten und Gedanken. Andernfalls gäbe es keine Verantwortung, die doch ein für die Ebenbildlichkeit konstitutives Element ist. Denken wir zunächst einmal vom Alten Testament her über die Frage nach, was nach dem Tod geschehen wird. In Gen 25, 8 heisst es: «So starb Abraham in schönem Alter, alt und lebenssatt, und ward versammelt zu seinen Stammesgenossen.» Der bedeutende amerikanische Alttestamentler Barton Payne weist in seiner «Theologie des älteren Testaments» darauf hin, dass diese «Versammlung zu den Vätern» vor der Beerdigung geschehen sei. Dasselbe berichtet uns Gen 35,29 in bezug auf Isaak: «Dann verschied Isaak und starb und ward versammelt zu seinen Stammesgenossen, alt und lebenssatt; und seine Söhne Jakob und Esau begruben Ihn.» Barton Payne weist darauf hin, dass dieses Versammeltwerden demnach nicht mit der Beisetzung im Grab identifiziert werden darf, wo manchmal verschiedene Leichname zusammengekommen sind ( 5) Abraham und Jakob

(1) Arianismus = Lehre, die die Gottheit Christi ablehnt. Er ist lediglich das bevorzugte Geschöpf Gottes, aus dem Nichts erschaffen.

(2) Anthropologie = Lehre vom Menschen.

(3) Monistisch = den Monismus (Einheitslehre, nach der die Wirklichkeit einheitlich und von einer Grundbeschaffenheit ist) betreffend.

(4) Nihilismus = Überzeugung von der Nichtigkeit alles Bestehenden.

(5) Barton Payne, Theology of the Older Testament, Grand Rapids; Zondervan, 1976, S. 445-446.

Zeugen Jehovas 97 kamen mit ihren Vorvätern zusammen nach der Aussage der Schrift. Diese Vorväter lebten aber an verschiedenen Orten und ihre Leiber wurden auch an verschiedenen Orten beigesetzt. Deshalb kann mit dem Begriff «Zu seinen Vätern versammelt werden» niemals die Anhäufung der Leichname im Grab gemeint sein.

Interessant ist auch die Begebenheit in Endor nach 1. Sam 28. Saul suchte einen spiritistischen Kontakt mit Samuel. Die Zeugen Jehovas meinen nun aber, es habe sich gar nicht um Samuel gehandelt, sondern um einen Dämon, der in nachäffender Weise in der körperlichen Gestalt Samuels er schienen sei. Ein dämonischer Geist hätte aber Saul kaum die Wahrheit gesagt und von einer Störung der Ruhe gesprochen. Es scheint mir, Gottes Wort hätte um der Wahrhaftigkeit willen darauf hingewiesen, wenn eine Täuschung im Spiel gewesen wäre. Auch frage ich mich, weshalb eine Warnung vor dem Kontakt mit Verstorbenen nötig wäre, wie das übrigens in Dtn 18, 9ff geschieht, wenn es gar keine jenseitige Weiterexistenz gäbe. In Hiob 19, 26 sehen wir, wie Hiob deutlich erkennt, dass er einen vergänglichen Leib hat und eine den physischen Leib überdauernde Seele: «Selbst wenn die Haut an mir zerschlagen ist, werde Ich Gott schauen, ja ich werde ihn schauen mir zum Heil ...» In Mt 10 sagt Jesus die Worte: «Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten, die Seele aber nicht töten können ...» Wohl ist die Seele von Gott geschaffen und nicht im platonischen Sinn ohne Anfang. Dennoch verfällt sie nicht im Tod der Existenzlosigkeit. In 2. Kor 5 schreibt Paulus: «Wir haben aber viel mehr Lust, aus dem Leibe auszufahren und daheim zu sein beim Herrn.» Wer fährt denn aus dem Leibe aus? Es handelt sich um die unsterbliche Seele. Beim Herrn zu sein hätte ja keinen Sinn, wenn nach dem Tod der Zustand ewiger Bewusstlosigkeit einträte.

