Einleitung
Es hat Gott gefallen, in den verschiedenen Berichten, die Er uns von unserem
Herrn Jesus gegeben hat, nicht nur seine eigene Gnade und Weisheit, sondern auch
die unendliche Vortrefflichkeit seines Sohnes darzustellen. Wir sind weise, wenn
wir danach trachten, aus all dem Licht, welches Er uns gegeben hat, Nutzen zu
ziehen. In dieser Absicht sollen wir vorbehaltlos, wie es der aufrichtige Christ
sicher tut, das annehmen, was Gott zu unserer Belehrung in diesen verschiedenen
Evangelien geschrieben hat. Wir sollen sie vergleichen, und zwar unter den
verschiedenen Gesichtspunkten, die Gott in jedem Evangelium mitgeteilt hat. Dann
sehen wir konzentriert die wechselnden Linien der ewigen Wahrheit, die sich in
Christus treffen. Nun, ich werde in schlichter Weise – der Herr möge mir dabei
helfen! – mit der Betrachtung der Evangelien anfangen und beginne mit dem
Matthäusevangelium. Ich will, soweit ich dazu in der Lage bin, seine großen
unterscheidenden Charakterzüge herausstellen, sowie auch den Hauptinhalt, den
der Heilige Geist, wie es Ihm gefällt, hier darlegt. Wir müssen gut im
Gedächtnis behalten, dass Gott es in diesem, wie auch in den anderen Evangelien,
keineswegs unternommen hat, alles darzustellen, sondern nur einige ausgewählte
Reden und Handlungen. Und das ist umso bemerkenswerter, weil in einigen Fällen
dasselbe Wunder usw. in einigen, ja, manchmal in allen Evangelien gegeben wird.
Die Evangelien sind kurz; das verwendete Material ist begrenzt – aber was sollen
wir zu den Tiefen der Gnade, die hier enthüllt werden, sagen? Was zu der
unmessbaren Herrlichkeit des Herrn Jesus Christus, die in ihnen überall
hervorscheint?
Man kann nicht leugnen, dass es Gott gefallen hat, sich auf einen kleinen Teil
der Umstände im Leben Jesu zu beschränken und trotzdem die gleichen Reden,
Wunder, und welche anderen Ereignisse Er vor uns bringt, zu wiederholen. Dies
stellt für mich nur umso nachdrücklicher heraus, dass Gott offenbar die Absicht
hat, die Herrlichkeit seines Sohnes in jedem Evangelium unter einem bestimmten
Gesichtspunkt auszudrücken. Wenn wir nun das Matthäusevangelium als Ganzes
besehen und einen ganz allgemeinen Blick auf dasselbe werfen, bevor wir in die
Einzelheiten gehen, erhebt sich die Frage: Welcher Hauptgedanke stand vor dem
Heiligen Geist? Die einfachste Lektion ist sicherlich, sich darüber von Gott
belehren zu lassen. Und wenn man es einmal gelernt hat, sollte man dieses Wissen
ständig als einfachstes Hilfsmittel bei der Auslegung verwenden. Solches ist
verbunden mit großem Nutzen sowie auch tiefster Belehrung, wenn wir die
Ereignisse, wie sie nacheinander vor uns kommen, untersuchen. Was ist es also,
das uns nicht bloß an wenigen Stellen und in einzelnen Kapiteln, sondern das
ganze Matthäusevangelium hindurch vorgestellt wird? Egal, wo wir hinschauen, sei
es auf den Anfang, die Mitte oder das Ende – überall zeigt sich derselbe
Gegenstand. Die Worte der Einleitung führen ihn schon ein. Ist es nicht der Herr
Jesus, der Sohn Davids, der Sohn Abrahams – der Messias? Aber Er ist nicht
einfach der Gesalbte Jahwes, sondern eine Person, die sich als Jahwe-Messias
erweist und von Gott auch so verkündet wird. Nirgendwo sonst finden wir ein
ähnliches Zeugnis. Ich sage nicht, dass nicht auch in den anderen Evangelien
Beweise gegeben werden, dass Er wirklich Emmanuel und auch Jahwe ist. Aber
nirgendwo sonst haben wir solch eine Fülle des Beweises und vom Ausgangspunkt
des Evangeliums an eine solch offensichtliche Absicht, den Herrn Jesus als einen
göttlichen Messias – „Gott mit uns“ – zu verkünden.
Auch der praktische Gegenstand ist klar ersichtlich. Die allgemeine Ansicht,
dass die Juden im Blickpunkt stehen, ist weitgehend richtig. Das
Matthäusevangelium enthält innere Beweise, dass Gott hier speziell für die
Belehrung derer unter den Seinen sorgt, die früher Juden waren. Es ist ganz
besonders zu dem Zweck geschrieben worden, um jüdische Christen in ein besseres
Verständnis über die Herrlichkeit des Herrn Jesus einzuführen. Folglich wird
hier ausführlich jedes Zeugnis gefunden, das einen Juden überzeugen und ihm
genügen musste und das seine Gedanken berichtigen und erweitern konnte. Deshalb
die Genauigkeit beim Zitieren aus dem Alten Testament. Deshalb das
Zusammenströmen der Prophetie auf den Messias. Deshalb auch die Art und Weise,
in der die Wunder Christi und die Ereignisse seines Lebens hier zusammengestellt
sind. Das Zeugnis begegnete genau den jüdischen Schwierigkeiten. Wunder finden
wir zweifellos auch woanders geschildert und gelegentlich auch Prophezeiungen.
Aber wo finden wir sie so zahlreich wie bei Matthäus? Wo sonst beabsichtigt der
Geist Gottes so unablässig und auffallend, an allen Orten und in allen Umständen
die Schrift auf den Herrn Jesus anzuwenden? Ich muss bekennen, dass es mir
unmöglich erscheint, dass eine aufrichtige Seele dieser Schlussfolgerung
widerstehen könnte.
Aber das ist nicht alles, was hier beachtet werden muss. Gott lässt sich nicht
nur dazu herab, den Juden mit diesen Beweisen aus der Prophetie, durch die
Wunder, das Leben und die Lehre zu begegnen, sondern Er beginnt mit dem, was ein
Jude verlangen würde und verlangen musste – der Frage des Geschlechtsregisters.
Aber selbst dann antwortet Matthäus diesem Verlangen auf göttliche Weise.
„Buch des Geschlechts Jesu Christi“, sagt er,
„des Sohnes Davids, des Sohnes
Abrahams“ (V. 1). Das sind die beiden grundsätzlichen Fixpunkte, zu denen
ein Jude sich wendet – auf der einen Seite das durch die Gnade Gottes geschenkte
Königtum, auf der anderen Seite der Besitzer der Verheißungen Gottes.
Aber wir finden noch viel mehr. Gott erwähnt nicht nur die Linie der Väter. Doch
wenn Er sich dann und wann aus gewissen Gründen für einen Augenblick zur Seite
wendet – was für Belehrungen hinsichtlich der Sünde des Menschen, seiner Not und
Gottes Gnade erheben sich vor uns in dieser einfachen Aufzählung seines
Stammbaums! In bestimmten Fällen erwähnt Er nicht nur den Vater, sondern auch
die Mutter – aber nie ohne göttlichen Grund! Es wird auf vier Frauen angespielt.
Es sind nicht diejenigen, die einer von uns oder überhaupt irgendein Mensch
bevorzugt in ein Geschlechtsregister, und dann in ein solches
Geschlechtsregister, eingeführt hätte. Gott jedoch hatte einen
ausreichenden Grund dafür. Und dieser zeugt nicht nur von Weisheit, sondern auch
von Barmherzigkeit. Er war auch von besonderer Belehrung für die Juden, wie wir
gleich sehen werden. Zunächst einmal, wer außer Gott hielte es für notwendig,
uns daran zu erinnern, dass Juda Perez und Serach von der Tamar empfing? Ich
brauche das nicht weiter auszuführen; diese Namen in der göttlichen Geschichte
sprechen für sich selbst. Der Mensch hätte das alles ganz gewiss verschwiegen.
Er würde es vorgezogen haben, eine strahlende Darstellung von der alten und
erhabenen Abstammung herauszustellen. Oder er hätte alle Ehre und allen Ruhm auf
eine Person konzentriert, deren glanzvoller Genius alle Vorhergehenden
verdunkelt. Doch Gottes Gedanken sind nicht unsere Gedanken, und unsere Wege
sind nicht seine Wege. Außerdem ist die Anspielung auf solche Personen, die hier
vorgestellt sind, umso bemerkenswerter, weil andere, würdigere nicht genannt
werden. Sara wird nicht erwähnt, auf Rebekka wird nicht angespielt, noch auf
irgendeinen anderen heiligen und berühmten Namen in der weiblichen Linie unseres
Herrn Jesus. Aber Tamar erscheint schon in Vers 3, und der Grund dafür ist so
klar ersichtlich, dass man ihn kaum erklären muss. Ich bin davon überzeugt, dass
der Name allein schon ein ausreichender Hinweis für Herz und Gewissen eines
jeden Christen ist. Wie bedeutsam ist er erst für einen Juden! Was dachte er
über den Messias? Würde er den Namen Tamars in diesem Zusammenhang
herausgestellt haben? Niemals! Die Tatsache konnte er nicht leugnen; dennoch war
ein Jude die letzte Person, die sie herausgestellt und besondere Aufmerksamkeit
auf sie gelenkt hätte. Nichtsdestoweniger erweist sich die Gnade Gottes in
dieser Angelegenheit als außerordentlich gut und weise.
Wir finden jedoch noch mehr. Etwas später haben wir eine andere Frau. Da steht
der Name Rahabs, einer Heidin, und zwar einer Heidin, die keinen ehrenhaften Ruf
hatte. Menschen hätten versucht, diese Sache
wegzulassen. Aber es ist unmöglich, ihre Schande
zu bemänteln oder die Gnade Gottes abzuschwächen. Es ist weder gut noch weise,
das, was Rahab in den Augen der Öffentlichkeit war, zu übersehen. Und doch ist
es diese Frau, die der Heilige Geist an zweiter Stelle für die Ahnenreihe Jesu
auswählt.
Auch Ruth erscheint. Ruth ist von allen diesen Frauen am lieblichsten und
tadellosesten – ohne Zweifel durch die Wirkung der göttlichen Gnade in ihr.
Nichtsdestoweniger ist sie eine Tochter Moabs. Denn Gott hatte den Kindern Moabs
verboten, in seine Versammlung zu kommen bis ins zehnte Geschlecht (5.
Mo 23,4).
Und was sagen wir zu Salomo, der David, dem König, von der Frau, die mit Uria
verheiratet gewesen war, geboren wurde? Wie demütigend war das für die, welche
auf menschliche Gerechtigkeit bestanden! Wie entgegengesetzt zu rein jüdischen
Erwartungen hinsichtlich des Messias! Er war der Messias; aber Er war ein
Messias nach dem Herzen Gottes und nicht des Menschen. Er war der Messias, der
irgendwie mit Sündern, den ersten und den letzten, Beziehungen eingehen konnte
und wollte. Seine Gnade sollte eine Heidin, eine Moabitin, ja, jeden, erreichen
und segnen. In seiner Ahnentafel, wie sie Matthäus gibt, ist Raum gelassen für
Andeutungen dieser Reichweite. Mochten Menschen die Lehre und die Tatsachen
leugnen; sie konnten die wirklichen Merkmale des Stammbaums des wahren Messias
weder ändern noch auslöschen. Denn der Messias konnte nur aus der Linie Davids
durch Salomo kommen. Und Gott hielt es für angemessen, uns genau dieses
mitzuteilen, damit wir wissen, welch eine Freude Er in seiner reichen Gnade hat,
wenn Er von den Vorfahren des Messias spricht. Und an dieser Freude sollen auch
wir teilnehmen. Auf diese Weise kommen wir also zur Geburt des Christus.
Aber es war Gottes nicht weniger würdig, dass Er die Wahrheit eines anderen
bemerkenswerten Zusammentreffens von vorhergesagten Umständen, die scheinbar
unvereinbar waren und sein Kommen in diese Welt betrafen, klar herausstellt.
Zwei Bedingungen mussten vom Messias unbedingt erfüllt werden: Die eine bestand
darin, dass Er wahrhaftig von einer – ja, vielmehr, von der – Jungfrau geboren
werden musste. Die andere besagte, dass Er die königlichen Rechte des
salomonischen Zweiges des Hauses Davids entsprechend der Verheißung erben
sollte. Aber es gab noch eine dritte Bedingung, wie wir hinzufügen können. Er,
der wirkliche Sohn seiner jungfräulichen Mutter und der gesetzliche Sohn seines
Salomon-entsprossenen Vaters, sollte im wahrsten und höchsten Sinn, der Jahwe
Israels, Emmanuel –
„Gott mit uns“ – sein (V. 23). All dies ist in dem kurzen Bericht, der uns
als nächstes im Evangelium des Matthäus, und zwar ausschließlich von ihm,
gegeben wird, zusammengedrängt. Folglich lesen wir:
„Die Geburt Jesu Christi aber war so: Als Maria, seine Mutter, mit Joseph
verlobt war, fand es sich, ehe sie zusammengekommen waren, dass sie schwanger
war von dem Heiligen Geist“ (V. 18).
Dieser Wahrheit hinsichtlich der Wirksamkeit des Heiligen Geistes wird,
wie wir finden werden, im Lukasevangelium
eine noch tiefere und weitreichendere Bedeutung beigemessen. Denn Lukas
zeigt uns den Menschen Jesus Christus. Ich behalte mir deshalb jede
Bemerkung, die durch diesen erweiterten Gesichtskreis entstehen wird und
entstehen soll, vor, bis wir das dritte Evangelium betrachten.
Aber hier geht es um die Beziehung Josephs zum Messias; und deshalb
erscheint der Engel ihm. Im Lukasevangelium ist es nicht Joseph, sondern
Maria. Sollen wir denken, dass diese unterschiedlichen Berichte rein zufällig so
sind? Oder sollen wir nicht vielmehr, wenn es Gott gefällt, zwei
unterschiedliche Linien der Wahrheit herauszustellen, die göttlichen Prinzipien
dahinter herausfinden? Es ist unmöglich, dass Gott etwas tun könnte, das selbst
für uns beschämend wäre.
Wenn wir handeln und reden, oder beides unterlassen, dann sollten wir sowohl für
das eine wie für das andere einen ausreichenden Grund haben. Und wenn kein
vernünftiger Mensch bezweifelt, dass es bei uns so ist – hat nicht Gott immer
eine vollkommene Absicht in den verschiedenen Berichten, die Er uns von Christus
gegeben hat? Beide Berichte sind wahr, aber mit unterschiedlichen Zielen.
Matthäus erwähnt mit göttlicher Weisheit den Besuch des Engels bei Joseph. Mit
nicht weniger Leitung von oben erzählt Lukas von Gabriels Besuch bei Maria (und
vorher bei Zacharias). Und der Grund dafür ist klar. Bei Matthäus wird
keineswegs abgeschwächt, sondern vielmehr bewiesen, dass Maria die wirkliche
Mutter des Herrn war. Aber der Hauptgesichtspunkt liegt darin, dass Er die
Rechte Josephs erbte.
Und kein Wunder! Denn wie wahrhaftig unser Herr auch der Sohn der Maria gewesen
wäre, Er hätte dadurch kein unangreifbares gesetzliches Recht auf den Thron
Davids gehabt. Dieses konnte Er niemals kraft seiner Abstammung von Maria
erhalten. Er musste außerdem die Rechte des königlichen Stammes erben. Gesetzt
den Fall, Er wäre allein durch Maria ein Sohn Davids gewesen, dann hätte Joseph
die Anrechte unseres Herrn auf den Thron ausgeschlossen, da allein er zur
erbberechtigten salomonischen Linie gehörte; und so müssen auch wir es sehen.
Die Tatsache, dass der Herr Gott oder Jahwe war, brachte in keiner Weise in sich
selbst die Grundlage für ein davidisches Anrecht, obwohl es dadurch natürlich
andererseits eine viel tiefere Bedeutung enthielt. Das Problem bestand darin,
neben seiner ewigen Herrlichkeit einen messianischen Anspruch zu verwirklichen,
der nicht beiseitegesetzt und von keinem Juden auf seinem Standpunkt angefochten
werden konnte. Es war seine Gnade, die sich so herabließ. Es war seine
allgenugsame Weisheit, welche wusste, wie man diese Bedingungen vereinbaren
konnte – Bedingungen, die zu hoch für den Menschen waren, als dass er sie hätte
zusammenführen können. Gott sprach, und es geschah.
Demnach richtet also im Matthäusevangelium der Geist Gottes unsere
Aufmerksamkeit auf diese Tatsachen. Joseph war durch Salomo der Nachkomme des
Königs David. Der Messias musste deshalb auf die eine oder andere Weise der Sohn
Josephs sein. Aber alles wäre verloren gewesen, wenn Er wirklich der Sohn
Josephs gewesen wäre. Der Widerspruch sah hoffnungslos aus; denn es schien, dass
Er einerseits der Sohn Josephs sein musste, um Messias zu werden, und
andererseits nicht. Doch was sind für Gott schon Schwierigkeiten? Für Ihn sind
alle Dinge möglich; und der Glaube empfängt mit Bestimmtheit alles. Denn Er war
in einer Weise Josephs Sohn, dass kein Jude es leugnen konnte. Andererseits war
Er es nicht, sondern in vollster Weise der Sohn der Maria, der Same der Frau,
und, buchstäblich, nicht des Mannes. Gott gibt sich also in diesem jüdischen
Evangelium besonders große Mühe, den Nachdruck darauf zu legen, dass Er in den
Augen des Gesetzes strenggenommen der Sohn Josephs war, um so nach dem Fleisch
die Rechte des königlichen Stammes zu erben. Aber an dieser Stelle weist Er mit
besonderer Sorgfalt nach, dass Er in der Art seiner Geburt als Mensch nicht der
Sohn Josephs war. Bevor Gatte und Gattin zusammengekommen waren, wurde die
Verlobte schwanger erfunden von dem Heiligen Geist. Das war die Art seiner
Empfängnis. Doch außerdem war Er Jahwe. Dies ergab sich aus seinem Namen. Der
Sohn der Jungfrau sollte
„Jesus“ genannt werden,
„denn Er wird sein Volk erretten von ihren Sünden“ (V. 21). Er sollte nicht
einfach ein Mensch sein, wenn auch auf übernatürliche Weise geboren. Das Volk
Jahwes, Israel, war sein Volk;
„Er wird sein Volk erretten von ihren Sünden“.
Das wird noch mehr herausgestellt durch die Prophezeiung Jesajas, die als
nächstes zitiert wird, und insbesondere durch die Anwendung jenes Namens, den
wir nur bei Matthäus finden:
„Emmanuel, … was übersetzt ist: Gott mit uns“ (V. 23).
Dieses ist also die Einleitung und in Wirklichkeit die große Grundlage von
allem. Das Geschlechtsverzeichnis ist ohne Zweifel insbesondere nach jüdischer
Art zusammengestellt. Doch seine Form dient schon als eine Bestätigung, und zwar
nicht nur für die jüdische Erwartung, sondern auch für jeden aufrichtigen
Menschen mit Verstand. Eine geistliche Gesinnung hat natürlich keine
Schwierigkeiten – schon allein deshalb, weil sie geistlich ist, denn sie
vertraut auf Gott. Es gibt nichts, was so summarisch einen Zweifel verbannt und
jede Frage des natürlichen Menschen zum Schweigen bringt wie die einfache und
glückliche Sicherheit, dass das, was Gott sagt, wahr und das einzig Richtige
ist. Es gibt keinen Zweifel, dass Gott nach seinem Wohlgefallen in diesem
Geschlechtsregister etwas getan hat, was die Menschen moderner Zeiten
kritisieren. In früheren Tagen erhob jedoch weder der finsterste noch
feindlichste Jude solche Einwände. Sicherlich waren es vor allem sie, die den
Charakter des Geschlechtsverzeichnisses des Herrn Jesus entlarvt hätten, wenn es
angreifbar gewesen wäre. Aber nein, das war den Nichtjuden vorbehalten. Sie
haben die beachtenswerte Entdeckung gemacht, dass es eine Auslassung gibt. Eine
Auslassung in solchen Listen ist durchaus in Übereinstimmung mit der
Verfahrensweise im Alten Testament. In solchen Geschlechtsverzeichnissen wurde
nur verlangt, dass angemessene Hinweise gegeben wurden, um die Abstammung klar
und unbestreitbar zu machen.
Nehmen wir zum Beispiel Esra! Wenn er sein Geschlechtsverzeichnis als Priester
gibt, dann werden nicht nur drei Vorfahren in Folge, sondern gleich sieben
weggelassen (vgl.
Esra 7,1–5 und
1. Chr 6,3–15). Zweifellos gab es einen besonderen Grund für diese
Weglassung. Aber wie auch immer die wahre Lösung für diese Schwierigkeit sein
mag – es ist klar, dass ein Priester, der sein Geschlechtsverzeichnis gibt, das
nicht in mangelhafter Weise tun würde. Für die priesterliche Nachfolge waren
solche Beweise unbedingt erforderlich. Darum würde jeder Mangel darin sein Recht
auf dieses geistliche Amt zerstören. Wenn also in einem solchen Fall rechtmäßig
eine Auslassung erlaubt war, dann doch wohl auch im Geschlechtsverzeichnis des
Herrn. Noch weniger ist der Einwand stichhaltig, wenn wir bedenken, dass diese
Auslassung sich nicht auf den Teil der Geschichte bezieht, worüber die Schrift
nichts sagt, sondern auf ihr Zentrum, sodass jedes Kind sofort die fehlenden
Glieder aufzählen konnte. Offensichtlich beruht die Auslassung daher nicht auf
Nachlässigkeit oder Unwissenheit, sondern auf Absicht. Ich zweifle nicht, dass
Gott auf diese Weise sein ernstes Urteil über die Verbindung mit Athalja, der
Frau Jorams, aus dem gottlosen Haus Ahabs ausdrücken wollte (vgl. V. 8 mit
2. Chr 22–26).
Ahasja, Joas und Amazja verschwinden; die Linie erscheint hier erst wieder mit
Ussija. Diese Generationen löschte Gott zusammen mit jener gottlosen Frau aus.
Es gab buchstäblich noch einen anderen Grund, der offen dasteht, welcher
forderte, dass gewisse Namen ausgelassen wurden. Der Geist Gottes wollte in
jedem dieser drei Abschnitte des Geschlechtsregisters des Messias – von Abraham
bis David, von David bis zur Gefangenschaft und von der Gefangenschaft bis
Christus – vierzehn Generationen geben. Nun ist es klar, dass dann, wenn es
tatsächlich mehr Glieder als diese vierzehn in einem Verzeichnis gab, einige
weggelassen werden mussten. Aber diese Weglassung
geschah, wie wir gerade gesehen haben, nicht wahllos, sondern mit großer
moralischer Bedeutung. Wenn es also notwendig war, dass der Geist Gottes sich
auf eine bestimmte Anzahl von Generationen beschränkte, dann gab es auch, wie
immer im Wort Gottes, einen göttlichen Grund für die Auswahl derer, die
weggelassen wurden.
Wir haben also in diesem Kapitel neben dem Geschlechtsverzeichnis die Person des
langerwarteten Sohnes Davids. Er wurde unanfechtbar, offiziell und vollständig
als der Messias eingeführt. Wir finden auch seine erhabeneren Herrlichkeiten,
und zwar nicht nur diejenigen, die Er annahm, sondern auch die, die Er in sich
selbst besaß. Man konnte Ihn zu Recht den
„Sohn Davids, den Sohn Abrahams“ nennen. Aber Er war – Er ist –
Jahwe-Emmanuel; und Er konnte niemand anderes sein. Wie ungeheuer
wichtig es für einen Juden war, dies zu glauben und zu bekennen, kann man nicht
oft genug sagen; es genügt jedoch, wenn ich es jetzt im Vorbeigehen erwähne.
Ganz offensichtlich drehte sich der jüdische Unglaube, auch da, wo das Kommen
eines Messias anerkannt wurde, um den Gedanken, dass sie nur einen Messias
erwarteten, der als der große König auftrat. Sie sahen keine höhere Herrlichkeit
als seinen messianischen Thron – nicht mehr als einen Sprössling, wenn auch
zweifellos von außerordentlicher Kraft, aus der Wurzel Davids. Schon hier am
Anfang stellt der Heilige Geist die göttliche und ewige Herrlichkeit
dessen heraus, der geruhte, Messias zu werden. Aber wenn Jahwe sich herabneigte,
der Messias zu werden und sich dazu von der Jungfrau gebären ließ, dann musste
es sicherlich noch würdigere Ziele geben, die unendlich höher waren als die an
sich erhabene Absicht, auf dem Thron Davids zu sitzen. Deshalb stürzte natürlich
die einfältige Wahrnehmung der Herrlichkeit seiner Person alle
Schlussfolgerungen des jüdischen Unglaubens um. Sie zeigt uns, dass Er, der eine
solch große Herrlichkeit besaß, nur ein Werk vollbringen konnte, das dieser
Herrlichkeit entsprach. Ja, Er, dessen persönliche Würde alle Zeiten und alle
Gedanken übertraf und der sich so herabließ, in die Stämme Israels als Sohn
Davids einzutreten, musste besondere Absichten in seinem Kommen haben und sollte
vor allem passend zu dieser Herrlichkeit sterben. Es ist klar, dass es von
größtmöglicher Bedeutung für Israel war, dies alles zu erfassen. Genau das
lernte der gläubige Israelit. Aber es war auch der Fels des Ärgernisses, über
den das ungläubige Israel fiel – und in Stücke zerschmettert wurde.
Das nächste Kapitel zeigt uns ein weiteres Kennzeichen dieses Evangeliums. Das
Ziel des ersten Kapitels bestand darin, uns Beweise von der wahren Herrlichkeit
und dem Wesen des Messias zu geben im Gegensatz zu jüdischen Einschränkungen und
ihrem Unglauben bezüglich seiner Person. Das zweite Kapitel zeigt uns die
Aufnahme, die der Messias seitens Jerusalems, des Königs und des Volkes im Land
Israel, verglichen mit den Weisen aus dem Osten, fand. Wenn Er wirklich vom
königlichen Samen Davids war, wenn seine Herrlichkeit jede menschliche
Abstammung weit übertraf – welch einen Platz fand Er dann tatsächlich in seinem
Land und bei seinem Volk? Sein Recht war unangreifbar. Welche Verhältnisse traf
Er an, als Er schließlich in Israel gefunden wurde? Von Anfang an ist die
Antwort: Er war der verworfene Messias. Er war verworfen, und zwar am
nachdrücklichsten von denen, deren Verantwortlichkeit vor allem darin bestand,
Ihn anzunehmen. Es waren nicht die Unwissenden; es waren nicht diejenigen, die
durch üppiges Wohlleben betäubt waren. Es war Jerusalem; es waren die
Schriftgelehrten und Pharisäer. Ja, selbst das ganze Volk war schon durch den
bloßen Gedanken an die Geburt des Messias bestürzt.
Was den Unglauben Israels so erschütternd herausstellte, war dies: Gott würde
ein angemessenes Zeugnis in Bezug auf einen solchen Messias geben. Und wenn die
Juden nicht dazu bereit waren, dann würde Er sogar von den Enden der Erde einige
Herzen versammeln, um Jesus – Jesus-Jahwe, den Messias Israels – zu begrüßen.
Folglich finden wir jene Heiden, die aus dem Osten heranzogen und von dem Stern
geleitet wurden, der zu ihren Herzen sprach. Schon immer war die Überlieferung
von dem allgemeinen Inhalt der Prophezeiung Balaams unter den orientalischen
Völkern, und nicht nur bei ihnen, lebendig, dass ein Stern erscheinen sollte –
ein Stern in Verbindung mit Jakob (4.
Mo 24,17). Ich zweifle nicht, dass es Gottes Güte war, ein solches
buchstäbliches Siegel zu dieser Prophetie zu geben, zusätzlich zu ihrer wahren
symbolischen Bedeutung. In seiner herablassenden Gnade würde Er Herzen leiten,
die von Ihm zubereitet waren, den Messias zu erwarten und von den Enden der Erde
zu kommen, um Ihn willkommen zu heißen. Und so geschah es. Die Weisen sahen den
Stern und machten sich auf, das Königreich des Messias zu suchen. Der Stern zog
nicht auf dem ganzen Weg vor ihnen her; er rüttelte sie auf und ließ sie
losziehen. Sie bemerkten das Himmelsphänomen, als sie nach dem Stern Jakobs
Ausschau hielten. Sie verknüpften – ich möchte sagen, instinktiv, wenn auch
gewiss durch die gute Hand Gottes – den neuen Stern mit der göttlichen
Verheißung. Aus ihrer weit entfernten Heimat machten sie sich auf nach
Jerusalem; denn selbst die allumfassenden Erwartungen der Menschen jener Zeit
wiesen auf diese Stadt hin. Aber als sie die Stadt erreichten – wo waren die
gläubigen Seelen, die den Messias erwarteten? Sie fanden rührige Geister, und
zwar nicht wenige, die ihnen genau sagen konnten, wo der Messias geboren werden
sollte; denn in dieser Angelegenheit sollten die Weisen vom Wort Gottes abhängig
sein. Nachdem sie Jerusalem erreicht hatten, sollten sie keine äußeren Zeichen
mehr leiten. Sie lernten, was die Schriften darüber sagten. Sie lernten es von
jenen, die sich weder um die Schriften noch um den, den sie betrafen, kümmerten,
sie aber nichtsdestoweniger dem Buchstaben nach mehr oder weniger kannten. Auf
der Straße nach Bethlehem erschien, zu ihrer außerordentlich großen Freude, der
Stern erneut und bestätigte, was sie gehört hatten. Zuletzt blieb er über dem
Haus stehen, wo das Kindlein war. Und hier in der Gegenwart von Vater und Mutter
bewiesen sie, wie sehr sie von Gott geleitet wurden; denn als Orientalen waren
sie es gewohnt, großartige Huldigungen darzubringen. Doch weder Vater noch
Mutter erhielten den geringsten Teil ihrer Huldigung. Alles war für Jesus
reserviert; alles wurde zu den Füßen des kindlichen Messias ausgegossen. Was für
eine vernichtende Zurechtweisung für die närrischen Menschen des Abendlandes!
Was für eine Lehre für die selbstzufriedene Christenheit in Ost und West durch
diese finsteren Heiden! Die Menschen in diesen stolzen Tagen mögen auf sie in
Hochmut herabblicken, aber ihre Herzen waren wahrhaftig in ihrer Schlichtheit.
Sie kamen nur um Jesus willen. Jesus brachten sie ihre Huldigung dar. Sie
entfalteten ihre Schätze und huldigten allein dem kleinen Kind. Mochten auch die
Eltern dabei stehen, mochten auch die natürlichen Empfindungen sie dazu
antreiben, dennoch traten sie nichts von ihrer Huldigung für das Kind an Vater
und Mutter ab.
Das ist umso bemerkenswerter, wenn wir bei Lukas denselben Jesus als kleines
Kind in den Armen eines betagten Mannes mit weit mehr göttlichem Verständnis
sehen, als sich diese Weisen aus dem Morgenland rühmen konnten (Lk
2). Wir wissen, was die Gegenwart eines Säuglings für Gefühle und
gottgemäße Wünsche erzeugt. Doch der bejahrte Simeon segnet es nicht. Nichts
wäre einfacher und natürlicher gewesen, hätte es sich hier nicht um einen
Säugling von ganz anderer Art gehandelt. Doch das Kind war, was es war, und
Simeon wusste es. Er sah in Ihm das Heil Gottes. Er konnte sich in Gott
erfreuen, er konnte Gott preisen, er konnte die Eltern segnen; aber er maßte
sich nicht an, das Kind zu segnen. Tatsächlich war es der Segen, den er von dem
Säugling empfangen hatte, der ihn befähigte, Gott zu preisen und die Eltern zu
segnen. Er segnete jedoch nicht das Kind, selbst wenn er die Eltern segnet. Gott
selbst war da, nämlich der Sohn des Höchsten; und seine Seele beugte sich vor
Gott. Wir haben hier bei Matthäus also die Orientalen, wie sie dem Kindlein
huldigen, aber nicht den Eltern; und wir haben in dem anderen Bericht, den
gesegneten Mann Gottes, der die Eltern, aber nicht den Säugling, segnet. Ist das
nicht ein treffendes Beispiel von den bemerkenswerten Unterschieden, die der
Heilige Geist vor Augen hatte, als Er diese Berichte vom Herrn Jesus verfasste?
Im Folgenden finden wir, wie den Weisen von Gott ein Wink gegeben wird, damit
sie auf einem anderen Weg wieder zurückzogen. Auf diese Weise wurde die Absicht
des verräterischen Herzens und grausamen Verstandes des edomitischen Königs
vereitelt, der dennoch zum Schlächter der Unschuldigen wird.
Als Nächstes kommt die bemerkenswerte Prophezeiung hinsichtlich des Christus, zu
der wir ein Wort sagen müssen, nämlich die Prophezeiung Hoseas. Unser Herr wird
aus dem Bereich des Sturmes nach Ägypten getragen. Das entsprach tatsächlich der
ganzen Geschichte seines Lebens. Es brachte Ihm beständig Leiden und war ein Weg
der Schmerzen und der Schande. In dem Herrn Jesus lag kein Heldentum, sondern
eher das Gegenteil. Nichtsdestoweniger war Er Gott, der seine Majestät
verhüllte. Er war Gott in der Person eines Menschen, in jenem Kind, das den
niedrigsten Platz in dieser stolzen Welt einnahm. Deshalb finden wir hier keine
Wolke, die Ihn verdeckte, keine Feuersäule, die Ihn schützte. Er beugte sich vor
dem Sturm und wich zurück. Er wurde von seinen Eltern nach Ägypten, jenem alten
Schmelzofen der Leiden seines Volkes, getragen. So musste unser Herr Jesus von
Anfang an, schon als kleines Kind, den Hass der Welt schmecken. Er musste schon
als Kind erfahren, was es heißt, vollständig gedemütigt zu werden. Die
Prophezeiung wurde also erfüllt, und zwar in ihrer tiefsten Bedeutung. Gott rief
nicht nur Israel aus Ägypten, sondern auch seinen Sohn. Er war der wahre Israel.
Jesus war der wahre Weinstock vor Gott (Ps
80,8). Er durchlief in eigener Person Israels Geschichte. Er ging nach
Ägypten und wurde von dort herausgerufen.
Als sie zur gegebenen Zeit nach dem Tod Herodes des Großen in das Land Israel
zurückkehren, erhalten, wie uns erzählt wird, seine Eltern eine göttliche
Weisung und wenden sich ab in die Gegenden Galiläas. Das ist eine weitere
wichtige Wahrheit; denn auf diese Weise wurde nicht nur die Prophezeiung eines
einzigen Propheten erfüllt, sondern aller.
„Damit erfüllt würde, was durch die Propheten geredet ist: ,Er wird Nazarener
genannt werden‘“ (V. 23).
Es war ein Name der Verachtung seitens der Menschen; denn Nazareth war die
verachtetste Stadt in dem verachteten Land Galiläa. Das war in der Vorsehung
Gottes der rechte Ort für Jesus. So erfüllte sich die allgemeine Stimme der
Propheten, die von Ihm zeugten als dem von den Menschen am meisten Verachteten
und Verworfenen. Und das war Er auch. Das galt sogar von dem Ort, in dem Er
lebte.
„Damit erfüllt würde, was durch die Propheten geredet ist: ,Er wird Nazarener
genannt
werden‘“.
Wir kommen jetzt zu der Botschaft Johannes des Täufers. Der Geist Gottes
überspringt mit uns eine lange Zeit, und wir hören die Stimme Johannes' in
seiner Predigt.
„Tut Buße, denn das Reich der Himmel ist nahe gekommen“ (V. 2).
Wir finden hier einen Begriff, den wir nicht übergehen dürfen, weil er von so
großer Bedeutung für das Verständnis des Matthäusevangeliums ist. Johannes der
Täufer predigte in der Wüste von Juda die Nähe dieses Königreiches. Es konnte
eindeutig aus der Prophetie des Alten Testamentes, insbesondere derjenigen
Daniels, entnommen werden, dass der Gott des Himmels ein Königreich aufrichten
würde. Und dieses Königreich sollte vom Sohn des Menschen verwaltet werden.
„Und ihm wurde Herrschaft und Herrlichkeit und Königtum gegeben, und alle
Völker, Völkerschaften und Sprachen dienten ihm; seine Herrschaft ist eine ewige
Herrschaft, die nicht vergehen wird, und sein Königtum ein solches, das nie
zerstört werden wird“ (Dan
7,14). Das war also das Reich der Himmel. Es war nicht bloß ein
Königreich auf der Erde; es bestand auch nicht im Himmel; es war der Himmel, wie
er für immer über die Erde herrscht.
Es scheint so, dass zur damaligen Zeit weder Johannes, obwohl er es predigte,
noch irgendjemand sonst wusste, welche Form das Reich durch die Verwerfung
Christi und seine Himmelfahrt annehmen sollte. In dieses Verständnis wurden die
Gläubigen erst später eingeführt. Unser Herr selbst stellt es erstmals in
Matthäus 13 besonders heraus. Ich verstehe also unter diesem Ausdruck
seitens Johannes das, was man richtigerweise aus den alttestamentlichen
Prophezeiungen entnehmen konnte. Und Johannes hatte zur damaligen Zeit keine
andere Vorstellung, als dass das Reich entsprechend den so entstandenen
Erwartungen eingeführt würde. Gläubige Israeliten hatten schon lange danach
ausgeschaut, dass die Erde nicht mehr sich selbst überlassen bliebe, sondern
durch den Himmel regiert würde. Sie erwarteten, dass der Sohn des Menschen die
Erde beherrschen und die Macht der Hölle aus ihr verbannen würde. Dann sollte
die Erde mit den Himmeln in Verbindung stehen. Die Himmel müssten dann natürlich
so verändert sein, dass sie die Erde direkt durch den Sohn des Menschen, der
außerdem der König des wiederhergestellten Israels ist, regieren können. Ich
denke, dass dies im Wesentlichen die Ansicht des Täufers war.
Doch er predigte Buße als geistliche Vorbereitung auf den Messias und das Reich
der Himmel, und nicht, wie im Lukasevangelium, in Hinsicht auf tiefere Dinge.
Das heißt, er rief die Menschen auf, ihren eigenen Ruin im Blick auf die
Einführung jenes Reiches zu bekennen. Folglich war sein eigenes Leben das
Zeugnis davon, was er moralisch in Bezug auf den damaligen Zustand Israels
empfand. Er zieht sich in die Wüste zurück und wendet auf sich die alte
Weissagung Jesajas an:
„Stimme eines Rufenden in der Wüste“ (V. 3).
Jetzt kam die Wirklichkeit; aber er sollte nur das Kommen des Königs ankündigen.
Ganz Jerusalem kam in Bewegung; und Volksmassen wurden von ihm im Jordan
getauft. Das gab ihm Gelegenheit, ein ernstes Urteil über ihren Zustand vor Gott
auszusprechen.
In der Mitte der Volksmenge, die zu ihm kam, war jedoch Jesus. Welch ein
Anblick! Sogar Er, Emmanuel, Jahwe, nahm als Messias jenen Platz der
Erniedrigung auf der Erde ein; denn alle Dinge waren aus dem Kurs geraten. Und
Er musste durch sein ganzes Leben, wie wir so nach und nach sehen werden,
aufzeigen, wie der Zustand seines Volkes war. Tatsächlich ist es nur ein
weiterer Schritt der gleichen unendlichen Gnade und, darüber hinaus, des
gleichen sittlichen Gerichts über Israel. Aber gleichzeitig wird ein sehr
lieblicher Zug hinzugefügt: Er verband sich mit allen in Israel, die ihren
Zustand in den Augen Gottes fühlten und anerkannten. Darüber sollte kein
Gläubiger leichtfertig hinweggehen. Wenn ein Gläubiger dieses nicht richtig
erkennt, dann versteht er die Schrift nur unvollkommen. Ja, ich glaube sogar, er
muss notwendigerweise die Wege Gottes schmerzlich missverstehen. Doch Jesus
blickte auf die, welche zu den Wassern des Jordan kamen, und sah, dass ihre
Herzen, wenn auch noch so wenig, von einem Gefühl ihres Zustands vor Gott
getroffen waren. Und sein Herz war wahrhaftig bei ihnen. Es ging jetzt noch
nicht darum, ein Volk aus Israel herauszunehmen und mit sich in Verbindung zu
bringen. Das werden wir später finden. Aber Er war der Heiland, der sich mit dem
Überrest, der gottgemäß empfand, eins machte. Wo immer es die geringste Wirkung
des Heiligen Geistes Gottes in Gnade in den Herzen Israels gab, damit verband Er
sich. Johannes erstaunte. Johannes der Täufer wollte Ihn zurückweisen.
„Denn“, sagte der Heiland,
„so gebührt es uns“, indem Er, wie ich annehme, den Johannes miteinbezog.
„Denn so gebührt es uns, alle Gerechtigkeit
zu erfüllen“ (V. 15).
Es geht hier nicht mehr um das Gesetz, dazu war es zu spät. Außerdem ist das
Gesetz für einen Sünder immer verderblich. Es geht um eine andere Art von
Gerechtigkeit. Wo auch nur im Geringsten die Wahrheit über Gott und den Menschen
gesehen wurde – und sei es auch nur ein Überrest unter den
Israeliten, die letztlich die Wahrheit über sich anerkannten
–war Jesus bei ihnen in dem Bekenntnis ihres Ruins, den Er vollkommen fühlte. Er
selbst hatte jenes Bekenntnis nicht nötig – nicht im Geringsten! Doch wenn das
Herz völlig frei ist und unendlich über dem Ruin steht, dann kann es am tiefsten
hinabsteigen und aus dem Herzen eines jeden das annehmen, was von Gott ist.