In 2. Kor 12 spricht Paulus davon, dass er ins Paradies entrückt worden sei. Dabei lässt er offen, ob dies im Leib oder ausserhalb des Leibes geschehen sei. Er rechnet immerhin damit, dass man ausserhalb des Leibes sein könne. In diesem Zusammenhang finde ich auch die Lehrerzählung vom «Reichen Mann und armen Lazarus». Sofort nach dem Tod ist beim reichen Mann Bewusstsein vorhanden. Er empfindet Qual. Er macht sich Gedanken und spricht sogar mit Abraham. Die Worte Jesu zum Schächer am Kreuz «Heute noch wirst du mit mir im Paradiese sein» implizieren doch auch eine über den Tod hinaus eintretende Weiterexistenz des Kerns der Persönlichkeit, also der Seele. Einige weitere Stellen der Heiligen Schrift mögen diesen anthropologischen Monismus zumindest in Frage stellen wie z.B. Phil 1, 21-23: «Denn für

98 Zeugen Jehovas

mich ist das Leben ein Dienst für Christus und das Sterben ein Gewinn ... ich habe vielmehr Lust, abzuscheiden und bei Christus zu sein, aber im Fleisch zu bleiben ist nötiger um euretwillen.» Im Fall einer provisorischen Annihilation wäre ja das Sterben kein Gewinn. Auch wäre man infolge des Todes nicht bei Christus. Der Ausdruck «im Fleisch bleiben» legt uns nahe, dass Paulus den Körper als Hülle verstanden hat, aus welcher die Seele beim Sterben austritt. Sehr aufschlussreich scheinen mir die johanneischen Ich-Bin-Worte Jesu zu sein. So heisst es in Joh 11, 25: «Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt, und jeder, der lebt und an mich glaubt, wird in Ewigkeit nicht sterben.» Besonders deutlich spricht gegen eine Annihilation 1. Petr 3,18-20: «Denn auch Christus ist einmal der Sünden wegen gestorben als Gerechter für Ungerechte, damit Er uns Gott zuführte, indem Er getötet wurde nach dem Fleisch, aber lebendig gemacht wurde nach dem Geist. In diesem ist Er auch hingegangen und hat den Geistern im Gefängnis gepredigt, die vorzeiten ungehorsam waren ...» So könnten wir noch manche Stellen anführen, welche die Unsterblichkeit der Seele stützen. Die Verneinung der postmortalen Existenz des Persönlichkeitskerns bei den Zeugen Jehovas lässt auf die Geringschätzung des Individuums schliessen. Diese Geringschätzung kommt übrigens auch darin zum Aus druck, dass die Autoren der im Wachtturm abgedruckten Beiträge meistens nicht mit ihrem Namen zeichnen. Durch den anonymen Charakter des Schrifttums will man einerseits das Eingebundensein in eine kollektive Mas se zum Ausdruck bringen, andererseits beim Leser den Eindruck erwecken, die Artikel würden direkt von Jehova stammen. Es scheint mir wichtig zu sein, den Zeugen Jehovas aufzuzeigen, wie wert voll Gott der einzelne Mensch ist. Dafür gibt es genügend Hinweise in der Bibel.

Die Zeugen Jehovas lehnen die Hölle ab. Der Ernst des Evangeliums würde aber verlorengehen, wenn es kein «zu spät» gäbe. Jesus spricht in Mk 9, 43 unmissverständlich vom unauslöschlichen Feuer. Eine Annihilation der Gottlosen würde aber keine Strafe mehr bedeuten. Leugnen wir die Hölle, so gibt es kein Verlorengehen. Die Heiligkeit und der Ernst Gottes müssen uns erhalten bleiben, sonst geht der Anreiz zur Heiligung verloren. Einen Gott, der seiner spotten Hesse, könnten wir nicht mehr ernst nehmen.