Jesus handelte immer so, und zwar öffentlich, indem Er sich mit dem verband, was
auf der Erde herrlich war (Ps
16,3). Er wurde im Jordan getauft – eine unverständliche Handlung für
alle, welche damals wie heute an seiner Herrlichkeit festhalten, aber sein Herz
der Gnade nicht verstehen. Was für peinliche Gefühle mochten da aufgestiegen
sein! Hatte Er etwas zu bekennen? Ohne einen einzigen Makel in sich selbst,
beugte Er sich hinab, um das zu bekennen, was in den anderen war. Er anerkannte
wie niemand sonst in all seinen Ausmaßen und in voller Wirklichkeit den Zustand
Israels vor Gott und Menschen. Er vereinigte sich mit denen, die ihn fühlten.
Sofort, als Antwort auf jedes unheilige Missverständnis, das
vielleicht entstehen konnte, öffnete sich der Himmel; und über Jesus wurde ein
zweifaches Zeugnis abgelegt. Die Stimme des Vaters verkündete das Verhältnis des
Sohnes zu Ihm und sein Wohlgefallen, während der Heilige Geist Ihn als einen
Menschen salbte. So gab Gott in seiner vollen Persönlichkeit eine Antwort an
alle jene, die sonst den Sohn oder seine Taufe geringschätzig behandelt hätten.
Der Herr Jesus ging dann weiter auf einen anderen Schauplatz, in die Wüste, um
vom Teufel versucht zu werden. Wir müssen dabei sehr beachten, dass dies erst
geschah, nachdem Er vom Vater öffentlich anerkannt und der Heilige Geist auf Ihn
herabgestiegen war. Ich möchte sagen, dass es meistens so ist. Wenn die Seelen
in dieser Weise gesegnet worden sind, dann kommen oft die Versuchungen Satans.
Die Gnade reizt den Feind. Wir können darüber natürlich nur in einem
eingeschränkten Maß von jemand anderem als Jesus sprechen. Doch es galt sogar
für Ihn, der voller Gnade und Wahrheit war und in
dem die Fülle der Gottheit wohnte. Der
Grundsatz gilt allerdings für einen jeden. Er wurde vom Geist in die Wüste
geführt, um dort vom Teufel versucht zu werden. Der Heilige Geist gibt uns die
Versuchungen im Matthäusevangelium in der Reihenfolge, in der sie geschahen.
Aber auch hier geht es Ihm nicht, wenn wir nach der Absicht fragen, um den
historischen Gesichtspunkt, sondern um den Aspekt der Haushaltungen, auch wenn
hier zufällig die richtige Reihenfolge gewahrt bleibt. Und ich halte fest, indem
ich dies im Auge behalte, dass der Herr nur nach der letzten Versuchung sagt:
„Geh hinweg, Satan!“ (V. 10).
Wir werden bald sehen, warum diese Worte im Lukasevangelium verschwinden. Wir
finden hierin eine Lektion über Weisheit und Geduld selbst vor dem Feind – die
vortreffliche, unvergleichliche Gnade der Geduld in der Prüfung. Denn was lag
näher, als anzunehmen, dass es die ganze Zeit Satan war? Aber trotzdem war unser
Heiland darin so vollkommen, dass Er erst das Wort „Satan“ äußerte, nachdem die
letzte, kühne und schamlose Anstrengung gemacht wurde, Ihn dazu zu verleiten,
dem Bösen die Anbetung Gottes zu bringen. Erst dann sagte unser Herr:
„Geh hinweg, Satan!“
Wir werden uns, wenn der Herr will, etwas mehr mit der inneren sittlichen
Bedeutung der drei Versuchungen beschäftigen, wenn wir das Lukasevangelium
betrachten. Ich begnüge mich jetzt damit aufzuzeigen, aus welchem Grund meiner
Ansicht nach der Geist Gottes an der richtigen Reihenfolge der Versuchungen
festhält. Trotzdem muss ich eindringlich darauf hinweisen, dass gerade das
Abweichen von einer Reihenfolge auf die ordnende Hand Gottes zeigt, und zwar aus
einem ganz einfachen Grund: Wenn jemand Tatsachen in menschlicher Weise kennt,
dann ist nichts natürlicher, als diese in der Reihenfolge ihres Geschehens
niederzulegen. Niemand würde daran denken, von einer historischen Reihenfolge
abzuweichen, insbesondere wenn er vorher schon die richtige Reihenfolge
aufgeschrieben hat, es sei denn, er hätte dafür schwerwiegende Gründe. Doch das
ist nichts Ungewöhnliches. Es gibt Fälle, wo ein Autor notwendigerweise von der
bloßen Folge der Ereignisse abweichen muss. Angenommen man beschreibt einen
bestimmten Charakter. Dann trägt man aus seinem ganzen Leben treffende
Charakterzüge zusammen. Man beschränkt sich nicht auf die bloßen Daten der
Ereignisse. Falls man jedoch nur die Chronik der Begebenheiten eines Jahres
schreibt, dann folgt man der Reihenfolge, in der die Ereignisse geschahen. Doch
wenn man sich der höheren Aufgabe widmet, moralische Besonderheiten
herauszustellen, dann ist man häufig gezwungen, die Reihenfolge, in der die
Ereignisse abliefen, zu verlassen.
Genau das ist auch der Grund, warum von Lukas diese Veränderung vorgenommen
wurde; denn er ist, wie wir sehen werden, wenn wir zu seinem Evangelium kommen,
der Moralist. Das heißt, Lukas sieht die Dinge kennzeichnenderweise in Hinsicht
auf ihre Quellen und ihre Auswirkungen. Es ist nicht seine Aufgabe,
eingehend die Person Christi zu betrachten, d. h. Seine göttliche Herrlichkeit.
Er beschäftigt sich auch nicht mit dem Zeugnis oder dem Dienst Jesu hienieden,
was, wie wir alle wissen, Markus herausstellt. Es stimmt auch nicht, dass
Matthäus bei Gelegenheit die Ereignisse in der richtigen zeitlichen Reihenfolge
gibt, weil er immer so handelt. Im Gegenteil, keiner von den Schreibern der
Evangelien weicht, wenn sein Gegenstand es verlangt, so oft von dieser Ordnung
ab. Ich hoffe, dass ich es denen, die sich überzeugen wollen, genügend beweisen
kann, bevor wir mit diesem Evangelium zu Ende sind. Wenn es aber so ist, dann
muss es auch einen Schlüssel zu diesen Phänomenen geben. Dann müssen Gründe
vorliegen, die ausreichend erklären, warum Matthäus einmal an der Reihenfolge
festhält und ein anderes Mal nicht.
Ich denke, der Grund dafür ist folgender: Zunächst gibt Gott durch einen der
Evangelisten (Markus) die genaue historische
Reihenfolge des ereignisreichen Dienstes unseres Herrn. Das
hätte jedoch bei weitem nicht ausgereicht, uns Christus zu offenbaren. Deshalb
mussten uns außer der Reihenfolge, welche grundlegend und an ihrem Platz wichtig
ist, andere Darstellungen seines Lebens gegeben werden. Das geschah entsprechend
verschiedener geistlicher Gesichtspunkte, wie es die göttliche Weisheit für
angemessen hielt und wie sogar wir es nach unserem Maß des Verständnisses
würdigen können. Deshalb denke ich, dass bestimmte Erwägungen dieser Art dafür
verantwortlich sind, wie Matthäus geleitet wurde. Er sollte uns die große
Lektion vorstellen, dass unser Herr die ganze Versuchungszeit, und zwar nicht
bloß die vierzig Tage, sondern auch die Versuchungen, die sie am Ende krönten,
durchlebt hatte. Er sollte zeigen, dass seine Seele, erst als ein offener Schlag
gegen die göttliche Herrlichkeit geführt wurde, diesen sofort mit den Worten
„Geh hinweg, Satan!“ zurückwies. Im Gegensatz dazu lässt Lukas, der
aus einem guten und von Gott gegebenem Grund die Reihenfolge ändert,
notwendigerweise diese Worte aus. (…)
Er liefert damit eine sehr eingängige Illustration von der Handlungsweise des
Heiligen Geistes bei der Inspiration. Der Grund für die Auslassung liegt darin,
dass die letzte Versuchung den zweiten Platz bei Lukas einnimmt. Wenn die Worte
eingefügt worden wären, dann sähe es so aus, als hätte Satan seine Stellung
behalten und seine Versuchungen erneuert, nachdem der Herr ihn weggeschickt
hatte. (...)
An einem späteren Tag, als sein Jünger Petrus, von Satan verführt, auf
menschliche Gedanken verfiel und seinen Meister vom Kreuz abhalten wollte, sagte
Er:
„Geh hinter mich, Satan!“ (Mt
16,23). Denn unser Herr wollte sicherlich nicht, dass Petrus von Ihm
weg und verloren gehe, was das Ergebnis gewesen wäre. Er sagte nicht: „Geh
hinweg!“, sondern
„Geh hinter mich!“ Er tadelte seinen Jünger, ja, Er schämte sich
seiner, und wollte, dass auch Petrus sich schämte.
„Geh hinter mich, Satan!“, waren die damals angemessenen Worte. Satan war
die Quelle der Gedanken, die sich in den Worten des Petrus ausdrückten. Aber als
Jesus zu dem sprach, dessen letzte Versuchung völlig den Widersacher Gottes und
des Menschen offenbarte, das heißt, Satan selbst, da war seine Antwort nicht
nur: „Geh hinter mich!“, sondern
„Geh hinweg, Satan!“ (...)
Der Grund dafür, warum diese Worte –
„Geh hinweg, Satan!“ – im Lukasevangelium nicht gebracht werden, liegt
darin, dass Lukas mit unvergleichlicher Weisheit von Gott inspiriert war, die
zweite Versuchung als letzte und die letzte Versuchung als zweite zu geben. Da
diese Worte bei der dritten Versuchung in eine solche Umstellung der Reihenfolge
absolut nicht passen, werden sie von Lukas weggelassen, während Matthäus, der
hier die Reihenfolge einhält, sie gibt. Ich halte mich hierbei besonders auf,
weil es in einer einfachen, doch treffenden Weise den Finger und die Gedanken
Gottes zeigt. Es zeigt uns aber auch, dass die Abschreiber der Schriften in
Irrtum verfallen können, wenn sie dem Grundsatz der Harmonisten folgen. Ihre
große Idee besteht darin, aus allen vier Evangelien ein einziges zu machen [d.
h. eine Evangelienharmonie; Übs.]. Das bedeutet jedoch, dass man sie zu einer
einzigen Masse verschmilzt, so dass am Ende nur noch eine einzige Stimme zum
Preise Jesu übrigbleibt. Bitte, nicht so! Wir haben vier verschiedene Stimmen,
die sich zur vollsten Harmonie vereinigen; und in jeder und in allen zusammen
hören wir Gott. Dabei werden völlig, aber in unterschiedlicher Weise die
Herrlichkeiten seines Sohnes ausgebreitet. Die Neigung, diese Unterschiede
auszugleichen, hat soviel Unheil, nicht nur über die Abschreiber, sondern auch
über unser eigenes unsorgfältiges Lesen der Evangelien gebracht. Wir haben
nötig, alles aufzusammeln, denn alles ist wertvoll. Wir sollten uns an jedem
Gedanken, den der Geist Gottes für uns aufgehäuft hat – sozusagen jedem
Wohlgeruch, den Er uns von den Wegen Jesu bewahrt hat – erfreuen!
Wir verlassen jetzt die Beschäftigung mit den Versuchungen, die wir unter einem
anderen Gesichtspunkt wieder aufnehmen wollen, wenn das Lukasevangelium vor uns
steht. Dann wollen wir uns mit den verschiedenen Versuchungen und ihrer
geänderten Reihenfolge in moralischer Hinsicht beschäftigen. Im
Matthäusevangelium begegnet uns jetzt ein charakteristischer Unterschied. Unser
Herr betritt den Weg seines öffentlichen Dienstes als ein Diener der
Beschneidung und beruft Jünger zur Nachfolge. Wie wir aus dem Johannesevangelium
entnehmen, war es nicht seine erste Begegnung mit Simon, Andreas und den
übrigen. Sie hatten schon vorher Bekanntschaft mit Ihm gemacht, und zwar, wie
ich fest annehme, als ihrem Erretter. Sie werden jetzt zu seinen Begleitern in
Israel berufen, indem Er sie nach seinem Herzen als seine Diener hienieden
formt. Doch vorher wird noch eine bemerkenswerte Schriftstelle auf unseren Herrn
angewandt. Er wechselt seinen Wohnsitz von Nazareth nach Kapernaum. Und das
fällt umso mehr auf, weil im Lukasevangelium die Eröffnung seines Dienstes
ausdrücklich in Nazareth geschah. Dagegen wird von Matthäus nachdrücklich
betont, dass Er Nazareth verlässt, nach Kapernaum kommt und dort wohnt.
Natürlich sind beide Angaben in gleicher Weise richtig. Aber wer kann sagen,
dass es sich um dieselben Ereignisse handelt oder dass der Geist Gottes nicht
seine gesegneten Gründe hat, indem Er beide Ereignisse hervorhebt? Der Grund
dafür ist keineswegs dunkel. Sein Umzug nach Kapernaum war die Erfüllung des
Wortes in
Jesaja 9, das insbesondere zur Belehrung der Juden erwähnt wird. Auf
diese Weise wurde erfüllt,
„damit erfüllt würde, was durch den Propheten Jesaja geredet ist, der spricht:
„Land Sebulon und Land Naphtali, gegen den See hin, jenseits des Jordan, Galiläa
der Nationen: Das Volk, das in Finsternis sitzt, hat ein großes Licht gesehen,
und denen, die im Land und im Schatten des Todes sitzen – Licht ist ihnen
aufgegangen‘“ (V. 14–16).
Jener Teil des Landes wurde als Schauplatz der Finsternis angesehen; es war
jedoch gerade dort, wo Gott plötzlich ein Licht aufgehen ließ. Nazareth war in
Nieder- und Kapernaum in Obergaliläa. Aber darüber hinaus war diese Gegend, mehr
als jede andere im Land, ein Wohnsitz der Heiden – Galiläa (d.i. Kreis,
Landstrich) der Nationen. Nun finden wir überall in diesem Evangelium eine
Wahrheit, die man an dieser Stelle gut vorstellen kann und die in anderen
Schriftabschnitten vollauf bestätigt wird. Denn der Gegenstand unseres
Evangeliums besteht nicht nur darin zu beweisen, was der Messias für Israel
sowohl dem Fleisch als auch seiner inneren göttlichen Herrlichkeit nach war. Es
zeigt auch, was die Folgen seiner Verwerfung durch Israel für die Nationen
bedeuten würde, und zwar unter zwei Gesichtspunkten: Zum einen sollte das Reich
der Himmel in einer neuen Form eingeführt werden, zum anderen gab sie Christus
die Gelegenheit, seine Versammlung (Kirche) zu bauen. Das waren die beiden
Hauptfolgen der Verwerfung des Messias durch Israel.
Wir sahen in Kapitel 2, wie Heiden aus dem Osten kamen, um den neugeborenen
König der Juden anzuerkennen, während sein Volk unter Knechtschaft und
rabbinischer Überlieferung und außerdem herzloser Unaufmerksamkeit begraben lag
– aber sich dabei seiner Vorrechte rühmte. Genauso finden wir hier, dass unser
Herr am Anfang seines öffentlichen Dienstes, wie er uns im Matthäusevangelium
berichtet wird, seinen Wohnsitz in diesen verachteten Gegenden des Nordens nahm.
Auf das Land gegen den See hin, wo insbesondere Heiden lange Zeit gewohnt
hatten, blickten die Juden als einen wilden und finsteren Ort, fern von dem
Zentrum der religiösen Heiligkeit, herab. Dort sollte nach der Prophetie ein
Licht aufgehen. Und wie strahlend wurde sie erfüllt! Als nächstes finden wir,
wie schon erwähnt, die Berufung der Jünger. Am Ende des Kapitels steht eine
allgemeine Zusammenfassung vom Dienst des Messias und seiner Wirkung in
folgenden Worten:
„Und [Jesus] zog in ganz Galiläa umher, lehrte in ihren Synagogen und predigte
das Evangelium des Reiches und heilte jede Krankheit und jedes Gebrechen unter
dem Volk. Und die Kunde von ihm ging aus nach ganz Syrien; und sie brachten zu
ihm alle Leidenden, die von mancherlei Krankheiten und Qualen geplagt waren, und
Besessene und Mondsüchtige und Gelähmte; und er heilte sie. Und es folgten ihm
große
Volksmengen von Galiläa und der Dekapolis und Jerusalem und Judäa und von
jenseits des Jordan“ (V. 23–25).
Diese Verse lese ich vor, um zu zeigen, dass die Absicht des Geistes in diesem
Teil unseres Evangeliums darin besteht, eine große Anzahl von Begebenheiten
zusammenzufassen, ohne im Geringsten die Frage der Zeit zu berücksichtigen. Es
ist klar, dass das, was hier in wenigen Versen beschrieben ist, zu seiner
Ausführung einige Zeit erfordert hat. Der Heilige Geist gibt alles als ein
zusammengefasstes Ganzes.
Fußnoten
Das gleiche gilt auch für die so genannte Bergpredigt, über die ich jetzt einige
Worte sagen möchte. Es ist ein totales Missverständnis, wenn wir annehmen, dass
Matthäus 5 bis 7 in einer einzigen, ununterbrochenen Predigt gebracht
worden ist. Es waren bestimmt die weisesten Absichten, die den Heiligen Geist
veranlassten, diese Predigt ohne Erwähnung von Unterbrechungen, Anlässen usw.
zusammenzustellen und uns mitzuteilen. Aber es ist eine nicht zu verantwortende
Schlussfolgerung, daraus zu entnehmen, dass unser Herr Jesus sie einfach so, wie
sie im Matthäusevangelium steht, gehalten hat. Der Beweis dafür liegt darin,
dass wir im Lukasevangelium gewisse Teile, die eindeutig zu dieser Predigt
gehören, mit den besonderen Umständen, die ihre Verkündigung veranlassten,
finden. Damit meine ich nicht ähnliche oder gleiche Wahrheiten, die zu einer
anderen Zeit gepredigt worden waren, sondern dieselbe Predigt. Nehmen wir als
Beispiel das Gebet, das hier den Jüngern vorgestellt wird (Mt
6). Diesbezüglich finden wir in
Lukas 11, dass eine Bitte der Jünger zu seinem Ausspruch führte. Auch in
Hinsicht auf andere Belehrungen, die Lukas sowie Matthäus und manchmal auch
Markus gemeinsam bringen, waren es oft Ereignisse und Fragen, wie Lukas
schreibt, welche die Bemerkungen des Herrn hervorriefen.
Nehmen wir also für gewiss an, dass der Heilige Geist mit Absicht durch Matthäus
diese und andere Predigten als Ganzes gibt, indem Er die Anlässe dazu, die wir
anderswo finden, weglässt. Dann ist es eine schöne und interessante
Untersuchung, festzustellen, warum Er eine solche Methode des Zusammenstellens
und Weglassens verwendet. Ich denke, die Antwort lautet so: Der Geist Gottes
liebt es, durch Matthäus, Christus als einen Mann wie Mose, auf den das Volk
hören sollte, vorzustellen (5.
Mo 18,18). Er präsentiert Jesus nicht nur als einen gesetzgebenden
Propheten-König wie Mose, sondern als einen weit Größeren. Denn es wird niemals
vergessen, dass der Nazarener der Herr-Gott ist. Deshalb hören wir in dieser
Bergpredigt überall den Ton einer Person, die sich bewusst war, dass sie als
Gott unter den Menschen weilte. Wenn Jahwe Mose auf die Spitze des einen Berges
rief, dann saß der, der damals die zehn Gebote aussprach, jetzt auf einem
anderen Berg und lehrte seine Jünger den Charakter des Reiches der Himmel. Die
Grundsätze dieses Reiches werden als ein Ganzes eingeführt, indem sie, wie wir
gesehen haben, auf die Wirksamkeit seines Dienstes und dessen Folgen eingehen,
ohne die Unterbrechungen oder Zusammenhänge zu berücksichtigen. So wie wir seine
Wunder sozusagen alle in einen Abschnitt zusammengefasst finden, so ist es hier
mit seinen Predigten. Wir sehen also in beiden Fällen den gleichen Grundsatz.
Die wesentliche Wahrheit wird uns, ohne die unmittelbaren Anlässe, wie
Ereignisse, Bitten usw., zu beachten, vorgestellt. Nach Matthäus wird also das,
was der Herr geredet hat, als ein Ganzes gegeben. Dadurch wirkt die Predigt,
weil sie nicht unterbrochen wird, umso ernster und majestätischer. Der Geist
Gottes drückt hier absichtlich diesen Charakter auf die Rede des Herrn zur, wie
ich nicht bezweifle, besonderen Belehrung seines Volkes. Kurz gesagt, erfüllt
der Herr hier einen Teil seiner Mission nach
Jesaja 53,11, wo sein Werk als ein zweifaches geschildert wird. (...)