VI. Erklärungsversuche für den Erfolg der Zeugen Jehovas Immerhin müssen wir bei den Zeugen Jehovas auf die Anfrage gefasst sein, ob denn das kontinuierliche Wachstum der «Theokratischen Organisation» nicht auf Gottes besonderen Segen schliessen lasse. Nehmen wir


Zeugen Jehovas 99
einige Zahlen aus dem Materialdienst der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen. In der Ausgabe vom 1.9.1993 lesen wir: «1965 erreichte die Zahl der weltweit aktiven 'Verkündiger' die Millionengrenze, 1975 waren es bereits zwei Millionen, 1985 drei Millionen und schon 1990 wurde die Vier-Millionen-Grenze überschritten. Derzeit sind rund viereinhalb Millionen 'Verkündiger', organisiert in 70'000 Versammlungen, in weit über 200 Ländern aktiv.»® Wir haben es bei den Zeugen Jehovas mit einem Sammelbecken von vielen psychisch labilen Personen zu tun. So meint E. Koppel in seinem Buch, in dem er eine psychologische Analyse von den Zeugen Jehovas macht, dass die Glieder dieser Sekte ihre Ideologie zu einem Instrument machten, mit dessen Hilfe Rationalisierungen vorgenommen werden könnten, ohne dass der Überzeugte gezwungen werde, sich mit seinen eigentlichen Konflikten auseinanderzusetzen. Das apokalyptisch-dualistische'' Weltbild der Sekte werde als Stabilisierungsfaktor wirksam, indem es dem Bedürfnis nach subjektiver Sicherheit sehr nahe komme. Für einen Zeugen Jehovas gebe es von der Lehre her im Leben keine Rätsel mehr, was zu einem psychischen Wohlbefinden oberflächlicher Art vorübergehend führen kann (8)



VII. Beurteilung der Zeugen Jehovas von einem ehemaligen Mitglied der Leitenden Körperschaft von 1971-1980

1. Mühsame Verhandlungstraktanden an Sitzungen der Leitenden Körperschaft

R. Franz berichtet, wie in den jeweils an einem Mittwoch tagenden Sitzungen die 11 Mitglieder nicht nach ihrem Gewissen Entscheidungen treffen konnten. Es wurde ein Gruppendruck erzeugt, der Konformität verlangte. Vielfach brachte der Präsident Probleme an die Sitzung, über die man sprechen musste. Franz erwähnt folgende Probleme, über deren Lösung das Gremium abstimmen musste: Darf ein Vater das Ältestenamt ausüben, wenn er seine Tochter mit 18 Jahren heiraten oder seinen Sohn in eine höhere Schule gehen liess?
Darf man es dulden, wenn einem bedürftigen Zeugen Jehovas durchs Rote Kreuz Hilfsgüter gegeben worden sind?
Weil das Rote Kreuz eben ein Symbol der christlich-abendländischen Kirche verwendet, die babylonischer Herkunft ist, könnte das auf den Empfänger je



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6 Materialdienst der EZW, 56. Jahrgang, 1. September 1993, 8. 257.
7 Apokalyptisch = auf das Weltende, das Jenseits ausgerichtet.
Dualistisch = zweiheitlich geartet. Der Dualismus ist die Zweiheitslehre, eine Anschauung vom Nebeneinanderbestehen zweier verschiedener, nicht vereinbarer Grundkräfte (Geist - Leib u.a.) am Anfang aller Dinge.
8 E. Koppel, Die Zeugen Jehovas. Eine psychologische Analyse, München, 1990,8.58 u. 54.



100 Zeugen Jehovas


ner Hilfsgüter eine verunreinigende Wirkung haben. Besonders wichtig waren Diskussionen über Ehebruch unter Mitgliedern und welche Verfahren eingeleitet werden sollten.


2. Unmenschliche Machenschaften
a) Abbruch der Beziehungen mit Abtrünnigen

Raymond Franz gibt uns in seinem Buch «Der Gewissenskonflikt» tiefen Einblick in die Machenschaften der Theokratischen Organisation. So zeigt er uns die Unmenschlichkeit gegenüber sog. Abtrünnigen. Der Wachtturm vom 15.12.1981 gibt genaue Anweisungen, wie man mit solchen Leuten umzugehen hat, die sich von der Organisation distanzieren. Man darf sie nicht mehr grüssen und muss den Kontakt selbst zu engen Familiengliedern abbrechen. Franz bringt den Vergleich mit einer Mutter, die ein Kind grossgezogen und mit ihm Freude und Leid geteilt hat. Und nun zeigt jenes Kind der Mutter plötzlich die kalte Schulter, nur weil sie nach ihrem Gewissen einen eigenen Weg gehen will. Loyalität zur Organisation entschuldigt das härteste gefühllose Vorgehen gegen sogenannte Abtrünnige. Aspekte menschlicher Anteilnahme kommen überhaupt nicht zum Tragen, weil Korrektheit gegenüber der Organisation über aller Menschlichkeit steht.

b) Zerstörung der Lebensqualität durch starre Gesetzlichkeit

In der Leitenden Körperschaft behandelte man einen vorgelegten Fall folgendermassen: Die Leitende Körperschaft musste über einen Chauffeur befinden, der als Angestellter der Coca Cola-Firma das Getränk auch auf einen militärischen Stützpunkt bringen musste. Dieses herrschende Gremium war der Meinung, der betreffende Zeuge Jehovas würde der Theokratischen Organisation Schande bringen durch Belieferung eines militärischen Stützpunktes mit Coca Cola. So wurde dem Chauffeur befohlen, vom Arbeitgeber eine andere Fahrroute zu verlangen. Dabei war es diesem Gremium egal, dass der betreffende Chauffeur mit einem solchen Begehren den Job aufs Spiel setzen könnte. Im Fall der Weigerung, dem zuständigen Arbeitgeberchef diesen Antrag zu stellen, musste der betreffende Zeuge Jehovas mit Ausschluss aus der Gemeinschaft rechnen. (9) Einen anderen Fall berichtet Raymond Franz vom Staat Malawi in Afrika. Malawi verlangt von jedem Staatsbürger eine Solidaritätserklärung mit der einzigen Partei, die es in diesem Land gibt, nämlich mit der «Malawi Congress Party.» Diese Solidaritätserklärung durften Zeugen Jehovas aufgrund eines Beschlusses der Leitenden Körperschaft nicht geben, was für die Zeugen Brandschatzung ihrer Häuser, Vergewaltigung ihrer Frauen und lange Gefängnisstrafen bedeutete. Solche unverhältnismässigen Opfer

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9 Raymond Franz, Der Gewissenskonflikt, München: Claudius Verlag, 1991, S. 100.

Zeugen Jehovas 101 wurden den Gliedern der Theokratischen Organisation abverlangt, weil eine Solidaritätserklärung zum Einparteienstaat das Einverständnis mit dem gegenwärtigen System der Dinge bedeutet hättet (10)