In der Belehrung auf dem Berg unterweist Er tatsächlich die Jünger in
Gerechtigkeit. Das ist auch ein Grund dafür, warum wir hier kein Wort von der
Erlösung hören. Wir finden nicht die kleinste Andeutung seines Leidens am Kreuz,
keinen Hinweis auf sein Blut, seinen Tod oder seine Auferstehung. Er belehrt
aber nicht bloß über Gerechtigkeit. Den Erben des Reiches entfaltet der Herr die
Grundsätze des Reiches. Es sind gesegnete und reichhaltige Belehrungen, doch
solche in Gerechtigkeit. Ohne Zweifel finden wir hier auch, soweit es damals
möglich war, die Vorstellung des Vaternamens. Doch alles geschieht in Form einer
Unterweisung in Gerechtigkeit. (...)
Auf die Einzelheiten der Bergpredigt kann ich jetzt nicht im Besonderen
eingehen; aber ich möchte noch einige wenige
Worte dazu sagen, bevor ich heute Abend
schließe. Ihre Einleitung offenbart eine Methode, die häufig vom Geist Gottes
verwendet wird, und unseres Studiums wert ist. Jedes Kind Gottes kann selbst
durch einen flüchtigen Blick darauf Segen empfangen. Wenn wir uns jedoch damit
etwas eingehender beschäftigen, wächst die Belehrung gewaltig. Zunächst nennt
Jesus gewisse Menschengruppen glückselig. Diese Glückseligkeiten sind in zwei
Klassen aufgeteilt. Die erste betrifft die Gerechtigkeit, die zweite die
Barmherzigkeit. Das sind auch die beiden großen Gegenstände der Psalmen, die
beide hier aufgegriffen werden.
„Glückselig die Armen im Geist, denn ihrer ist das Reich der Himmel. Glückselig
die Trauernden, denn sie werden getröstet werden. Glückselig die Sanftmütigen,
denn sie werden das Land erben. Glückselig, die nach der Gerechtigkeit hungern
und dürsten, denn sie werden gesättigt werden“ (V. 3–6).
Im vierten Fall wird die Gerechtigkeit ausdrücklich erwähnt und schließt diesen
Teil des Gegenstandes. Doch es ist klar genug, dass alle diese vier Gruppen im
Wesentlichen aus Menschen bestehen, die der Herr deshalb glückselig nennt, weil
sie in der einen oder anderen Form gerecht sind. Die nächsten drei Gruppen sind
auf die Barmherzigkeit gegründet. Deshalb lesen wir gleich bei der ersten:
„Glückselig die Barmherzigen, denn ihnen wird Barmherzigkeit zuteil werden.
Glückselig, die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott sehen. Glückselig die
Friedensstifter, denn sie werden Söhne Gottes heißen“ (V. 7–9).
Es ist natürlich unmöglich, jetzt mehr als eine kleine Skizze zu versuchen. Hier
tritt also die gewöhnliche Zahl in all diesen systematischen Teilen der Schrift
auf; wir finden die übliche und komplette Zahl Sieben der Bibel. Die beiden
zusätzlichen Seligpreisungen am Ende bestätigen dies, obwohl sie auf den ersten
Blick in Widerspruch dazu stehen. Aber es ist nicht so. Der scheinbare
Widerspruch liefert einen überzeugenden Beweis der Regel. Denn in Vers 10 finden
wir:
„Glückselig die um der Gerechtigkeit willen Verfolgten“ (V. 10);
dies entspricht den ersten vier Selig-preisungen. Dann folgt in den Versen 11
und 12:
„Glückselig seid ihr … um
meinetwillen“, welches der höheren Barmherzigkeit der letzten drei
entspricht.
„Glückselig seid ihr [hier ist ein Wechsel, denn es steht eine
persönliche Anrede],
wenn sie euch schmähen und verfolgen und alles Böse lügnerisch gegen euch reden
werden um meinetwillen“ (V. 11).
Das ist die höchste Vollendung der leidenden Gnade, denn es geschieht um Christi
willen.
Die zweifache Verfolgung der Verse 10–12 stimmt mit ihrem doppelten Charakter in
den Briefen überein, nämlich dem Leiden um der Gerechtigkeit willen und dem
Leiden um Christi willen. Das sind zwei ganz verschiedene Dinge; denn bei der
Frage der Gerechtigkeit ist nur eine einzige Person betroffen. Wenn ich hier
nicht standhaft bin und leide, wird mein Gewissen befleckt. Das ist jedoch
kein Leiden um Christi willen. Kurz gesagt, wo es sich um eine Frage der
Gerechtigkeit handelt, ist das Gewissen betroffen; wo allerdings um
Christi willen gelitten wird, handelt es sich nicht um offenbare Sünde, sondern
um seine Gnade und ihre Anrechte auf mein Herz. Wenn ich nach seiner Wahrheit
und nach seiner Herrlichkeit verlange, dann betrete ich einen Pfad, der mich
Leiden aussetzt. Ich kann auch einfach meine Pflicht an dem Platz erfüllen, auf
den ich gestellt bin; aber die Gnade ist nie damit zufrieden, eine bloße Pflicht
zu erfüllen. Ich gebe völlig zu, dass nichts so geeignet ist, eine Pflicht zu
erfüllen, wie die Gnade; und das Erfüllen der Pflicht ist gut für einen
Christen. Doch Gott verhüte, dass wir uns nur auf die Pflicht beschränken und
nicht frei sind für ein Überfließen der Gnade, welche das Herz mitreißt! Im
ersten Fall versagt der Gläubige; wenn er nicht widersteht, dann ist das
Sünde. Im zweiten Fall fehlt das Zeugnis für Christus. Die Gnade erfüllt
uns dann mit Freude, wenn wir gewürdigt werden, um seines Namens willen zu
leiden. Die Gerechtigkeit ist jedoch nicht betroffen.
Das sind also die beiden unterschiedlichen Klassen oder Gruppen von
Glückseligkeiten. Zuerst haben wir die Glückseligkeit der Gerechtigkeit, zu der
das Leiden um der Gerechtigkeit willen gehört, danach die Glückseligkeit der
Barmherzigkeit oder Gnade. Christus unterweist entsprechend der Prophetie in
Gerechtigkeit; aber Er beschränkt sich nicht darauf. Eine solche Einschränkung
konnte nie mit der Herrlichkeit seiner Person zusammenpassen. Deshalb finden wir
hier neben der Lehre der Gerechtigkeit die Einführung dessen, was sie übertrifft
und stärker ist, und die zugehörige Glückseligkeit der Verfolgung um Christi
willen. Dann ist alles Gnade; und das zeigt einen ganz offensichtlichen
Fortschritt an.
Das gleiche gilt auch für das Folgende.
„Ihr seid das Salz der Erde“ (V. 13),
das heißt das, was das Reine rein erhält. Salz teilt dem, was unrein ist, keine
Reinheit mit; doch es wird wie die Gerechtigkeit als bewahrende Kraft verwendet.
Aber Licht ist anders. Deshalb hören wir in Vers 14:
„Ihr seid das Licht der Welt.“ Licht bewahrt nicht einfach das, was gut ist,
sondern es ist eine aktive Kraft, welche ihren hellen Schein in das Dunkle wirft
und die Dunkelheit vor sich austreibt. Es ist also klar, dass der Herr in diesen
weiteren Worten, die Fragen, auf die wir schon eingegangen sind, beantwortet.
Wir finden vieles von tiefster Bedeutung in dieser Predigt; wir haben jedoch
jetzt nicht die Gelegenheit, in die Einzelheiten zu gehen. Es wird, wie üblich,
die Gerechtigkeit entsprechend der Person Christi entwickelt, welche sich mit
der Bosheit des Menschen unter den Häuptern Gewalttat und Verdorbenheit
beschäftigt. Danach folgen andere, neue Grundsätze der Gnade, die viel höher
sind als das, was unter dem Gesetz gegeben wurde. So verrät in einem frühen Vers
(V. 22) sozusagen ein einziges Wort den Durst nach Blut; gleichzeitig zeigt sich
die Verdorbenheit in einem Blick oder einer Begierde. Denn es werden nicht
länger nur die Taten beurteilt, sondern auch der Zustand der Seele. Das
behandelt das fünfte Kapitel. Wenn in den frühen Versen 17 und 18 das Gesetz in
all seiner Autorität völlig aufrecht erhalten wird, so haben wir später (V.
21–48) die höheren Grundsätze der Gnade und tiefere Wahrheiten, die
hauptsächlich darauf beruhen, dass der Name des Vaters – des Vaters, der im
Himmel ist – offenbart wird. Infolgedessen handelt es sich nicht mehr nur um
eine Frage zwischen Mensch und Mensch, sondern um den Teufel auf der einen und
Gott auf der anderen Seite. Dabei enthüllt und beweist Gott als Vater den
selbstsüchtigen Zustand des gefallenen Menschen auf der Erde.
Das zweite dieser
Kapitel (Kap. 6.), aus denen die Predigt besteht, enthält zwei Teile. Der
erste betrifft wieder die Gerechtigkeit.
„Habt aber Acht“, sagt der Herr,
„dass ihr eure Gerechtigkeit nicht vor den Menschen übt“ (V. 1).
Hier muss
„Gerechtigkeit“ stehen und nicht „Almosen“, wie man in der Fußnote
sieht. Danach teilt sich die Gerechtigkeit, von der hier gesprochen wird, in
drei Zweige. Das Geben von Almosen ist einer von ihnen, das Beten ein zweiter
und das Fasten ein dritter, den man nicht gering schätzen sollte. Das macht
unsere Gerechtigkeit aus. Der wesentliche Punkt liegt darin, dass wir damit
nicht protzen sollen; denn unser Vater sieht im Verborgenen. Letzteres ist eines
der hervorstechendsten Kennzeichen des Christentums. Der letzte Teil des
Kapitels zeigt das völlige Vertrauen auf die Güte unseres Vaters zu uns, indem
wir mit seiner Barmherzigkeit rechnen. Wir sind sicher, dass wir in seinen Augen
von unendlichem Wert sind und dass wir deshalb nicht sorgenvoll wie die aus den
Nationen zu sein brauchen, weil unser Vater weiß, was wir bedürfen. Für uns
genügt es, das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit zu suchen; die Liebe unseres
Vaters sorgt für den Rest.
Das
7. Kapitel vermittelt uns die Beweggründe des Herzens in unserem Umgang mit
den Menschen und Geschwistern sowie mit Gott, welcher, obwohl Er gut ist, es
liebt, wenn wir Ihn bei jeder Not ernstlich bitten. Außerdem finden wir
Hinweise darauf, dass wir überlegen sollen, was wir den anderen Menschen
schuldig sind. Zudem benötigen wir besondere Energie, denn die Pforte ist eng
und der Weg schmal, die zum Leben führen. Dann sollen wir uns hüten vor dem
Teufel und den Einflüsterungen seiner Agenten, der falschen Propheten, die sich
durch ihre Früchte verraten. Zuletzt folgt der wichtige Hinweis, dass es nicht
auf Wissen oder sogar wunderbare Kräfte ankommt, sondern darauf, den Willen
Gottes zu tun aus einem gehorsamen Herzen heraus, das den Worten Christi folgt.
Wenn ich mich nicht täusche, folgen auch hier wieder Gnade und Gerechtigkeit
abwechselnd. Denn die Ermahnung gegen einen richterlichen Geist gründet auf die
mit Bestimmtheit folgende Vergeltung durch andere und ebnet den Weg für einen
dringenden Aufruf zum Selbstgericht, welches jeder echten Ausübung der Gnade
vorausgeht (V. 1–5). Außerdem folgen auf die Warnung vor einer Verschwendung des
Heiligen und Schönen an die Gottlosen reiche und wiederholte Ermunterungen, auf
unseres Vaters Gnade zu zählen (V. 6–11).
Hier muss ich zunächst einmal schließen, obwohl ich zutiefst bedaure, dass ich
nur so flüchtig über den Text hinweggehen konnte. Dennoch versuchte ich in
diesem ersten Vortrag, so einfach, aber doch vollständig wie möglich, nach
meinem Vermögen einen Blick auf diesen Teil des Matthäusevangeliums zu werfen.
Ich bin mir völlig bewusst, dass nicht viel Zeit vorhanden war, um es mit
anderen Evangelien zu vergleichen. Ich hoffe jedoch, dass sich die Gelegenheiten
ergeben werden, um die unterschiedlichen Aspekte der verschiedenen Evangelien
eingehend einander gegenüberzustellen. Mein Ziel ist allerdings auch, dass unser
Herr, seine Person, seine Lehren und seine Wege in jedem Evangelium vor die
Augen unserer Herzen treten.
Ich bitte den Herrn, dass das, was zwar nur flüchtig den Seelen dargeboten
wurde, doch ein Forschen seitens der Kinder Gottes hervorrufen möge und sie dazu
führt, völlig und absolut auf das Wort seiner Gnade zu vertrauen. Dann können
wir tiefen Segen erwarten. Denn dieses Betrachten der Evangelien hat allein die
Gnade Gottes zur Grundlage und wird uns nicht ohne Segen lassen. Aber ich bin
überzeugt, dass, nachdem die Gnade Christi uns angezogen hat, der Segen in jeder
Hinsicht noch größer ist, wenn wir zusätzlich in aller Einfalt und Sicherheit
kraft des vollbrachten Werkes der Erlösung in Ihm gegründet werden. Dann, wenn
wir in unseren Seelen frei geworden und zur Ruhe gekommen sind, kehren wir zu
Ihm zurück, um von Ihm zu lernen, Ihn anzuschauen, Ihm zu folgen, seine Worte zu
hören und uns an seinen Wegen zu erfreuen. Der Herr gebe, dass es so geschehe,
wenn wir unseren Weg durch die verschiedenen Evangelien, die unser Gott uns
geschenkt hat, verfolgen!
Fußnoten
Matthäus 8, welches den heutigen Abschnitt eröffnet, ist eine treffende
Illustration und ein Beweis von der Methode, die Gott anwandte, als Er uns den
Bericht von unserem Herrn Jesus durch den Apostel Matthäus gab. Die Absicht, uns
den Wechsel der Haushaltung zu zeigen, führte dazu, die Umstände der Zeit hier
viel mehr zu vernachlässigen als in irgendeinem anderen Evangelium. Das muss
umso mehr beachtet werden, weil im Allgemeinen das Matthäusevangelium als
Standard der zeitlichen Reihenfolge gilt, außer bei denen, die diese Aufgabe dem
Lukasevangelium zuweisen. Nach einem sorgfältigen Vergleich aller Evangelien bin
ich zu einem Ergebnis gekommen, das nach jeder unvoreingenommenen Prüfung
eigentlich offensichtlich ist, nämlich dass weder Matthäus noch Lukas sich an
eine solche Reihenfolge halten. Natürlich halten beide an der chronologischen
Reihenfolge fest, wenn es mit der Absicht des Heiligen Geistes bei ihrer
Inspiration übereinstimmt. Aber in beiden wird diese zeitliche Folge höheren
Gesichtspunkten, die Gott im Auge hatte, untergeordnet. Wenn wir, zum Beispiel,
die Begebenheiten des achten Kapitels mit den entsprechenden Ereignissen, soweit
sie dort beschrieben sind, im Markusevangelium vergleichen, so erkennen wir, das
letzteres uns genaue Zeitangaben gibt. Dies überzeugt mich davon, dass Markus an
der zeitlichen Ordnung festhält. Die Absicht des Heiligen Geistes fordert es;
und so verlässt er nicht die zeitliche Reihenfolge. Es erhebt sich die
berechtigte Frage: „Warum lässt der Geist Gottes in diesem und auch im folgenden
Kapitel die Frage der Zeit so völlig außer Betracht?“ Dieselbe Missachtung der
bloßen Reihenfolge von Ereignissen finden wir gelegentlich auch in anderen
Abschnitten unseres Evangeliums. Doch ich beschäftige mich absichtlich schon im
achten Kapitel damit, weil wir diese Achtlosigkeit hier überall finden, so dass
der Beweis davon leicht zu führen ist.
Als erstes muss bemerkt werden, dass der Aussätzige ein früher Zeuge von der
Offenbarung der heilenden Kraft unseres Herrn darstellt. Schon vor der
Bergpredigt kam er in seiner Unreinheit zu Jesus, um gereinigt zu werden. Darum
müssen wir beachten, dass es so, wie der Heilige Geist ihn einführt, keine
Angabe der Zeit gibt. Zweifellos sagt der erste Vers:
„Als er aber von dem Berg herabgestiegen war, folgten ihm große Volksmengen“
(V. 1).
Der zweite Vers deutet jedoch keineswegs an, dass das nächste Ereignis auch
zeitlich folgte. Er sagt nicht: „Dann kam ein Aussätziger“ oder „sogleich kam
ein Aussätziger.“ Kein Wort spricht davon, dass die Reinigung des Aussätzigen zu
dieser Zeit stattfand. Das Wort erklärt einfach:
„Und siehe, ein Aussätziger kam herzu, warf sich vor ihm nieder und sprach:
Herr, wenn du willst, kannst du mich reinigen“ (V. 2).
Der 4. Vers widerspricht geradezu der Vorstellung, dass eine große Volksmenge
der Heilung zugesehen habe. Denn warum sollte der Herr bestimmen:
„Sage es niemand“, wenn es schon so viele wussten? Unaufmerksamkeit
diesbezüglich hat schon viele verwirrt. Sie haben das Ziel eines jeden
Evangeliums nicht begriffen. Sie haben die Bibel entweder leichtfertig behandelt
oder als ein Buch, das zu schrecklich ist, um es jemals verstehen zu können.
In ihnen war keine Ehrfurcht des Glaubens, die auf Gott wartet und zur passenden
Zeit sein Wort verstehen wird. Gott erlaubt nicht, sein Wort in dieser falschen
Weise zu gebrauchen, ohne dass seine Kraft und Schönheit verloren gehen und der
große Gegenstand, um dessentwillen es geschrieben wurde, verfehlt wird.
Wenn wir uns zu
Markus 1 wenden, finden wir in Hinsicht auf den Aussätzigen den Beweis
von dem, was ich gesagt habe. Am Ende des Kapitels sehen wir den Aussätzigen,
wie er sich dem Herrn nähert, nachdem dieser in ganz Galiläa gepredigt und
Dämonen ausgetrieben hatte. Im zweiten Kapitel wird gesagt: „Und nach etlichen
Tagen ging er wiederum hinein nach Kapernaum“ (Mk
2,1). Er war schon früher dort gewesen. Danach stoßen wir im 3.
Kapitel auf mehr oder weniger starke Zeitangaben. In Vers 13 steigt unser Herr
auf „den Berg und ruft herzu, welche er selbst wollte. Und sie kamen zu ihm; und
er bestellte zwölf, damit sie bei ihm seien, und damit er sie aussende zu
predigen“ (Mk
3,13.14) Wenn man dies mit
Lukas 6 vergleicht, sieht man sofort, dass es sich um dieselbe Szene
handelt. Es sind die Umstände, die der Bergpredigt von
Matthäus 5 bis 7 vorausgingen. Nachdem der Herr die Zwölf berufen hatte –
nicht nachdem Er sie ausgesandt, sondern nachdem Er sie zu Aposteln ernannt
hatte –, stieg Er zu einem Plateau auf dem Berg hinab. Er blieb nicht auf der
Höhe, wo Er vorher gewesen war. Nachdem Er zum Plateau herabgestiegen war, hielt
Er die so genannte Bergpredigt.
Prüfe die Schrift, und du wirst es selbst sehen! Dieses Problem kann nicht
einfach durch die Aufstellung einer Behauptung gelöst werden. Andererseits ist
es nicht zuviel gesagt, dass dieselben Schriften, die eine vorurteilsfreie
Seele, welche solche Zeitangaben beachtet, überzeugen, die gegenteilige Wirkung
bei anderen hervorrufen. Wenn ich aus den Worten am Anfang des Lukasevangeliums
(„der Reihe nach“) als sicher annehme, dass Lukas diesen chronologischen
Bericht liefert, dann führt mich dies in völlige Verwirrung sowohl hinsichtlich
des Lukas- als auch jedes anderen Evangeliums. Denn es gibt unzählige Beweise,
dass die Reihenfolge von Lukas, auch wenn sie noch so methodisch ist, keineswegs
zeitlich angeordnet wird. Natürlich hält er sich oft an die Zeitfolge. Aber in
seinem Hauptteil, und auch häufig anderswo, folgt sein „der Reihe nach“
anderen Gesichtspunkten als der Reihenfolge der Ereignisse. Mit anderen Worten:
Es ist sicher, dass im Lukasevangelium, welches in seiner Einleitung
ausdrücklich die Worte „der Reihe nach“ enthält, der Heilige Geist sich in
keinster Weise an das bindet, was die elementarste Form der Reihenfolge
darstellt. Denn es ist leicht zu sehen, dass die einfache Reihenfolge der
Geschehnisse, so wie sie sich ereigneten, nur eine gewissenhafte Aufzählung, und
nicht mehr, erfordert. Dagegen gibt es andere Anordnungsweisen, die tieferes
Denken und umfassendere Blickwinkel voraussetzen, wenn wir das Ganze menschlich
sehen. Und ich leugne nicht, dass der Heilige Geist tatsächlich nach seiner
Weisheit Menschen benutzte, obwohl es kaum nötig ist zu sagen, dass Er, wenn Er
will, durchaus seine Überlegenheit über jedes Mittel und jede menschliche
Befähigung zeigen kann. Er konnte seine Werkzeuge entsprechend seinem
unumschränkten Willen formen; und Er tat es auch. Es ist also eine Frage des
inneren Beweises, wenn es sich darum handelt, welche besonderen Ordnungsweisen
Gott in den verschiedenen Evangelien benutzt. Bestimmte Zeitabschnitte werden im
Lukasevangelium mit großer Sorgfalt geschildert. Doch wenn wir von dem
allgemeinen Ablauf des Lebens unseres Herrn sprechen, dann entdecken wir schon
mit geringer Aufmerksamkeit in der großen Bedeutung, die den Zeitangaben im
zweiten Evangelium gegeben wird, dass uns hier die Ereignisse vom Anfang bis zum
Ende in ihrer Reihenfolge dargestellt werden. Mir scheint, dass schon das Wesen
und das Ziel des Markusevangeliums diese Reihenfolge erfordern. Mit der
Begründung für ein solches Urteil werden wir uns bald beschäftigen; aber jetzt
kann ich mich darauf nur als meine persönliche Überzeugung beziehen.
Falls ich die Angelegenheit richtig beurteile, dann liefert das erste Kapitel
des Markusevangeliums genügend Beweise, dass der Heilige Geist im
Matthäusevangelium den Aussätzigen aus dem Zusammenhang von Zeit und Umständen
herausgenommen und seinen Fall für einen völlig anderen Zweck reserviert hat. Es
stimmt natürlich, dass Markus in diesem Beispiel den Aussätzigen nicht mit mehr
Hinweisen zu Zeit und Ort versieht als Matthäus und Lukas. Wir sind deshalb bei
unserer Entscheidung auf die Erkenntnis angewiesen, dass Markus gewöhnlich an
der zeitlichen Reihenfolge festhält. Wenn Matthäus hier alle Fragen bezüglich
der Zeit beiseitesetzt, dann geschah das im Blick auf andere, wichtigere
Erwägungen zur Sache. Mit anderen Worten: Der Aussätzige wird in diesem
Evangelium nach der Bergpredigt eingeführt, obwohl in Wirklichkeit das Ereignis
lange vorher stattgefunden hatte. Ich denke, der Zweck ist klar ersichtlich. Der
Geist Gottes gibt in unserem Kapitel ein lebendiges Bild von der Offenbarung des
Messias, von seiner göttlichen Herrlichkeit und von seiner Gnade und Macht,
zusammen mit den Ergebnissen dieser Offenbarung. Deshalb hat Er Ereignisse
zusammengestellt, die dies deutlich machen, ohne die Frage der Zeit zu beachten.
Tatsächlich umfassen sie einen weiten Zeitraum und bilden unter dem
Gesichtspunkt der Zeitfolge eine völlige Unordnung. So kann man leicht den Grund
dafür sehen, warum der Aussätzige und der römische Hauptmann nebeneinander
gestellt sind. Sie zeigen die Handlungsweise des Herrn mit den Juden auf der
einen und seine tiefe Gnade, die in dem Herzen des Nichtjuden
wirkte und seinen Glauben formte, auf der anderen Seite. Er beantwortete den
Glauben nach seinem eigenen Herzen. Der Aussätzige näherte sich dem Herrn zwar
mit Huldigung, aber auch mit einem wenig angemessenen Glauben an seine Liebe und
Bereitschaft zu helfen. Der Heiland berührte ihn, indem Er seine Hand
ausstreckte, als Mensch, und doch, wie nur Jahwe es wagen konnte. Er vertrieb
sofort die hoffnungslose Krankheit. So finden wir in zartester Weise den Messias
auf der Erde gegenwärtig, um sein Volk, das sich an Ihn wendet, zu heilen. Und
der Jude, der vor allem auf seine körperliche Anwesenheit rechnete und sie auch
nach der Bürgschaft der Prophetie verlangte, fand in Jesus nicht einfach einen
Menschen, sondern auch den Gott Israels. Wer außer Gott konnte heilen? Wer
konnte den Aussätzigen anrühren außer Emmanuel? Ein bloßer Jude wäre
verunreinigt worden. Der Geber des Gesetzes hielt dessen Autorität aufrecht und
nutzte es als eine Gelegenheit, um seine Macht und Anwesenheit zu bezeugen.
Könnte irgendein Mensch den Messias auf das Niveau eines normalen Menschen
herabziehen und dem von Mose gegebenen Gesetz unterordnen? Möchte er seinen
Irrtum an einer Person erkennen, die offensichtlich über dem Zustand und dem
Ruin des Menschen in Israel stand! Möchte er die Macht anerkennen, die den
Aussatz verbannt, und die Gnade, die obendrein den Aussätzigen berührt! Es ist
wahr: Er wurde geboren von einer Frau; Er wurde geboren unter Gesetz (Gal
4,4). Aber Er, der demütige Nazarener, war Jahwe selbst. Es entsprach
vollkommen den jüdischen Erwartungen, dass Er sich als Mensch erwies. Doch
unleugbar zeigte sich das, was unendlich die jüdischen Gedanken übertraf. Denn
der Jude offenbarte seinen niedrigen Herzenszustand und seinen Unglauben durch
die niedrigen Vorstellungen, die er vom Messias hegte. Er war wirklich Gott im
Menschen. Und all diese wunderbaren Eigenschaften werden vorgestellt und
zusammengefasst in dieser einfachen, aber auch bedeutsamen Handlung des
Heilandes – dem passenden Titelbild zu der Offenbarung des Messias an Israel
durch Matthäus.
Im unmittelbaren Gegensatz dazu steht der heidnische Hauptmann, der Heilung für
seinen Knecht sucht. In Wirklichkeit verging beträchtliche Zeit zwischen den
beiden Begebenheiten; doch das erhöht nur die Gewissheit, dass sie nach einer
göttlichen Absicht nebeneinander gestellt worden sind. Der Herr hatte gezeigt,
was Er für Israel hätte sein können, wenn es, wie der Aussätzige, mit seinem
Aussatz zu Ihm gekommen wäre. Israels Glaube hätte dabei nur winzig im Vergleich
zu seiner wahren Herrlichkeit und Liebe zu sein brauchen. Israel war sich seines
Aussatzes jedoch nicht bewusst. Außerdem schätzte es seinen Messias nicht,
sondern verwarf Ihn, obwohl Er göttlich war – ich möchte fast sagen: gerade,
weil Er göttlich war. Danach sehen wir Ihn dem Hauptmann auf ganz andere Weise
begegnen. Wenn Er ihm anbot, zu seinem Haus zu kommen, dann geschah es, um den
Glauben, den Er in dem Herzen des Hauptmanns bewirkt hatte, herauszustellen. Da
er ein Heide war, waren seine Vorstellungen von dem Heiland durch die weit
verbreiteten Vorurteile Israels – ja, selbst durch alttestamentliche Hoffnungen,
so kostbar sie auch sind – natürlich umso weniger eingeschränkt. Gott hatte
seiner Seele eine tiefere und vollere Sicht von Christus gegeben; denn die Worte
des Nichtjuden offenbarten, dass er Gott in jenem Menschen erkannte, der
zur damaligen Zeit in Galiläa alle Krankheiten und Leiden heilte. Ich sage
nicht, inwieweit er sich über diese tiefgründige Wahrheit im Klaren war. Ich
sage nicht, dass er seine Gedanken genau bestimmen konnte. Aber er wusste von
seiner Herrschaft über alle Dinge als wahrer Gott und verkündete sie auch. In
ihm lag eine geistliche Kraft, welche die des Aussätzigen weit übertraf.
Letzterem musste die Hand, die ihn anrührte und reinigte, erst die Not und den
Zustand Israels sowie die Gnade Emmanuels bekannt machen.
Bei dem Nichtjuden stellte das Angebot des Herrn, zu ihm zu kommen und zu
heilen, die einzigartige Kraft seines Glaubens heraus.
„Herr, ich bin nicht wert, dass du unter mein Dach trittst“ (V. 8).
Der Herr brauchte nur ein Wort zu sagen, und sein Knecht würde geheilt. Die
körperliche Anwesenheit des Messias war nicht erforderlich. Gott konnte nicht
durch eine Frage des Aufenthaltsortes eingeschränkt sein; Sein Wort war genug.
Krankheiten müssen Ihm gehorchen wie die Soldaten oder Knechte dem Hauptmann,
ihrem Vorgesetzten. Was für eine Vorwegnahme des Wandels durch Glauben und nicht
durch Schauen! (2.
Kor 5,7). Darin sollten die Nichtjuden, nachdem sie berufen waren, Gott
verherrlichen, wenn die Verwerfung des Messias durch sein altes Volk die
Gelegenheit zur besonderen Berufung der Nichtjuden bot. Es ist klar, dass zu der
ersten Szene unbedingt die körperliche Anwesenheit des Messias gehörte, wie wir
es in dem Umgang mit dem Aussätzigen sehen. Dieser ist ein Bild von Israel, wenn
es Reinigung von seiner Hand sucht. Auf der anderen Seite zeigt der Hauptmann
nicht weniger treffend den charakteristischen Glauben, der den Nichtjuden
angemessen ist. In einer Einfalt, die nichts als das Wort seines Mundes erwartet
und damit völlig zufrieden ist, weiß er, dass der Herr – welche Krankheit es
auch sein mag – nur ein Wort auszusprechen braucht, damit alles nach seinem
göttlichen Willen geschieht. Jener Gesegnete war da, den er als Gott erkannte
und der für ihn die Personifikation der göttlichen Macht und Güte darstellte.
Seine körperliche Anwesenheit war nicht nötig; Sein Wort war mehr als genug. Der
Herr bewunderte diesen Glauben, der weit denjenigen Israels übertraf. Er
benutzte ihn als Gelegenheit, um auf das Hinauswerfen der Söhne oder natürlichen
Erben des Reiches und das Eintreten Vieler vom Osten und vom Westen, die mit
Abraham, Isaak und Jakob im Reich der Himmel sich niedersetzen werden,
hinzuweisen. Was könnte vollkommener den großen Plan des Matthäusevangeliums
verdeutlichen?
So haben wir in der Szene mit dem Aussätzigen „Der Herr [Jahwe], der dich heilt“
(2.
Mo 15,26), als Mensch auf der Erde und in jüdischen Umständen, der noch
das Gesetz aufrecht hält. Als nächstes legte der Hauptmann ein Bekenntnis von
Jesus ab, das nicht mehr seinen Charakter als Messias verkündigte, obwohl Er
damals tatsächlich noch mit Israel beschäftigt war. Sein Bekenntnis war nach dem
Glauben, der die tiefere Herrlichkeit seiner Person als Höchster sah – fähig
durch ein Wort zu heilen, egal, wo oder wen oder was. Und dies begrüßte der Herr
als Vorschattung auf jenen reichen Einzug vieler Menschenmengen zum Preis seines
Namens, wenn die Juden hinausgeworfen sein werden. Offensichtlich handelt es
sich hier um den Wechsel der Haushaltung, der bevorstand – das Abschneiden des
fleischlichen Samens wegen seines Unglaubens und die Einführung von zahlreichen
Gläubigen aus den Nationen im Namen des Herrn.
Dann folgt eine andere Begebenheit, welche in gleicher Weise zeigt, dass der
Geist Gottes hier nicht die Ereignisse in ihrer natürlichen Reihenfolge anführt.
Denn ganz gewiss war nicht jetzt, historisch gesehen, der Zeitpunkt, an dem der
Herr in das Haus des Petrus ging, die Schwiegermutter fieberkrank dort liegen
sah, ihre Hand anrührte und sie aufrichtete, sodass sie ihnen sogleich diente.
In dieser Handlung haben wir wieder ein treffendes Beispiel desselben
Grundsatzes; denn tatsächlich wurde dieses Wunder lange vor der Heilung von des
Hauptmanns Knecht und sogar vor der des Aussätzigen ausgeführt. Darüber
vergewissert uns erneut
Markus 1, wo wir klare Zeitangaben finden. Der Herr war in Kapernaum, wo
Petrus wohnte. An einem bestimmten Sabbat nach der Berufung von Petrus wirkte Er
in der Synagoge große Taten, die in
Markus 1 und auch von Lukas berichtet werden. Vers 29 gibt uns eine
genaue Zeitangabe. „Und sogleich gingen sie aus der Synagoge hinaus und kamen in
das Haus von Simon und Andreas, mit Jakobus und Johannes. Die Schwiegermutter
Simons aber lag fieberkrank danieder; und sogleich sagen sie ihm von ihr. Und er
trat hinzu und richtete sie auf, indem er sie bei der Hand ergriff; und das
Fieber verließ sie [sogleich], und sie diente ihnen“ (Mk
1,29–31). Es muss schon die Leichtgläubigkeit eines Skeptikers sein, zu
glauben, dass es sich nicht um dasselbe Ereignis handelt, welches wir in
Matthäus 8 finden. Ich bin sicher, dass kein Christ diesbezüglich einen
Zweifel hegt. Allerdings ist dann völlig gewiss, dass unser Herr an dem Sabbat,
an welchem Er den unreinen Geist aus dem Menschen in der Synagoge von Kapernaum
ausgetrieben hatte, die Synagoge verließ und unmittelbar danach das Haus des
Petrus betrat. Und dort heilte Er die Schwiegermutter des Petrus vom Fieber.
Beachtliche Zeit später folgte der Fall des Hauptmanns und seines Knechtes, dem
die Reinigung des Aussätzigen um einige Zeit vorausging.
Was sollen wir von einer so auffallenden Auswahl und solcher vollständigen
Missachtung der Zeit halten? Sie sind sicherlich nicht auf Ungenauigkeit oder
Gleichgültigkeit gegen die Reihenfolge zurückzuführen, sondern im Gegenteil auf
die göttliche Weisheit, welche die Ereignisse für einen ihrer selbst würdigen
Zweck so gruppierte. Gottes Zusammenstellung aller Dinge, insbesondere in diesem
Teil des Matthäusevangeliums, soll uns eine angemessene Offenbarung des Messias
geben. Zuerst sollen wir, wie wir gesehen haben, erkennen, wie Er der dringenden
Bitte des Juden begegnet. Danach erfahren wir, was Er in noch reicherer Form und
Fülle für den Glauben des Nichtjuden ist und sein wird. So haben wir jetzt in
der Heilung von Petrus' Schwiegermutter einen weiteren Grundsatz von großer
Bedeutung. Seine Gnade gegen die Heiden würde nicht im Geringsten sein Herz für
die Anrechte von Beziehungen nach dem Fleisch abstumpfen. Es handelt sich
eindeutig um die Beziehung zum Apostel der Beschneidung (es ist die
Schwiegermutter des Petrus). Das natürliche Band wird in den Vordergrund
gestellt; und jenes war ein Vorrecht, welches Christus nicht unbeachtet ließ.
Denn Er liebte Petrus und fühlte mit ihm. Die Mutter seiner Frau war wertvoll in
den Augen Jesu. Das stellt keineswegs das Verhältnis vor, in dem der Christ zu
Christus steht. Denn selbst wenn wir Ihn nach dem Fleisch gekannt hätten, so
kennen wir Ihn jetzt nicht mehr so (2.
Kor 5,16). Aber es ist genau das Muster, nach welchem Er mit Israel
handeln musste und handeln wird. Zion mag von dem Herrn, der vergeblich
gearbeitet hatte und den die Nation verabscheute, sagen: „Der HERR
[Jahwe] hat mich verlassen, und der Herr hat mich vergessen“ (Jes
49,14). Keineswegs! „Könnte auch eine Frau ihren Säugling vergessen, dass
sie sich nicht erbarmte über den Sohn ihres Leibes? Sollten sogar diese
vergessen, ich werde dich nicht vergessen. Siehe, in meine beiden Handflächen
habe ich dich eingezeichnet“ (Jes
49,15–16). So erkennen wir, dass trotz der reichen Gnade gegen die Heiden
die natürlichen Beziehungen nicht vergessen werden.
Am Abend wurden viele Menschen zum Herrn gebracht, um Nutzen aus der Macht zu
ziehen, die sich so – öffentlich in der Synagoge und privat im Haus des Petrus –
kundgetan hatte. Der Herr erfüllte die Worte in
Jesaja 53,4: „Doch er hat unsere Leiden getragen, und unsere Schmerzen
hat er auf sich geladen.“ Diese Prophezeiung mögen wir gut im Licht ihrer
Anwendung hier überdenken! In welchem Sinn trug Jesus, unser Herr, ihre Leiden
und lud Er ihre Schmerzen auf sich? Ich glaube, indem Er nie die Kraft, welche
in Ihm war, zur Heilung von Krankheit und Gebrechen als reine Anwendung von
Macht gebrauchte. Er versetzte sich völlig in die Wirklichkeit eines jeden
einzelnen Falles mit einem tiefen Gefühl des Mitleidens. Er heilte; und dabei
trug Er die Bürde der Krankheit in seinem Herzen vor Gott ebenso wirklich, wie
Er sie von den Menschen wegnahm. Gerade weil Er nicht von Krankheiten und
Gebrechen berührt werden konnte, war Er frei, auf diese Weise jede Folge der
Sünde zu tragen. Es war demnach nicht nur eine einfache Tat, durch die Er
Krankheiten und Leiden verbannte, sondern Er trug letztere auch in seinem Geist
vor Gott. Nach meiner Meinung erhöht die Tiefe einer solchen Gnade nur die
Schönheit Jesu. Sie ist der letztmögliche Grund für einen Menschen, gering von
dem Heiland zu denken.
Danach sah unser Herr, wie Ihm große Volksmengen folgten, und befahl, an das
jenseitige Ufer wegzufahren. Hier finden wir ein weiteres Beispiel desselben
bemerkenswerten Grundsatzes, Ereignisse auszuwählen, um ein komplettes Bild zu
formen, welchen ich für den wahren Schlüssel zu den abweichenden Reihenfolgen in
den einzelnen Evangelien halte. Dem Geist Gottes gefiel es, Tatsachen
auszuwählen und zusammenzustellen, um Ereignisse, die sonst getrennt stehen
würden, zu verbinden. Denn hier folgen Gespräche, die viel später stattfanden,
als die Begebenheiten, mit denen wir bisher beschäftigt waren. Wenn wir der
Frage ihres Datums nachgehen – wann, glaubst du, haben diese Gespräche wirklich
stattgefunden? Beachte, mit welcher Sorgfalt der Geist Gottes hier sämtliche
Hinweise zum Zeitpunkt weglässt!
„Und ein Schriftgelehrter kam herzu“ (V. 19).
Es gibt keinen zeitlichen Hinweis, wann er kam; die Bibel sagt nur, dass er kam.
In Wirklichkeit kam er nach der Verklärung, die im 17. Kapitel unseres
Evangeliums berichtet wird. Danach bot der Schriftgelehrte an, dem Herrn Jesus
zu folgen, wohin immer Er gehen würde. Wir erfahren dies aus dem Vergleich mit
dem Lukasevangelium (Kap. 9). Das gilt auch für das andere Gespräch.
„Herr, erlaube mir, zuvor hinzugehen und meinen Vater zu begraben“ (V. 21).
Nachdem die Herrlichkeit Christi auf dem heiligen Berg bezeugt worden war,
zeigte sich die Selbstsucht des menschlichen Herzens im Gegensatz zu der Gnade
Gottes.
Als nächstes folgt der Sturm.
„Und siehe, ein großes Unwetter erhob sich auf dem See, so dass das Schiff von
den Wellen bedeckt wurde; er aber schlief“ (V. 24).
Wann fand dieses Ereignis statt, wenn wir es rein als historische Tatsache
betrachten? Am Abend des Tages, an dem Er die sieben Gleichnisse von
Matthäus 13 ausgesprochen hatte. Das wird klar, wenn wir das
Markusevangelium zum Vergleich heranziehen. Denn
Markus 4,33–41 stimmt mit unserem Abschnitt überein und liefert Daten,
die keine Zweifel lassen. Zuerst lesen wir vom Sämann, der das Wort aussät. Nach
dem Gleichnis vom Senfkorn wird hinzugefügt: „Und in vielen solchen
Gleichnissen redete er zu ihnen das Wort … aber seinen Jüngern erklärte er alles
besonders“ (Mk
4,34). (Sowohl die Gleichnisse als auch die Erklärungen finden wir
in
Matthäus 13.) „Und an jenem Tag, als es Abend geworden war, spricht er zu
ihnen: Lasst uns übersetzen an das jenseitige Ufer.“ (Das nenne ich eine
genaue, unmissverständliche Zeitangabe!) „Und sie entlassen die Volksmenge und
nehmen ihn, wie er war, in dem Schiff mit. Und andere Schiffe waren bei ihm. Und
es erhebt sich ein heftiger Sturm, und die Wellen schlugen in das Schiff, sodass
das Schiff sich schon füllte. Und er war im hinteren Teil und schlief auf dem
Kopfkissen; und sie wecken ihn auf und sprechen zu ihm: Lehrer, liegt dir nichts
daran, dass wir umkommen? Und er wachte auf, schalt den Wind und sprach zu dem
See: Schweig, verstumme! Und der Wind legte sich, und es trat eine große Stille
ein. Und er sprach zu ihnen: Was seid ihr furchtsam? Habt ihr noch keinen
Glauben? Und sie fürchteten sich mit großer Furcht und sprachen zueinander: Wer
ist denn dieser, dass auch der Wind und der See ihm gehorchen?“ (Mk
4,35–41). Danach (und das macht die Angelegenheit noch eindeutiger) folgt
der Fall des Besessenen.