c) Das Messen mit verschiedenen Ellen

Unlautere Machenschaften mit Bestechungsgeldern sind durchaus erlaubt, sobald es der Ideologie der Theokratischen Organisation entspricht. So gibt uns R. Franz ein Beispiel, wo die Leitende Körperschaft mexikanischen Bürgern, die Zeugen Jehovas sind, die Erlaubnis erteilte, Bestechungsgel der zu zahlen, um sich vom Militärdienst loszukaufen.^^ In der Dominikanischen Republik vermochten gewisse junge Männer der Zeugen Jehovas das nötige Geld nicht zu zahlen, um sich vom Militärdienst freizukaufen. Die Leitende Körperschaft verlangte von ihnen, die Konsequenzen für die Zahlungsunfähigkeit zu tragen, was für einige dieser dominikanischen Bürger bis zu neun Jahren Gefängnis bedeutete. Raymond Franz öffneten solche Machenschaften die Augen gegenüber seiner Sekte. Es wurde ihm klar, dass in der Theokratischen Organisation für zahlungsfähige und unbemittelte Zeugen nicht das gleiche Mass angewendet wird. Es gibt also das Ansehen der Person aufgrund der finanziellen Stellung. Vom zahlungsfähigen Zeugen Jehovas verlangt man nicht die gleichen Opfer wie vom armen Zeugen. Dazu kommt noch, dass mit Bestechungsgeldern erkaufte Scheine zur Dispensierung vom Militärdienst in Mexiko als illegale Machenschaften gelten. Das aber scheint die Theokratische Organisation nicht zu berühren. Gerade am Beispiel Mexiko kommt es deutlich zum Ausdruck, wie mit der Wahrheit sehr willkürlich umgegangen werden kann. So liessen sich die Zeugen Jehovas wegen der besonderen Gesetzeslage in diesem Land nicht als religiöse, sondern als kulturelle Organisation bei der staatlichen Behörde registrieren. Man spricht nicht von «Versammlung», was die Zusammenkünfte im Königreichssaal anbetrifft, sondern von «Freundes kreis.» Führen sie Taufen durch, so nennen sie diese Handlung nicht Taufe, sondern lediglich «Symbol.» Gehen die Kolporteure von Haus zu Haus, so geben sie den Wachtturm ab mit der Begründung, das solle zu kultureller Arbeit dienen. In den sog. «Freundeskreisen» spricht man keine Gebete und singt auch keine Lieder, um den Eindruck einer kulturellen Versammlung für Aussenstehende aufrecht erhalten zu können. Weshalb ist dies in Mexiko so wichtig, als kulturelle und nicht als religiöse Gesellschaft in Erscheinung zu treten? Nach mexikanischem Recht darf keine religiöse Gemeinschaft, auch nicht die katholische Kirche, Immobilien besitzen. Die


10 Ebd..S. 112-113.
11 Ebd.S. 120-121.
12 Ebd.. 8. 131.

102 Zeugen Jehovas
Theokratische Organisation verhält sich äusserst unsolidarisch mit anderen religiösen Gemeinschaften, die dazu stehen, dass sie religiöse Körperschaften sind und auch den Nachteil auf sich nehmen, keine Immobilien zu besitzen. Nur die Theokratische Organisation masst sich an, durch Tarnmanöver zu Immobilien kommen zu dürfen.

d) Respektlosigkeit gegenüber der Privat- und Diskretionssphäre

In der Leitenden Körperschaft gab man Direktiven heraus, dass Älteste Ehepaare nach ihren Sexualpraktiken ausforschen und ihr Rechenschaft geben müssten. Vor allem in den Siebzigerjahren war dieser Vorstoss, auch aufs Intimleben Macht auszuüben, ein Charakteristikum der Leiten den Körperschaft, was sich u.a. in den Wachttürmen vom 15.3.1970, 1.3. und 15.2.1973 spiegelt. Eine Flut von Briefen ging damals ein, wo Leute sich genau absichern wollten, wie weit man bei geschlechtlichen Handlungen in der Ehe gehen dürfe. Es gehört zu den Praktiken der Theokratischen Organisation, den Verhörstil zu pflegen und von eng befreundeten Mitarbeitern beispielsweise her auszupressen, welche Meinungen sie untereinander austauschen. Wagt es jemand, eine Lehre der «Neuen-Welt-Gesellschaft» nur ein wenig anhand des biblischen Befundes in Frage zu stellen, so wird sofort ein Verhörkomitee zusammengestellt, das mit inquisitorischer Akribie die kritisch eingestellte Person mundtot zu machen versucht. Dazu gehören Methoden wie das Ablesen von Fragelisten, wobei der Angeklagte nur mit Ja oder Nein antworten darf."' (13) Raymond Franz gibt ein Stimmungsbild von jenen durch die Leitende Körperschaft zusammengestellten Verhörgremien wieder, wenn er sagt: «Von der Güte Christi spürte man nichts, aber auch gar nichts. Statt freundschaftlicher Wärme und einem einfühlenden Verstehen, das der Freundschaft erst die Wärme verleiht, herrschte ein kaltes, einzig an Organisationsinter essen orientiertes Verhalten. Man nahm stets das Schlimmste an, gab möglichen anderen Erklärungen keine Chance und sah Nachsicht und Geduld als Schwäche an, da sie den Interessen und Zielen der Organisation zuwiderliefen, die da lauteten: Gleichförmigkeit, Fügsamkeit, stromlinienförmige Anpassung. » (14) Franz verweist auch auf den Wachtturm vom 15.1.1981, wo vor all jenen Personen in der Organisation gewarnt wird, die es wagen, eine kritische Haltung einzunehmen. Solche Personen werden im genannten Wachtturm verunglimpft, wobei man überhaupt nicht auf die von den betreffenden Leuten geäusserte Kritik eingeht.

13 Ebd., S. 247-250.
14 Ebd., 8. 253.


Zeugen Jehovas 103

VII. Einige zum Portrait der Zeugen Jehovas gehörende
soziologische und psychologische Momente
sowie die theologiegeschichtliche Einordnung

1. Soziologische Momente

Die Zeugen Jehovas mit ihrer stark chiliastischen'' (15) Ausrichtung sprechen vor allem die sozial benachteiligten Schichten an. Sehr präzise drückt das der Soziologe E. T. Clark aus, wenn er sagt, nicht privilegierte soziale Schichten seien sehr empfänglich für das Versprechen einer kommenden heilen Welt, wo es wirtschaftlich keine Benachteiligten mehr geben werde, auch keine Unterschiede von reich und arm. Es sei daher verständlich, dass eine Sekte mit stark chiliastischer Prägung die kosmische Katastrophe herbeisehnen würde; denn durch diese würden ja auch die ungerechten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Systeme fallen.(16)
Es ist von den soziologischen Gegebenheiten her verständlich, weshalb es innerhalb der Theokratischen Organisation keinen guten Bildungsstand gibt, somit auch keine Kultur, was beispielsweise in den kitschigen Illustrationen im Wachtturm zum Ausdruck kommt sowie in den bescheidenen musikalischen Kreierungen, wenn wir an das Liedgut denken. Akademiker gibt es nur sehr wenige bei den Zeugen Jehovas. An Gebäulichkeiten gibt es nichts, was architektonisch als Sonderleistung gelten könnte. Die Ver sammlungslokale befinden sich häufig in grösseren Gebäudekomplexen und heben sich nicht von anderen Gebäuden ab wie das etwa bei der Christengemeinschaft der Fall ist, die den künstlerischen Aspekten einen hohen Stellenwert beimisst. Eine interessante soziologisch-gesellschaftliche Eigenheit bei den Zeugen ist die strikte Unterordnung der Frau. Sie darf in keine höheren Gremien aufsteigen und darf im Königreichssaal sich nicht als lehrende Person an die Versammlung wenden. Ein für die Zeugen typisches soziologisches Moment ist die Tatsache eines Frauenüberschusses, vor allem mittelalte und ältere Frauen. Das hängt ganz einfach damit zusammen, dass die an die Haustüren klopfenden Kolporteure Hausfrauen vorfinden; die Männer befinden sich meistens auf der Arbeit. Ghiliastische schlaraffenlandartige Perspektiven haben junge Frau en nicht so nötig, weil sie von den Problemen des Lebens im Normalfall noch nicht besonders heimgesucht worden sind. Mittelalte und ältere Frau en auf dem sogenannten absteigenden Ast lechzen viel mehr nach einem Auffüllen ihrer Defizite. Der Anteil des weiblichen Geschlechtes beträgt also 65 Prozent.

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15 Chiliastisch = Den Chiliasmus (Lehre von einer 1000jährigen Herrschaft Christi auf der Erde) betreffend.
16 E. T. Clark, The small sects In America, New York, 1949, 8. 218f.