Es ist wahr: Bei Markus und Lukas lesen wir nur von einem Besessenen, während
wir in unserem Evangelium zwei finden. Nichts könnte einfacher sein. Es waren
zwei. Doch der Geist Gottes wählte durch Markus und Lukas den Auffallendsten von
den beiden aus und stellt uns seine Geschichte vor – eine Geschichte von nicht
geringem Interesse und einer Bedeutung, die wir erkennen werden, wenn wir das
Markusevangelium betrachten. Es war allerdings ebenso wichtig für das
Matthäusevangelium, dass hier von beiden Besessenen berichtet wird, obwohl einer
von ihnen, wie ich schließe, ein viel verzweifelterer Fall war als der andere.
Der Grund dafür ist wieder klar; und denselben Grundsatz finden wir auch an
anderen Stellen unseres Evangeliums, wo zwei Fälle erwähnt werden und in den
übrigen Evangelien nur einer. Der Schlüssel dazu besteht darin, dass Matthäus
durch den Heiligen Geist angeleitet wurde, das angemessene Zeugnis für das
jüdische Volk im Auge zu haben. Die zarte Güte Gottes begegnete den Juden in
einer Weise, wie es unter dem Gesetz passend war. Es war nun ein festgelegtes
Prinzip, dass aus dem Mund zweier oder dreier Zeugen jedes Wort bestätigt
werden sollte (5.
Mo 17,6;
Mt 18,16; u. a.). Das ist also, wie ich annehme, der Grund, warum zwei
Besessene erwähnt werden. Hingegen lenkt der Geist Gottes zu einem anderen Zweck
im Markus- und Lukasevangelium die Aufmerksamkeit ausschließlich auf einen von
den beiden. Ein Nichtjude – ja, jede Seele ohne Vorurteile oder Schwierigkeiten
aus dem Gesetz – würde mehr durch einen ins einzelne gehenden Bericht von dem,
was besonders auffällig war, angesprochen werden. Zwei Besessene, ohne die
persönlichen Einzelheiten, würden vielleicht keine kraftvolle Wirkung auf einen
Nichtjuden ausgeübt haben. Für einen Juden mochte ein solcher Hinweis jedoch aus
gewissen Gründen notwendig sein. Ich maße mir nicht an zu sagen, dass dies der
einzige Grund ist. Fern sei es von mir, den Geist Gottes auf die schmalen
Grenzen unseres Gesichtsfeldes zu beschränken! Niemand möge annehmen, dass ich,
wenn ich meine eigenen Überzeugungen darlege, den anmaßenden Gedanken hege, als
seien diese die einzigen Beweggründe für Gott! Es genügt, wenn man einer von
Vielen empfundenen Schwierigkeit mit dem einfachen Einwand begegnet, dass die
dargelegte Begründung eine stichhaltige Erklärung und in sich selbst eine
ausreichende Lösung für die offensichtlichen Unstimmigkeiten bietet. Wenn es so
ist, dann haben wir sicher Grund, Gott dankbar zu sein; denn so wird ein Stein
des Anstoßes zu einem Beweis von der Vollkommenheit der Bibel.
Überblicken wir die letzten Ereignisse des Kapitels, dann finden wir zuerst, wie
völlig wertlos die Bereitschaft des Fleisches zur Nachfolge Christi ist. Die
Beweggründe des natürlichen Herzens werden freigelegt. Wollte dieser
Schriftgelehrte dem Herrn nachfolgen? Er war nicht berufen. Das ist die
Verkehrtheit des Menschen. Jemand, der nicht berufen war, dachte, er könne Jesus
nachfolgen, wohin irgend Er gehen würde. Der Herr wies auf das wahre Verlangen
des Mannes hin. Es war nicht Christus, nicht der Himmel, nicht die Ewigkeit,
sondern Dinge dieses Lebens. Er wollte dem Herrn um des Vorteils willen folgen.
Der Schriftgelehrte suchte nicht die verborgene Herrlichkeit. Wenn er sie
gesehen hätte, hätte er auch erkannt, dass alles vorhanden war. Aber er sah sie
nicht. Und so breitete der Herr seine tatsächliche Lage, wie sie buchstäblich
damals war, vor ihm aus, ohne ein Wort über das Unsichtbare und Ewige.
„Die Füchse haben Höhlen“, sagte Er,
„und die Vögel des Himmels Nester, aber der Sohn des Menschen hat nicht, wo er
das Haupt hinlege“ (V. 20). Hier nahm Er zum ersten Mal in diesem Evangelium
den Titel
„Sohn des Menschen“ an. Vor seinen Augen stand seine Verwerfung und
der überhebliche Unglaube dieses schäbigen und selbstvertrauenden
Möchtegern-Nachfolgers.
Wenn wir dann jemand anderem (und jetzt ist es einer seiner Jünger!) zuhören,
dann erfahren wir, wie der Glaube sofort seine Schwachheit zeigt.
„Erlaube mir“, sagte er,
„zuvor hinzugehen und meinen Vater zu begraben“ (V. 21). Der Mensch, der
nicht berufen war, versprach in eigener Kraft überall hin zu gehen. Doch
derjenige, der berufen war, fühlte die Schwierigkeit und entschuldigte sich mit
der Erfüllung natürlicher Pflichten. Danach wollte er Jesus folgen. Oh,
was haben wir für Herzen! Aber was für ein Herz hat Er!
In der nächsten Szene sehen wir dann die Jünger insgesamt, wie sie durch eine
plötzliche Gefahr versucht werden, die ihr schlafender Lehrer gar nicht
beachtete. Das stellte ihre Gedanken bezüglich der Herrlichkeit Jesu auf die
Probe. Der Sturm war ohne Zweifel groß. Aber was konnte er Jesus antun?
Unzweifelhaft wurde das Schiff von den Wellen bedeckt. Wie konnten diese jedoch
den Herrn aller Dinge gefährden? Sie vergaßen seine Herrlichkeit in ihrer Angst
und Selbstsucht. Sie maßen Jesus an ihrer eigenen Unfähigkeit. Ein großer Sturm
und ein sinkendes Schiff sind ernste Schwierigkeiten für einen Menschen.
„Herr, rette uns, wir kommen um!“ (V. 25),
riefen sie, als sie Ihn weckten. Und Er stand auf und bedrohte die Winde und den
See. Kleinglaube macht uns furchtsam und lässt uns ein trübes Zeugnis von der
Herrlichkeit Dessen sein, dem die ungebändigtsten Elemente gehorchen.
In dem Folgenden haben wir die notwendige Vervollständigung des Bildes auf der
anderen Seite. Der Herr wirkt in befreiender Kraft. Dabei erfüllt dann die Macht
Satans die Unreinen und treibt sie in ihr Verderben. Angesichts dieser Dinge ist
der Mensch durch den Feind so verführt, dass er es vorzieht, mit den Dämonen
allein gelassen zu bleiben, anstatt sich der Gegenwart des Befreiers zu
erfreuen. Das war und ist der Mensch. Doch auch die Zukunft steht im Blickfeld.
Die befreiten Besessenen sind, nach meiner Ansicht, ein eindeutiger Vorschatten
auf die Gnade des Herrn in den letzten Tagen, wenn Er einen Überrest Israels für
sich absondert und die Macht Satans von diesem kleinen, aber ausreichenden
Zeugnis seines Heils verbannt. Die bösen Geister bitten, in die Herde Schweine
fahren zu dürfen, welche so den letzten Zustand der befleckten, abtrünnigen
Masse Israels versinnbildlichen. Ihr überheblicher, unverschämter Unglaube
erniedrigt sie zu dieser tiefen Entehrung. Sie sind nicht nur unrein, sondern
zusätzlich erfüllt von der Macht Satans: und sie eilen einem schnellen Untergang
entgegen. Es ist ein genaues Bild von dem, was am Ende des Zeitalters sein wird.
Die Masse der ungläubigen Juden ist jetzt unrein. Dann werden sie jedoch dem
Teufel übergeben zu ihrem offensichtlichen Untergang. Wir erkennen folglich in
diesem Kapitel eine zusammenfassende Skizze von der Offenbarung des Herrn seit
jener Zeit bis, im Vorbild, zum Ende des Zeitalters.
Fußnoten
Das folgende Kapitel ergänzt ohne Frage die Präsentation des Herrn an Israel,
jedoch von einem anderen Gesichtspunkt aus. Denn in
Kapitel 9 wird nicht so sehr das Volk auf die Probe gestellt, sondern
insbesondere seine religiösen Führer, bis zuletzt alles mit Lästerung des
Heiligen Geistes endet. Jetzt werden die Dinge noch eingehender geprüft. Wäre
irgendetwas Gutes in Israel gewesen, dann hätten seine auserlesenen Führer den
Test bestanden. Das Volk mochte versagen; aber es gab gewiss Unterschiede!
Sicherlich konnten die Geehrten und Angesehenen nicht so verdorben sein! Die
gesalbten Priester im Haus Gottes – würden sie nicht schließlich ihren Messias
aufnehmen? Diese Frage wird demnach im neunten Kapitel auf den Prüfstand
gesetzt. Deshalb sind die Ereignisse wieder, wie im 8. Kapitel,
zusammengestellt, ohne die Zeitpunkte, zu denen sie geschahen, zu beachten.
„Und er stieg in das Schiff, setzte über und kam in seine eigene Stadt“
(V.
1).
Nachdem der Herr Nazareth verlassen hatte, nahm Er, wie wir gesehen haben,
seinen Wohnsitz in Kapernaum, das hinfort
„seine eigene Stadt“ wurde. Für die stolzen Bewohner Jerusalems waren
beide, die eine wie die andere, ohne großen Unterschied in einem Land der
Finsternis. Aber für ein Land der Finsternis, der Sünde und des Todes kam Jesus
vom Himmel – ein Messias, nicht nach ihren Gedanken, sondern der Herr und
Heiland, der Gott-Mensch. Diesmal wurde ein Gelähmter, der auf seinem Bett lag,
zu Ihm gebracht.
„Und als Jesus ihren Glauben sah, sprach er zu dem Gelähmten: Sei guten Mutes,
Kind, deine Sünden werden vergeben“ (V. 2b).
Es ist klar, hier handelt es sich nicht so sehr um Sünde unter dem Gesichtspunkt
der Unreinheit. Dieser umfasst weiter reichende Gedanken, die nichtsdestoweniger
mit den gottesdienstlichen Forderungen Israels in Verbindung standen, wie wir
aus dem entnehmen können, was unser Herr zu dem gereinigten Aussätzigen sagt. In
Kapitel 9 geht es jedoch insbesondere um Sünde, als Schuld gesehen. Diese bricht
und zerstört alle Kraft in der Seele, Gott und den Menschen gegenüber,
vollständig. Folglich ist es jetzt nicht eine Frage der Reinigung, sondern der
Vergebung. Diese Vergebung muss vorausgehen, ehe sich Kraft vor den Menschen
zeigt. Es kann in der Seele keine Kraft geben, bevor die Vergebung gekannt wird.
Es mag das Verlangen danach vorhanden sein und ein wirkliches Werk des Heiligen
Geistes in der Seele – dennoch gibt es keine Kraft, um vor den Menschen zu
wandeln und auf diese Weise Gott zu verherrlichen, bevor man die Vergebung
besitzt und sich ihrer im Herzen erfreut. Gerade diese Segnung erweckte vor
allem den Hass der Schriftgelehrten. Der Priester in Kapitel 8 konnte nicht
leugnen, was mit dem Aussätzigen geschehen war, welcher sich ordnungsgemäß
zeigte und sein Opfer nach dem Gesetz zum Altar brachte. Wenn es auch ein
Zeugnis für sie war, so war es doch in seinen Folgen eine Anerkennung der
Anordnungen Moses. Doch jetzt weckte die Vergebung, die auf der Erde
ausgesprochen wurde, den Stolz der religiösen Führer unversöhnlich bis ins
innerste Herz. Trotzdem hielt der Herr den unbegrenzten Segen nicht zurück,
obwohl Er sehr gut ihre Gedanken kannte. Er sprach das Wort der Vergebung aus,
obschon Er in ihren bösen Herzen las, dass sie es „Lästerung“ nannten. In dieser
Begebenheit zeigte sich die zunehmende völlige Verwerfung Jesu. Diese Verwerfung
wurde zuerst wispernd im Herzen zugelassen. Bald sprach sie sich jedoch aus in
Worten wie gezückte Schwerter.
„Und siehe, sie brachten einen Gelähmten zu ihm, der auf einem Bett lag; und als
Jesus ihren Glauben sah, sprach er zu dem Gelähmten: Sei guten Mutes, Kind,
deine Sünden werden vergeben“ (V. 2).
Jesus beantwortete in gesegneter Weise ihre Gedanken. Wäre doch nur ein Gewissen
da gewesen, um das Wort der Gnade und Macht zu hören, welches seine Herrlichkeit
nur umso mehr herausstellte!
„Damit ihr aber wisst, dass der Sohn des Menschen Gewalt hat, auf der Erde
Sünden zu vergeben“ (V. 6a). Er nimmt seinen Platz der Verwerfung ein; denn
für Ihn ist sie schon jetzt durch ihre innersten Gedanken bekannt, obwohl sie
noch nicht offen zutage trat.
„Und siehe, einige von den Schriftgelehrten sprachen bei sich selbst: Dieser
lästert“ (V. 3).
Doch Er ist der Sohn des Menschen, der auf der Erde Gewalt hat, Sünden zu
vergeben. Und Er gebraucht diese Autorität.
„Damit
ihr aber wisst ... Dann sagt er zu dem Gelähmten: Steh auf, nimm dein Bett auf
und geh in dein Haus“ (V. 6b). Der Gang des Mannes vor ihnen bezeugte die
Wirklichkeit der Vergebung vor Gott. So sollte es bei jeder Seele sein, der
vergeben wurde. Seinerzeit rief dieses Werk noch Verwunderung seitens der
zuschauenden Volksmenge darüber hervor, dass Gott solche Macht den Menschen
gegeben hat. Sie verherrlichten Gott.
Auf dieser Grundlage ging der Herr noch einen Schritt weiter und machte, falls
möglich, einen noch heftigeren Angriff auf die jüdischen Vorurteile. Hier wurde
Er nicht von einem Aussätzigen, einem Hauptmann oder den Freunden des Gelähmten
gesucht. Er selbst berief Matthäus, einen Zöllner – gerade denjenigen, der
das Evangelium des verachteten Jesus von Nazareth schreiben sollte. Was für ein
passendes Werkzeug! Ein verschmähter Messias wandte sich, als Er von seinem Volk
Israel verworfen wurde, nach dem Willen Gottes an die Nationen. Er konnte
überall nach „Zöllnern“ und „Sündern“ sehen. So wurde Matthäus von der
Zolleinnahme wegberufen. Er folgte Jesus und machte Ihm ein Festmahl. Das gab
den Pharisäern Gelegenheit, ihrem Unglauben Luft zu machen. Für sie war nichts
so ärgerlich wie Gnade in Lehre oder Praxis. Die Schriftgelehrten am Anfang des
Kapitels konnten ihre bittere Ablehnung seiner Herrlichkeit als Mensch auf der
Erde nicht vor dem Herrn verbergen. Er war berechtigt, wie es seine Erniedrigung
und sein Kreuz erweisen sollten, Sünden zu vergeben. Jetzt zweifelten diese
Pharisäer seine Gnade an und tadelten sie, als sie Ihn zwanglos mit Zöllnern und
Sündern, die hinzukamen und sich in dem Haus des Matthäus zu Ihm gesellten,
sitzen sahen. Sie sagten zu seinen Jüngern:
„Warum isst euer Lehrer mit den Zöllnern und Sündern?“ (V. 11).
Der Herr zeigte, dass ein solcher Unglaube gerechter- und notwendigerweise sich
selbst, aber nicht andere, vom Segen ausschloss. Er war gekommen zu heilen. Die
Gesunden benötigten keinen Arzt. Wie wenig hatten sie die göttliche Lektion von
Gnade anstelle von Anordnungen gelernt!
„Ich will Barmherzigkeit und nicht Schlachtopfer“ (V. 13).
Jesus war da, um Sünder, und nicht Gerechte, zu rufen.
Indessen war der Unglaube nicht auf diese Religionisten des Buchstabens und der
Form beschränkt; denn als nächstes kam die Frage der Jünger des Johannes:
„Warum fasten wir und die Pharisäer oft, deine Jünger aber fasten nicht?“
(V. 14).
Überall wird das religiöse Wesen geprüft und mangelhaft erfunden. Der Herr
verteidigte die Sache der Jünger.
„Können etwa die Gefährten des Bräutigams trauern, solange der Bräutigam bei
ihnen ist?“ (V. 15).
Das Fasten würde schon nach der Wegnahme des Bräutigams folgen. So stellte Er
heraus, wie völlig unpassend, sittlich gesehen, ein Fasten in diesem Moment war.
Aber Er gab auch zu verstehen, dass es nicht nur um seine Verwerfung ging,
sondern dass auch jede Verknüpfung seiner Lehre und seines Willens mit dem Alten
sich als absolut unmöglich erweisen musste. Was Er einführte, konnte nicht mit
dem Judentum vermischt werden. Dieser Zwiespalt beruhte also nicht allein auf
dem bösen Herzen des Unglaubens, insbesondere in den Juden, sondern auch auf dem
Grundsatz, dass Gesetz und Gnade nicht vereinigt werden können.
„Niemand aber setzt einen Flicken von neuem Tuch auf ein altes Kleidungsstück;
denn das Eingesetzte reißt von dem Kleidungsstück ab, und der Riss wird
schlimmer (V. 16).
Obendrein handelte es sich nicht ausschließlich um einen Unterschied in der
Gestalt, den die Wahrheit jetzt annahm; denn das lebendige Prinzip, welches
Christus nun verbreitete, konnte nicht in den alten Formen bewahrt werden.
„Auch füllt man nicht neuen Wein in alte Schläuche; sonst zerreißen die
Schläuche, und der Wein wird verschüttet, und die Schläuche verderben; sondern
man füllt neuen Wein in neue Schläuche, und beide bleiben zusammen erhalten“
(V. 17).
Sowohl der Geist als auch die äußere Gestalt des Neuen waren fremd.
Obwohl der große Wechsel, den Er einführte und den Er so ausführlich und früh in
seinem Werdegang deutlich machte, vor Ihm stand, konnte nichts sein Herz von
Israel abwenden. Schon das nächste Ereignis, der Fall des Vorstehers Jairus,
zeigt dies.
„Meine Tochter ist eben jetzt verschieden; aber komm und lege deine Hand auf
sie, und sie wird leben“ (V. 18).
Die Einzelheiten – nämlich, dass sie kurz vor dem Tod stand und dass dann vor
Erreichen des Hauses die Nachricht kam, dass sie gerade gestorben sei – finden
wir nicht hier, sondern anderswo. Zu welchem Zeitpunkt dies auch geschehen sein
mag, welche Nebenumstände von anderen Schreibern zusätzlich erwähnt werden – der
Bericht hier soll darlegen, dass Er, der Messias, der Geber des Lebens blieb,
auch wenn, menschlich gesprochen, alles zu spät und Israels Zustand hoffnungslos
bis zum Tod war. Er war da, ein verachteter Mensch. Dennoch hatte Er das Recht,
Sünden zu vergeben; und Er bewies es durch die unmittelbare Macht der Heilung.
Wenn solche, die darauf vertrauten, dass sie weise und gerecht waren, Ihn
ablehnten, dann wollte Er sogar einen Zöllner unter die Geehrtesten seiner
Jünger berufen. Er würde es nicht verschmähen, ihre Freude zu sein, wenn sie
nach seiner Ehre in der Ausübung seiner Gnade verlangten. Die Traurigkeit mochte
bald folgen, wenn Er, der Bräutigam seines Volkes, weggenommen sein würde; dann
sollten sie fasten.
Nichtsdestoweniger war sein Ohr offen für den Ruf zugunsten des umkommenden,
sterbenden, toten Israels. Er hatte die Jünger auf die neuen Dinge vorbereitet,
die sich unmöglich mit den alten vereinigen konnten. Trotzdem finden wir seine
Zuneigungen beschäftigt mit der Hilfe für die Hilflosen. Er ging hin, um die
Tote aufzuerwecken; und die blutflüssige Frau berührte Ihn auf dem Weg.