104 Zeugen Jehovas 2. Psychologische Momente
Ein sehr interessanter psychologischer Mechanismus ist besonders von L. Festinger erforscht worden. Er nennt diesen psychologischen Mechanismus «kognitive Dissonanz». In bezug auf die Zeugen Jehovas lässt sich eine kognitive Dissonanzreduktionsstrategie feststellen. Darunter ist folgendes zu verstehen: Die Theokratische Organisation, vor allem die führen den Leute darin, wissen durchaus, dass gravierende Fehlprophezeiungen in Bezug auf den Anbruch des Milleniums gemacht worden sind. Doch das Nichteintreffen der Prophezeiungen wird nun als Erfolg deklariert, indem man die Mitglieder davon überzeugen will, das Ausbleiben der Prophezeiung sei von Jehova als wertvolle Prüfung der Durchhaltekraft der Zeugen gewollt und sei als grosse Chance der Bewährung zu verstehen. Zu dieser kognitiven Dissonanzreduktionsstrategie gehört die schlaue Erklärung, weshalb 1975 das Ende noch nicht gekommen sei. So wird einem weisgemacht, Adam sei 4'026 Jahre vor der Zeitrechnung erschaffen worden. Vom Jahre 4'026 weg seien also bis zum Zeitpunkt von 1975 6'000 Jahre verflossen. Eines sei aber noch nicht berücksichtigt worden, nämlich die Erschaffung Evas, die in einem späteren Zeitpunkt erfolgt sei. Erst vom Zeitpunkt der Vollendung des ersten Menschenpaars, das mit der Erschaffung Evas geschehen sei, dürfe man die 6*000 Jahre hinzufügen. Somit kommen die Zeugen Jehovas auf ein späteres, noch nicht definitiv festgesetztes Datum für den Anbruch des Endes. Ein weiteres dissonanzreduzierendes kognitives Element ist für die Theokratische Organisation die Tatsache, dass trotz Spott und Hohn von Seiten der Welt neue Mitglieder angeworben werden und die Neue-Welt-Gesellschaft im Wachstum begriffen ist. Ein interessantes Detail dafür, dass die Zeugen Jehovas psychologische Gegebenheiten ausnützen, wenn auch in reflektierter Weise, ist folgende Gepflogenheit: Die Zeugen lesen mit besonderem Eifer die Todesanzeigen der lokalen Zeitungen; denn dieser Sachverhalt ist auch ihnen klar, dass emotional durch einen Todesfall stark mitgenommene Menschen eher indoktriniert werden können. Die Theokratische Organisation kennt in ihrer psychologischen Strategie drei wichtige Mechanismen, die funktionieren müssen: Es handelt sich um den Kohäsions-, Isolations- und Kontrollmechanismus.

a) Der Kohäsionsmechanismus (17)
Beim Kohäsionsmechanismus geht es darum, die Mitglieder mit Druck zur regelmässigen Teilnahme an den Versammlungen zu bewegen, sie zum

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17 Kohäsion = von lat. cohaerere, zusammenhängen.

Zeugen Jehovas 105

Verkauf von möglichst vielen Wachttürmen zu bewegen, Rollenspiele zu leiten, vor der Versammlung aus dem Wachtturm vorzulesen. Alles, was den Zusammenhalt und die Gruppenidentität fördert, gehört zur Kohäsionsmethode. Je mehr Opfer gebracht werden durch die Einzelnen, desto mehr fühlen sich die Mitglieder moralisch verantwortlich, sich mit den anderen zu solidarisieren. Die Verachtung von aussen her will man geradezu provozieren, weil das die Mitglieder noch mehr zusammenschweisst. Die Proklamation, dass die Zeugen die endzeitliche Heilsgemeinde darstellen, intensiviert den Kohäsionsmechanismus.