Unbehindert durch das große Ziel war Er immer für den Glauben da. Die
Beschäftigung mit der Frau gehörte nicht zu dem Gang, auf dem Er sich befand;
aber Er war für den Glauben da. Seine Speise war, den Willen Gottes zu tun (Joh
4,34). Er befand sich ausdrücklich dazu auf der Erde, um Gott zu
verherrlichen. Macht und Liebe waren für jeden gekommen, der Nutzen daraus
ziehen wollte. Wenn es eine Rechtfertigung der Beschneidung durch Glauben gab,
dann zweifellos auch eine Rechtfertigung der Vorhaut durch deren Glauben (Röm
3,30). Es war egal, wer oder was Ihm in den Weg trat. Wer immer Ihn
anrief, für den war Er da. Und Er war Jesus, Emmanuel. Als Er das Haus
erreichte, fand Er dort Flötenspieler und eine lärmende Volksmenge als Ausdruck,
wenn überhaupt des Jammers, dann doch auf jeden Fall der kraftlosen
Verzweiflung. Sie spotteten der ruhigen Äußerung Dessen, der Dinge ins Dasein
ruft, die es vorher nicht gab. Der Herr trieb die Ungläubigen hinaus und
demonstrierte die herrliche Wahrheit, dass das Mädchen nicht tot war, sondern
lebte.
Das ist jedoch nicht alles. Er gibt den Blinden das Gesicht.
„Und als Jesus von dort weiterging, folgten ihm zwei Blinde, die schrien und
sprachen: Erbarme dich unser, Sohn Davids!“ (V. 27).
Dies fehlte noch, um das Bild vollständig zu machen. Dem schlafenden Mädchen aus
Zion wurde Leben mitgeteilt. Die Blinden riefen Ihn als Sohn Davids an – und
nicht vergebens. Sie bekannten ihren Glauben; und Er berührte ihre Augen. Auch
angesichts der Besonderheit der neuen Segnungen konnten die alten weiterhin
aufrechterhalten werden – wenn auch auf neuer Grundlage und natürlich aufgrund
des Bekenntnisses, dass Jesus Herr ist zur Verherrlichung Gottes, des Vaters (Phil
2,11). Die beiden Blinden riefen Ihn an als Sohn Davids. Das ist ein
Muster von dem, was am Ende sein wird, wenn sich das Herz Israels zum Herrn
wendet und die Decke weggetan worden ist (2.
Kor 3,16).
„Euch geschehe nach eurem Glauben“ (V. 29).
Es genügte nicht, dass Israel aus dem Schlaf des Todes aufgeweckt wurde und
richtig sah. Neben Augen, die an Ihm hingen, musste auch ein Mund da sein, um
den Herrn zu preisen und von dem herrlichen Ruhm seiner Majestät zu sprechen.
Deshalb finden wir hier noch eine weitere Szene. Am strahlenden Tag seines
Kommens muss Israel ein volles Zeugnis ablegen. Folglich sehen wir jetzt einen
Zeugen davon. Dieses Zeugnis ist umso lieblicher, weil die völlige Verwerfung,
welche die Herzen der Führer erfüllte, dem Herrn offenbarte, was bevorstand.
Doch nichts konnte die Absicht Gottes oder die Aktivität seiner Gnade aufhalten.
„Als sie aber weggingen, siehe, da brachten sie einen stummen Menschen zu ihm,
der besessen war. Und als der Dämon ausgetrieben war, redete der Stumme. Und die
Volksmengen verwunderten sich und sprachen: Niemals wurde so etwas in Israel
gesehen“ (V. 32–33).
Die Pharisäer waren zornig auf eine Macht, die sie nicht leugnen konnten und die
sie wegen ihrer beharrlichen Gnade umso mehr tadelte. Jesus überhörte damals
noch alle Lästerung und ging seinen Weg weiter. Nichts hinderte seinen Lauf der
Liebe.
„Und Jesus zog umher durch alle Städte und Dörfer, lehrte in ihren Synagogen und
predigte das Evangelium des Reiches und heilte jede Krankheit und jedes
Gebrechen“ (V. 35).
Der treue und wahrhaftige Zeuge musste jene Macht in Güte entfalten, welche in
der zukünftigen Welt völlig herausgestellt wird. An jenem großen Tag wird der
Herr sich jedem Auge als Sohn Davids, sowie als Sohn des Menschen, offenbaren.
Am Ende des 9. Kapitels fordert der Herr in tiefem Mitgefühl die Jünger auf,
dass sie zum Herrn der Ernte um das Aussenden von Arbeitern in seine Ernte beten
möchten. Am Anfang von
Kapitel 10 sendet Er sie selber als Arbeiter aus. Er ist der
Herr der Ernte. Die Aussendung war ein großer Schritt vorwärts angesichts seiner
Verwerfung. In unserem Evangelium sehen wir nicht, wie die Jünger berufen und
als Apostel eingesetzt werden. Matthäus gibt keine solchen Einzelheiten; bei ihm
sind Berufung und Aussendung eins. Doch – wie wir schon festgestellt haben –
fand die Wahl und Einsetzung der zwölf Apostel in Wirklichkeit vor der
Bergpredigt statt, obwohl Matthäus das nicht erwähnt, wohl aber Markus und Lukas
(vgl.
Mk 3,13–19; 6,7–11;
Lk 6,12–16; 9,1–9). Die Aussendung der Apostel fand erst später statt.
Bei Matthäus wird ihre Berufung nicht von ihrer Aussendung getrennt. Dennoch
steht ihre Mission hier in strenger Übereinstimmung mit dem, was dieses
Evangelium verlangt. Es ist ein Aufruf des Königs an sein Volk Israel. So
ausschließlich steht Israel im Blickfeld, dass der Herr kein Wort über die
Versammlung (Kirche) oder den Zustand des Christentums, das dazwischen geschoben
wird, verliert. Er spricht von Israel, und zwar von Israel in seinem damaligen
und in seinem zukünftigen Zustand vor seinem Kommen in Herrlichkeit. Er
vermeidet jedoch völlig jede Erwähnung der Umstände, die nebenbei eingeführt
werden sollten. Er sagt ihnen, dass sie mit den Städten Israels
„nicht zu Ende sein“ würden, bis der Sohn des Menschen kommt (V. 23).
Natürlich steht seine eigene Verwerfung vor seinem Geist; aber hier sieht Er
nicht über jenes Land und Volk hinaus. Und was die Zwölf betrifft, so sendet Er
sie auf eine Mission, die bis zum Ende des Zeitalters reicht. Auf diese Weise
werden das gegenwärtige Handeln Gottes in Gnade, die wahre Form des Reiches der
Himmel, die Berufung der Nationen und die Bildung der Versammlung (Kirche)
vollkommen übergangen. Wir finden einige dieser Geheimnisse später in unserem
Evangelium. Im
10. Kapitel ist es einfach ein jüdisches Zeugnis seitens Jahwe-Messias in
seiner unermüdlichen Liebe durch seine zwölf Herolde. Trotz des ständig
zunehmenden Unglaubens hält Er bis zuletzt aufrecht, was seine Gnade für Israel
beschlossen hatte. Er wollte passende Boten senden. Das Werk würde jedoch nicht
zu Ende sein, wenn der verworfene Messias, der Sohn des Menschen, wiederkommt.
Die Apostel werden also mit den dargelegten Worten ausgesandt und sind ohne
Zweifel Vorläufer derer, die der Herr zu einer späteren Zeit erwecken wird. Die
Zeit fehlt mir, um bei diesem interessanten Kapitel zu verweilen. Mein Thema
ist, so klar wie möglich die Struktur unseres Evangeliums herauszustellen und
nach dem Maß meiner Erkenntnis zu erklären, warum es diese großen Unterschiede
zwischen dem Matthäus- und den übrigen Evangelien gibt. Die Unwissenheit liegt
allein auf unserer Seite. Alles, was sie berichten oder weglassen, entspricht
der weit reichenden und gnädigen Weisheit Dessen, der sie inspirierte.
Das
11. Kapitel ist von unübertrefflicher Schönheit und in seiner Lehre
außerordentlich wichtig für Israel. Darum darf ich nicht ohne einige Worte
darüber hinweggehen. Hier finden wir unseren Herrn nach der Aussendung der
auserwählten Zeugen der Wahrheit von seiner Messiasschaft, was vor allem für
Israel so bedeutsam war. Er ist sich durchaus seiner völligen Verwerfung bewusst
und erfreut sich dennoch an Gottes, des Vaters, Ratschlüssen der Herrlichkeit
und Gnade. Denn das wahre Geheimnis des Kapitels liegt darin, dass Er in
Wirklichkeit nicht nur der Messias, nicht bloß der Sohn des Menschen, sondern
auch der Sohn des Vaters ist, dessen Person niemand als nur Er selbst kennt.
Doch vom Anfang bis zum Ende – was für eine Erprobung des Geistes und was für
ein Triumph! Manche meinen, dass Johannes, der Täufer, nicht für sich selbst die
Frage stellte, sondern für seine Jünger. Ich sehe jedoch keinen ausreichenden
Grund, warum Johannes seine anhaltende Gefangenschaft nicht schwer mit einem auf
der Erde anwesenden Messias im Einklang bringen konnte. Ich glaube auch nicht,
dass jene den Fall richtig beurteilen oder eine eingehende Kenntnis des
menschlichen Herzens haben, welche solche Zweifel an der Aufrichtigkeit des
Johannes erheben. Noch weniger scheinen sie mir den Charakter dieses geehrten
Mannes Gottes zu erhöhen, wenn sie ihm eine Rolle zuschreiben, die in
Wirklichkeit anderen zusteht. Was ist einfacher, als anzunehmen, dass Johannes
diese Frage durch seine Jünger stellte, weil er (und nicht nur sie) eine Frage
hatte? Wahrscheinlich war es nicht mehr als eine große, wenn auch vorübergehende
Schwierigkeit, welche er in ihrer ganzen Fülle um ihret-, aber auch um
seinetwillen geklärt haben wollte. Kurz gesagt: Er hatte eine Frage, weil er ein
Mensch war. Wir haben sicherlich nicht das Recht, dies für unmöglich zu halten.
Besitzen wir trotz höherer Vorrechte solch unerschütterlichen Glauben, dass wir
Zweifel seitens des Johannes für unglaubwürdig halten, so dass wir sie nur in
seinen wankenden Jüngern vermuten können? Möchten doch solche, die so wenig
Erfahrung von dem haben, was der Mensch, sogar der Wiedergeborene, in sich
selbst ist, aufpassen; denn sonst schreiben sie dem Täufer eine gleiche Rolle
zu, wie sie Hieronymus
in schockierender Weise in dem Tadel von
Galater 2 bei Petrus und Paulus sieht! Der Herr kannte zweifellos das
Herz seines Dieners und empfand mit ihm die Wirkung, welche die Umstände auf ihn
ausübten. Wenn Er spricht:
„Glückselig ist, wer irgend nicht an mir Anstoß nimmt!“ (V. 6),
dann ist es für mich klar, dass Er damit auf ein Schwanken der Seele des
Johannes – wenn auch nur für einen Augenblick – anspielt. Tatsache ist, geliebte
Geschwister, es gibt nur einen Jesus. Und wer immer es auch sein mag, sei es
Johannes der Täufer oder der Größte im Reich der Himmel – es ist trotz allem nur
der von Gott gegebene Glaube, der uns aufrechterhält. Anderenfalls muss der
Mensch auf schmerzliche Weise lernen, was er in sich selbst ist. Und was kann
man von ihm schon erwarten?
Unser Herr antwortete voller Würde und in Gnade. Er stellte den Jüngern des
Johannes die wahre Lage der Dinge vor. Er versorgte sie mit klaren, positiven
Fakten, so dass für Johannes nichts mehr fehlte, wenn er sie als ein Zeugnis
seitens Gottes abwägte. Nachdem Er dies dargelegt hatte, fügte Er noch ein Wort
an des Täufers Gewissen hinzu, sprach über seine Person und verteidigte ihn.
Johannes' Aufgabe sollte sein, die Herrlichkeit Jesu auszurufen. Doch alles in
dieser Welt ist genau das Gegenteil von dem, was es sein sollte – und was es
sein wird, wenn Jesus in Macht und Herrlichkeit kommt und den Thron einnimmt.
Aber als der Herr auf der Erde war, bot der Unglaube anderer nur die
Gelegenheit, die Gnade Jesu erstrahlen zu lassen. So geschah es auch jetzt; und
unser Herr benutzte in seiner Güte das Zukurzkommen Johannes' des Täufers, des
Größten von Frauen Geborenen, um ewige Dinge zu behandeln. Es lag Ihm fern, die
Stellung seines Knechtes herabzusetzen; und Er erklärte ihn zum Größten unter
den sterblichen Menschen. Das Versagen dieses Größten von Frauen Geborenen gab
Ihm nur den rechten Anlass, um den bevorstehenden großen Wechsel zu zeigen. Dann
würde es sich nicht mehr um eine Angelegenheit des Menschen handeln, sondern
Gottes, ja, des Reiches der Himmel. Und der Geringste in diesem neuen Verhältnis
sollte größer sein als Johannes. Ein weiterer Aspekt macht diese Wahrheit jedoch
noch bedeutungsvoller, nämlich die Gewissheit, dass, so strahlend das Reich auch
ist, es keineswegs dem Herzen Jesu am nächsten steht. Die Versammlung (Kirche),
welche sein Leib und seine Braut ist, hat eine viel innigere Bindung zu Ihm,
obwohl sie aus den gleichen Personen besteht.
Als nächstes legte Er den launenhaften Unglauben des Menschen bloß. Dieser ist
nur darin beständig, allem, was Gott in seiner Güte aufwendet, und jeder Person,
die Er sendet, entgegenzuarbeiten. Zuletzt besprach der Herr seine völlige
Verwerfung unter denen, wo Er am meisten gearbeitet hatte. Es ging also weiter
auf das bittere Ende zu – und wohl kaum ohne solche Leiden und solchen Schmerz,
wie sie nur heilige, selbstlose und gehorsame Liebe kennt. Wie erbärmlich sind
wir, dass wir solche Beweise brauchen! Wie erbärmlich, dass wir zu herzenskalt
sind, um diese Liebe in rechter Weise zu beantworten oder selbst ihre Tiefe zu
empfinden!
„Dann fing er an, die Städte zu schelten, in denen seine meisten Wunderwerke
geschehen waren, weil sie nicht Buße getan hatten: Wehe dir, Chorazin! Wehe dir,
Bethsaida! Denn wenn in Tyrus und Sidon die Wunderwerke geschehen wären, die
unter euch geschehen sind, längst hätten sie in Sack und Asche Buße getan. Doch
ich sage euch: Tyrus und Sidon wird es erträglicher ergehen am Tag des Gerichts
als euch. …
Zu jener Zeit hob Jesus an und sprach: Ich preise dich, Vater …“ (V. 20–25).
Was für Gefühle in solcher Zeit! Oh, was für eine Gnade – sich so zu beugen und
Gott selbst dann zu preisen, wenn unsere geringe Mühe vergeblich zu sein
scheint! Zu jener Zeit antwortete Jesus:
„Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, dass du dies vor Weisen
und Verständigen verborgen und es Unmündigen offenbart hast. Ja, Vater, denn so
war es wohlgefällig vor dir“ (V. 25–26).
Wir scheinen völlig von dem normalen Niveau unseres Evangeliums in die höheren
Regionen des Jüngers, den Jesus liebte, hinaufgetragen zu werden. Tatsächlich
befinden wir uns in jenem Bereich, mit dem Johannes sich so gerne beschäftigt.
Wir sehen Jesus nicht mehr nur als Sohn Davids oder Abrahams, dem Samen der
Frau, sondern als den Sohn des Vaters, so wie der Vater Ihn gab, sandte,
schätzte und liebte. Dementsprechend fügte Er auch noch hinzu:
„Alles ist mir übergeben von meinem Vater; und niemand erkennt den Sohn als nur
der Vater, noch erkennt jemand den Vater als nur der Sohn und wem irgend der
Sohn ihn offenbaren will. Kommt her zu mir, alle ihr Mühseligen und Beladenen,
und ich werde euch Ruhe geben“ (V. 27–28).
Wir können natürlich jetzt nicht weiter auf diese Verse eingehen. Ich möchte im
Vorbeigehen nur darauf hinweisen, wie die ständig zunehmende Verwerfung des
Herrn Jesus in seiner geringeren Herrlichkeit die Offenbarung seiner höheren
hervorruft. Deshalb, glaube ich, gibt es keinen Angriff auf den Namen des Sohnes
Gottes und keinen Pfeil, der gegen Ihn abgeschossen wird, welchen der Geist
Gottes nicht in heiliger, wahrer und lieblicher Weise benutzt, um aufs Neue und
noch lauter seine Herrlichkeit zu bestätigen. Damit wird gleichzeitig der
Ausdruck seiner Gnade gegen den Menschen vergrößert. Das können weder
Überlieferungen noch menschliche Gedanken oder Gefühle.
Fußnoten
In
Kapitel 12 finden wir nicht so sehr Jesus in der Gegenwart der Menschen, die
Ihn verachten, als vielmehr diese Männer Israels, die Verwerfer, in der
Gegenwart Jesu. Folglich offenbart der Herr Jesus überall, dass das Gericht
Israels schon verkündigt ist und bevorstand. Wenn Er verworfen wurde, dann
wurden diese spöttischen Menschen gerade durch diese Handlung selbst verworfen.
Das Abpflücken der Ähren und die Heilung der verdorrten Hand hatten lange vorher
stattgefunden. Markus gibt sie am Ende seines zweiten und am Anfang seines
dritten Kapitels. Warum sind sie hierher versetzt worden? Weil es die Aufgabe
des Matthäus ist, den Wechsel der Haushaltung durch die – oder, besser gesagt,
als Folge der – Verwerfung Jesu durch die Juden zu entfalten. Deshalb wartet er,
bis er ihre Verwerfung des Messias in sittlicher Hinsicht so vollständig wie
möglich – obwohl notwendigerweise nicht unbedingt in ihrer praktischen Erfüllung
– darstellen kann. Natürlich konnte ausschließlich das Kreuz einen
offensichtlichen und buchstäblichen Beweis dieser Verwerfung liefern. Aber wir
finden diese schon in seinem Leben; und es ist gesegnet, sie in dem, was Ihm
begegnete, erfüllt zu sehen. Er verwirklichte seine Verwerfung vorher in seinem
Geist. Und ihre Ergebnisse wurden herausgestellt, bevor die äußeren Ereignisse
den jüdischen Unglauben voll zum Ausdruck brachten. Er wurde nicht von den
Geschehnissen überrascht; Er wusste alles von Anfang an. Der unversöhnliche Hass
des Menschen wurde in dem Verhalten und der Gesinnung seiner Verwerfer voll
herausgestellt. Der Herr Jesus zeigte sozusagen in diesen beiden Begebenheiten
an Sabbat-Tagen schon, was folgen würde, bevor Er das Urteil aussprach. Doch
dabei brauchen wir uns momentan nicht aufzuhalten.
Das erste Ereignis besteht in der Verteidigung der Jünger, indem der Herr sich
auf Analogien stützt, die Gott in alten Zeiten bestätigt hatte. Außerdem spricht
Er von seiner persönlichen Herrlichkeit, die Er jetzt hat. Verwerfe Ihn als
Messias! In dieser Verwerfung wird seine moralische Herrlichkeit als Sohn des
Menschen zur Grundlage für seine Verherrlichung und Offenbarung an einem
zukünftigen Tag. Er war der Herr des Sabbats. Im nächsten Ereignis
entstammt die Kraft der Entgegnung aus der Güte Gottes gegen das Elend des
Menschen. Gott missachtet wegen des ruinierten Zustands Israels, welches seinen
wahren gesalbten König abwies, Einzelheiten der vorgeschriebenen Anordnungen.
Aber Er stützt auch den Grundsatz, dass Er sich keineswegs verpflichten lässt,
dort nichts Gutes zu tun, wo schreckliche Not ist. Letzteres mochte zu einem
Pharisäer passen. Es mochte eines gesetzlichen Formalisten würdig sein. Es passt
jedoch nicht zu Gott. Und der Herr Jesus war nicht gekommen, um sich ihren
Gedanken anzupassen, sondern um vor allem Gottes Willen einer heiligen Liebe in
einer bösen, elenden Welt zu tun.
„Siehe, mein Knecht, den ich erwählt habe, mein Geliebter, an dem meine Seele
Wohlgefallen gefunden hat“ (V. 18).
Das war wahrhaftig Emmanuel, Gott mit uns! Wenn Gott da war – was konnte, was
wollte Er sonst tun? Jetzt wirkte Er noch in demütiger, stiller Gnade nach den
Worten des Propheten; allerdings wird auch bald die Stunde für den Sieg im
Gericht schlagen. So zog Er sich sanftmütig zurück und heilte weiter; dennoch
verbot Er, dass es bekannt gemacht wurde. Dabei wird jedoch im Verlauf der
Ereignisse mehr und mehr die völlige Verwerfung seiner Verwerfer offenbar. Das
zeigt sich weiter unten in unserem Kapitel, nachdem der Dämon aus dem blinden
und stummen Menschen angesichts der erstaunten Volksmenge ausgetrieben war.