b) Der Isolationsmechanismus

Der Zeuge muss sich von der Welt trennen, d.h. vom «System der Dinge». So reglementiert die Leitung die Beziehungen der Gläubigen zur Aussenwelt. Dazu gehören wie bereits an früherer Stelle erwähnt das Verbot der Besuche von Theater, von Vereinen, überhaupt von fröhlicher Unterhaltung wie die eines Dorffestes. Kontakte mit Andersgläubigen sind nicht gestattet, es sei denn einzig mit der Absicht, diese zu bekehren. Beziehungen zu Eltern, Geschwistern und Verwandten sowie zu Freunden müssen abgebrochen werden, wenn diese sich nicht für die «Theokratische Organisation» zu interessieren beginnen. V. Mine bezeichnet diese Massnahmen als «bridge-burning-act».^® Zum Isolationsmechanismus gehören Verbote wie Bluttransfusion und ausserordentlich strenge sexuelle Vorschriften, die dem Zeugen das ethische Überlegenheitsgefühl vermitteln.


c) Kontrollmechanismen

Jeder Zeuge ist verpflichtet, beobachtete Verfehlungen den «Ältesten» zu melden, also den Aufsehern der Versammlung. Wenn ein Mitglied eine Meinung äussert, die nicht konform ist mit der Lehre der Zeugen, so wird der Umgang mit dieser Person verboten. Diese Mechanismen führen zu tiefen psychischen Schäden. Der Zeuge fühlt sich nur in seiner Gruppe wohl. Dort ist er sicher und von dorther empfängt er auch Mut, der Welt und ihrer Meinung zu widerstehen. Wenn auch die Zeugen eine grosse Opferbereitschaft an den Tag legen und einen wesentlich höheren ethischen Standard als der Durchschnittsbürger unserer Gesellschaft, so ist doch eine Kontaktarmut vorhanden, eine Steifheit und eine subdepressive Stimmung. Eigenständiges Denken ist wenig vorhan den. Wie ein Papagei muss immer das nachgeplappert werden, womit man

(18) Bridge burning = Brücken verbrennen. V. Hine,
Bridge burners: Commitment and participation in a rellgious movement. Sociologicai analysls, 1970, S. 61-66.


106 Zeugen Jehovas indoktriniert worden ist. Die Zeugen sind Sklaven. Weil die Realisierung ih rer Ideale kaum möglich ist, stecken die Zeugen in einem Kampf und oft in Schuldgefühlen; denn sie müssen ihre Bedürfnisse immer zugunsten der Theokratischen Organisation zurückstecken. Kreative Werte können sie nicht entfalten. Die Macht des Klischees verformt diese Leute oft zu Karikaturen, Leute, die doch von ihnen aus gesehen alles zur Ehre Gottes und für das Wohl der Menschen tun möchten. Ihr Ernst, Gott zur Ehre zu leben, das dürfen wir ihnen nicht absprechen. Darin könnten sie uns ein grosses Beispiel sein, wenn es nicht aus einem sklavi schen Geist heraus geschehen würde.

3. Theologiegeschichtliche Einordnung

Was die theologiegeschichtliche Einordnung betrifft, würde ich die Zeugen Jehovas als Nachfahren der spätantiken Arianer sowie des hochmittelalterlichen Joachimismus im 13. Jahrhundert sehen, aber auch der chiliastischen Strömungen unter den Nonkonformisten Englands im 17. Jahrhundert

. Eingesehene Literatur:
Verschiedene Wachtturm-Ausgaben.
Hans-Jürgen Twisselmann,
Vom Zeugen Jehovas zum Zeugen Jesu Christi, Basel: Brunnen Verlag, 1987. F. W. Haack, Jehovas Zeugen, München, 1981. Gerhard Heinzmann, Lehren die Zeugen Jehovas die Wahrheit?, Karls ruhe, 1988.

Raymond Franz, Der Gewissenskonflikt, München: Claudius Verlag, 1991.

Zusätzliche Literatur:
Erich Brüning, Sind Zeugen Jehovas Christen?, Bad Liebenzell: Verlag der Liebenzeller Mission, 1990.