Irritiert durch deren Frage:
„Dieser ist doch nicht etwa der Sohn Davids?“ (V. 23), versuchten die
Pharisäer das Zeugnis mit äußerster, lästernder Verachtung zu zerstören.
„Dieser (Bursche)“
(V. 24).
Die Übersetzer der englischen Bibel haben den Sinn dieser Stelle gut getroffen.
Denn der Ausdruck trägt wirklich diese Geringschätzung in sich, obwohl das Wort
„Bursche“ dort kursiv geschrieben ist. Das griechische Wort wird ständig als ein
Ausdruck der Nichtachtung verwandt.
„Dieser (Bursche) treibt die Dämonen nicht anders aus, als durch den Beelzebub,
den Fürsten der Dämonen“ (V. 24).
Der Herr zeigt ihnen ihre wahnsinnige Torheit und warnt sie vor einer noch
schwerwiegenderen und tödlicheren Form der Lästerung. Diese würde ihren
Höhepunkt erreichen, indem man genauso über den Heiligen Geist sprechen würde,
wie jetzt über Ihn. Die Menschen bedenken wenig, wie ihre Worte sich am Tag des
Gerichts anhören und als was sie sich erweisen werden. Er stellt ihnen das
Zeichen des Propheten Jona, die Buße der Männer Ninives, die Predigt Jonas und
den ernsten Eifer der Königin des Südens in den Tagen Salomos vor. Doch jetzt
wurde ein unvergleichlich Größerer verachtet. Er gibt hier allerdings nur einen
kleinen Hinweis auf das, was die Nationen bald aufgrund des verderblichen
Unglaubens und des Gerichts der Juden empfangen werden. Aber Er verschweigt in
dem folgenden Bild deren schrecklichen Weg und ihr Verderben nicht. Ihr Zustand
entsprach lange Zeit dem eines Menschen, in welchem ein unreiner Geist früher
gewohnt und den er dann wieder verlassen hatte. Von außen gesehen sah der
Zustand des Mannes verhältnismäßig rein aus. Götzen und Gräuel verunreinigten
diesen Wohnort nicht mehr wie in früheren Zeiten. Dann sagt der unreine Geist:
„Ich will in mein Haus zurückkehren, von wo ich ausgegangen bin; und wenn er
kommt, findet er es leer vor, gekehrt und geschmückt. Dann geht er hin und nimmt
sieben andere Geister mit sich, böser als er selbst, und sie gehen hinein und
wohnen dort; und das Letzte jenes Menschen wird schlimmer als das Erste. Ebenso
wird es auch diesem bösen Geschlecht ergehen“ (V. 44–45).
So stellt der Herr hier sowohl die Vergangenheit und Gegenwart als auch die
schreckliche Zukunft Israels vor. Vor dem Tag seines Kommens vom Himmel wird
nicht nur – es ist ernst zu sagen! – der Götzendienst nach Israel zurückgekehrt
sein, sondern auch in Verbindung damit die volle Macht Satans. Das erfahren wir
aus
Dan 11,36–39,
2. Thes 2,3–12 und
Off 13,11–15. Es ist klar, dass der unreine Geist bei seiner Rückkehr den
Götzendienst wieder mitbringt. Es ist ebenso klar, dass die sieben böseren
Geister die vollständige Macht des Teufels in der Unterstützung des Antichristen
gegen den wahren Christus darstellen; und letzteres ist bemerkenswerterweise mit
Götzendienst verbunden. So ist das Ende wie der Anfang, nur noch viel, viel
schlimmer.
Darauf aufbauend geht der Herr noch einen Schritt weiter. Als jemand zu Ihm
sagt:
„Siehe, deine Mutter und deine Brüder stehen draußen und suchen dich zu
sprechen“ (V. 47),
folgt eine doppelte Handlung. Zuerst sagt der Herr:
„Wer ist meine Mutter, und wer sind meine Brüder?“ (V. 48);
danach streckt Er seine Hand aus über seine Jünger mit den Worten:
„Siehe da, meine Mutter und meine Brüder; denn wer irgend den Willen meines
Vaters tut, der in den Himmeln ist, der ist mein Bruder und meine Schwester und
meine Mutter.denn wer irgend den Willen meines Vaters tut, der in den Himmeln
ist, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter“ (V. 49.50).
Das alte Band mit dem Fleisch, mit Israel, ist nun zerrissen. Nur noch das neue
Verhältnis des Glaubens, das auf das Tun des Willens des Vaters gegründet ist
(es handelt sich hier in keinster Weise um das Gesetz) wird anerkannt. Darum
wollte der Herr ein gänzlich neues Zeugnis aufrichten und ein Werk, das dazu
passte, tun. Dieses beruht nicht auf einem gesetzlichen Anspruch an den
Menschen, sondern auf der Aussaat von gutem Samen mit Leben und Frucht von Gott.
Der Schauplatz ist das unbegrenzte Feld der Welt und nicht nur das Land Israel.
In
Kapitel 13 haben wir den wohlbekannten Abriss von diesen neuen Wegen Gottes.
Das Reich der Himmel nimmt eine Gestalt an, die in der Prophetie nicht bekannt
war. Seine aufeinanderfolgenden Geheimnisse füllen die Zwischenzeit, nachdem der
verworfene Christus in den Himmel gegangen ist, bis zu seiner Rückkehr in
Herrlichkeit. Viele Worte sind jetzt nicht nötig, für das, was glücklicherweise
den meisten Lesern bekannt ist. Lasst mich im Vorbeigehen nur ein paar
Einzelheiten erwähnen. Wir finden nicht nur im ersten Gleichnis den Dienst
unseres Herrn, sondern auch im zweiten den Dienst, den Er durch seine Knechte
ausführt. Danach folgt das Heranwachsen dessen, was groß in seiner Kleinheit
war, bis es klein wurde in seiner Größe auf der Erde. Wir gewahren die
Entwicklung und das Ausbreiten der Lehre, bis der ihr zugemessene Raum ganz
unter ihren angleichenden Einfluss geraten ist. Es handelt sich hier nicht um
das Leben, wie am Anfang in dem Samen, sondern um ein System christlicher Lehre.
Wir sehen nicht das Leben, wie es keimt und Frucht bringt, sondern das bloße
Dogma und den natürlichen Verstand, der dem Dogma ausgesetzt ist. So stellen der
große Baum und der Sauerteig tatsächlich die beiden Seiten des Christentums vor.
Im Innern des Hauses hören wir, wie der Herr das zweite Gleichnis und die ganze
Geschichte von Unkraut und Weizen und die Vermischung des Bösen mit dem Guten,
welches die Gnade gesät hat, erklärt. Er zeigt jedoch darüber hinaus auch das
Reich nach den göttlichen Gedanken und Absichten. Zuerst berichtet Er vom
verborgenen Schatz im Acker, um dessentwillen der Mensch alles verkauft, was er
hat, um sich dieses Schatzes wegen den Acker zu sichern. Das Nächste ist die
eine, sehr kostbare Perle, deren Einheit und Schönheit dem Kaufmann so teuer
ist. Da waren nicht nur viele wertvolle Gegenstände, sondern auch eine
sehr kostbare Perle. Zum Schluss, wenn das allumfassende Zeugnis abgeschlossen
ist, endet alles mit einer Scheidung der Guten und Bösen im Gericht. Dann werden
nicht mehr die Guten in Gefäße gesammelt. Stattdessen beschäftigen sich die
geeigneten Werkzeuge der Macht Gottes mit den Bösen.
In
Kapitel 14 werden die Ereignisse berichtet, die den großen Wechsel der
Haushaltung offenbar machen, auf den der Herr in der Darlegung der gerade
betrachteten Gleichnisse vorbereitet hatte. Der gewalttätige Mann Herodes, der
schuldig war, schuldloses Blut vergossen zu haben, regierte damals im Land. Im
Gegensatz zu ihm ging Jesus in die Einöde, um dort zu zeigen, wer und was Er
war: Der Hirte Israels, bereit und fähig, für sein Volk zu sorgen. Die Jünger
erkannten nur unzulänglich seine Herrlichkeit; aber der Herr handelte nach
seinem Herzen. Danach entließ Er die Volksmenge und zog sich allein zurück, um
auf einem Berg zu beten. Inzwischen mühten sich die Jünger auf dem
sturmgepeitschten See ab, weil der Wind ihnen entgegen wehte. Das ist ein Bild
von dem, was sein wird, wenn der Herr Jesus Israel und die Erde verlassen hat
und in den Himmel zurückgekehrt ist. Dann nimmt alles eine andere Form an. Statt
Herrschaft auf der Erde sehen wir Fürbitte im Himmel. Schließlich, als die
Jünger in der Mitte des Sees den Höhepunkt ihrer Mühe erreicht hatten, kommt der
Herr auf dem See zu ihnen und sagte:
„Fürchtet euch nicht!“ (V. 27);
denn sie waren bestürzt und erschreckt. Petrus erbat eine Aufforderung von
seinem Meister und verließ das Schiff, um auf dem Wasser zu Ihm zu kommen.
Zuletzt sieht jedoch alles anders aus. Nicht alle gehören zu den Weisen, die
Verständnis haben, oder zu jenen, die das Volk zur Gerechtigkeit weisen (Dan
12,3). Jede Schriftstelle aus jener Zeit beweist, wie bedeutsam
Schrecken, Angst und dunkle Wolken immer wieder sein werden. So war es auch
hier. Petrus ging los. Dann verlor er bei den wilden Wellen den Herrn aus dem
Blick. Als er in seinem Herzen an die täglichen Erfahrungen dachte, fürchtete er
den starken Wind. Er wurde allein durch die ausgestreckte Hand Jesu gerettet,
welcher seinen Zweifel tadelte. Während Jesus in das Schiff stieg, hörte der
Wind auf. Danach entfaltete die gnädige Macht des Herrn ihre wohltätige Wirkung
in der ganzen Gegend. Das alles ist eine kleine Vorschattung von dem, was sein
wird, wenn der Herr in den letzten Tagen zum Überrest kommt und das Land,
welches Er betritt, mit Segnungen füllt.
In
Kapitel 15 haben wir ein anderes Bild, und zwar in zweifacher Hinsicht. Die
stolze, traditionsreiche Heuchelei Jerusalems wird herausgestellt und die
geprüfte Heidin durch die Gnade gesegnet. Diese Ereignisse finden ihren
passenden Platz nicht im Lukas-, sondern im Matthäusevangelium, zumal die
Einzelheiten hier, anders als bei Markus, der diesmal ganz allgemein bleibt,
großes Licht auf die Wege Gottes hinsichtlich der Haushaltungen wirft. Zunächst
haben wir also die falschen Gedanken der
„Pharisäer und Schriftgelehrten von Jerusalem“ (V. 1), die vom Herrn
gerichtet wurden. Das gab Ihm die Gelegenheit, vorzustellen, was wirklich
verunreinigt. Es sind nicht die Dinge, die in den Menschen hineingelangen,
sondern die aus dem Mund hervorkommen und ihren Ursprung im Herzen haben. Das
Essen mit ungewaschenen Händen verunreinigt einen Menschen nicht. Diese Worte
sind der Todesstreich für menschliche Tradition und Brauchtum in göttlichen
Dingen. Er beruht in der Tat auf der Wahrheit von dem absoluten Verderben des
Menschen – einer Wahrheit, die auch die Jünger, wie wir sehen, nur langsam
erkennen konnten.
Auf der anderen Seite des Bildes sehen wir den Herrn, wie Er eine Seele dazu
führte, sich in der herrlichsten Weise auf die göttliche Gnade zu stützen. Die
kanaanäische Frau aus den Gegenden von Tyrus und Sidon kam zu Ihm. Sie war eine
Heidin, deren Volk und Abstammung an sich schon unheilvoll und deren Lage zudem
verzweifelt war; denn sie wandte sich an den Herrn wegen ihrer Tochter, die
schlimm von einem Dämon besessen war. Was können wir von ihrem Verständnis
sagen? War sie nicht in ihren Gedanken völlig verwirrt? Hätte der Herr ihre
Worte genau beachtet, dann wäre es ihr Tod gewesen.
„Erbarme dich meiner, Herr, Sohn Davids!“ (V. 22), schrie sie. Doch was
hatte sie mit dem Sohn Davids zu tun? Und was hatte der Sohn Davids mit
einer kanaanäischen Frau zu tun? Wenn Er als Sohn Davids regieren wird, dann
gibt es keinen Kanaaniter mehr im Haus Jahwes der Heerscharen (Sach
14,21). Das Gericht wird sie vorher ausgerottet haben. Aber der Herr
konnte sie nicht ohne eine Segnung wegschicken – eine Segnung, die seiner
Herrlichkeit entsprach. Anstatt ihr sofort eine Antwort zu geben, führte Er sie
Schritt für Schritt weiter; denn so weit konnte Er sich herablassen. So groß war
seine Gnade, so groß seine Weisheit. Zuletzt begegnete diese Frau dem Herzen und
Gefühl Jesu im Bewusstsein ihrer völligen Nichtswürdigkeit vor Gott. Jetzt
konnte die aufgestaute Gnade, welche die Frau bis hierhin geführt hatte, wie ein
Strom fließen; und der Herr konnte ihren Glauben bewundern, obwohl er als freie
Gabe Gottes von Ihm selbst kam.
Am Ende des Kapitels finden wir ein weiteres Wunder, in dem Christus eine große
Volksmenge speist. Hier ist es, genau genommen, kein bildhafter Ausblick auf
das, was der Herr tat oder tun wollte. Ich nehme an, es ist ein erneutes Pfand
von der Wahrheit, dass Er in keiner Weise sein altes Volk vergessen würde, auch
wenn Er die Ältesten von Jerusalem richten musste und die Gnade frei zu den
Heiden hinausging. Was für eine besondere Barmherzigkeit und Zartheit erkennen
wir nicht nur im Endergebnis der Beschäftigung des Herrn mit Israel, sondern
auch schon in der Art seines Handelns mit ihm!
In
Kapitel 16 machen wir trotz (ja, geradezu, wegen) des offensichtlichen und
tiefen Unglaubens auf allen Seiten einen großen Schritt vorwärts. Der Herr hatte
den Juden nichts mehr mitzuteilen. Sein Teil war es jetzt, den Weg bis zum Ende
zu gehen. Er hatte vorher schon die neue Form des Reiches angesichts einer
Gesinnung, die sich durch die unvergebbare Lästerung des Heiligen Geistes
verraten hatte, vorgestellt. Das Werk unter seinem alten Volk war dem Grundsatz
nach abgeschlossen und ein neues Werk Gottes im Reich der Himmel enthüllt. Hier
stellt Er nicht nur das Königreich vor, sondern auch seine Versammlung (Kirche).
Den Anlass dafür gab nicht einfach der hoffnungslose Unglaube der Volksmenge,
sondern das Bekenntnis von seiner inneren Herrlichkeit als Sohn Gottes durch
seinen auserwählten Zeugen. Sobald Petrus die Wahrheit über die Person Jesu
verkündet hatte –
„Du bist der Christus, der Sohn des lebendigen Gottes“ (V. 16) –, hielt
Jesus das Geheimnis nicht länger zurück.
„Auf diesen Felsen“, sagte Er,
„werde ich meine Versammlung bauen, und die Pforten des Hades werden sie nicht
überwältigen“ (V. 18).
Er gab auch, wie wir später sehen, Petrus die Schlüssel des Reiches. Aber zuerst
erkennen wir den neuen und großen Gedanken, dass Christus ein neues Bauwerk,
seine Versammlung, auf die Wahrheit und das Bekenntnis seiner Person, des Sohnes
Gottes, bauen wollte. Zweifellos war dieser Plan eine Folge des vollständigen
Ruins Israels durch ihren Unglauben. Doch der Verfall des Geringeren öffnete den
Weg für die Gabe einer besseren Herrlichkeit als Antwort auf den Glauben des
Petrus an die Herrlichkeit des Herrn. Sowohl der Vater als auch der Sohn haben
ein ihnen angemessenes Teil in den Ratschlüssen Gottes, genauso wie auch der
Geist Gottes, der zur gegebenen Zeit vom Himmel gesandt werden sollte, wie wir
anderen Stellen der Schrift entnehmen können. Bekannte Petrus, wer der Sohn des
Menschen wirklich ist? Es war die Offenbarung des Vaters über den Sohn. Fleisch
und Blut hatten es Petrus nicht offenbart, sondern
„mein Vater, der in den Himmeln ist.“ Daraufhin hatte auch der
Herr etwas zu sagen. Er erinnerte zunächst Petrus an seinen neuen Namen, der zu
dem passte, was dann folgt. Er stand im Begriff, seine Versammlung
„auf diesen Felsen“ (nämlich die Wahrheit, dass Er der Sohn Gottes ist) zu
bauen. Von da an verbot Er auch den Jüngern, Ihn als Messias zu verkünden.
Das war erst einmal durch die blinde Sünde Israels vorbei. Er war auf dem Weg,
in Jerusalem zu leiden und nicht zu herrschen.
Danach erkennen wir, ach, in Petrus ein Bild von dem, was der Mensch ist, selbst
wenn ihm so große Offenbarungen gemacht wurden. Er, der soeben die Herrlichkeit
des Herrn bekannt hatte, wollte seinen Herrn nicht von seinem Weg zum Kreuz
reden hören. Dabei konnte sowohl die Versammlung als auch das Reich nur auf
dieser Grundlage aufgerichtet werden. Petrus suchte, Ihn von dem Weg
abzubringen. Aber das einzigartige Auge Jesu entdeckte sofort die Schlinge
Satans, in der Petrus durch fleischliche Gedanken möglicherweise einem Fall
entgegengeführt wurde. Und da dessen Worte nicht göttliche, sondern menschliche
Gedanken verrieten, indem er sich des Herrn schämte, befahl der Herr ihm, hinter
Ihn (nicht: hinweg) zu gehen. Anschließend bestand der Herr nachdrücklich
darauf, dass das Kreuz zu seinem Weg gehörte und dass diese Wahrheit sich auch
in jedem, der Ihm nachfolgen will, verwirklichen muss. Die Herrlichkeit der
Person Christi stärkt uns, sodass wir nicht nur sein Kreuz verstehen, sondern
auch unser eigenes aufnehmen.
In
Kapitel 17 wird uns ein anderer Schauplatz gezeigt, dessen Anblick schon in
Matthäus 16,28 einigen der Dabeistehenden verheißen war und der, wenn
auch verborgen, mit dem Kreuz in Verbindung stand. Es ist die Herrlichkeit
Christi. Es ist nicht so sehr die Herrlichkeit als Sohn des lebendigen Gottes,
sondern vielmehr diejenige des erhöhten Sohnes des Menschen, der einst hienieden
litt. Nichtsdestoweniger verkündete auch in dieser Entfaltung der Herrlichkeit
des Königreiches die Stimme des Vaters Ihn als seinen eigenen Sohn und nicht nur
als den verherrlichten Menschen. Es war natürlich das Reich Christi als Mensch,
doch Er blieb dabei Gottes eigener Sohn, sein geliebter Sohn, an dem Er
Wohlgefallen gefunden hatte. Jetzt sollte man Ihn hören und nicht Moses und
Elias, welche verschwinden, um Ihn mit den ausgewählten Zeugen allein zu lassen.
Danach offenbarte sich der traurige Zustand der Jünger am Fuß des Berges, wo
Satan in dem gefallenen und ruinierten Menschen herrschte. Trotz aller
Herrlichkeit Jesu, des Sohnes Gottes und Sohnes des Menschen, bewiesen die
Jünger, dass sie nicht wussten, wie sie seine Gnade für andere Menschen nutzen
konnten. Dabei war das doch ihre eigentliche Aufgabe hienieden! Der Herr zeigt
jedoch in diesem Kapitel, dass es nicht allein darauf ankommt, was Er getan und
was Er erlitten hat, bzw. was bald geschehen wird. Es kommt vor allem auch
darauf an, was Er war, was Er ist und was Er immer sein wird. Das offenbarte
sich in ganz besonders gesegneter Weise durch das Versagen der Jünger. Petrus,
der gute Bekenner von Kapitel 16, macht eine traurige Figur in Kapitel 17; denn
als man ihn ausforschte, ob sein Lehrer die Steuer bezahle, antwortete er, dass
sein Herr sicherlich ein zu guter Jude sei, um das zu vernachlässigen. Doch
unser Herr fragte Petrus mit Würde:
„Was dünkt dich, Simon?“ Er bekundete, dass zu derselben Zeit, als Petrus
die Erscheinung und die Stimme des Vaters vergaß und Ihn praktisch auf den Boden
eines einfachen Menschen stellte, Er Gott, offenbart im Fleisch, blieb. Es ist
immer so. Gott erweist, was Er ist, in der Offenbarung Jesu.
„Von wem erheben die Könige der Erde Zoll oder Steuer, von ihren Söhnen oder von
den Fremden? Petrus sagt zu ihm: Von den Fremden. Jesus sprach zu ihm: Demnach
sind die Söhne frei. Damit wir ihnen aber keinen Anstoß geben, geh an den See,
wirf eine Angel aus und nimm den ersten Fisch, der heraufkommt, tu sein Maul
auf, und du wirst einen Stater finden; den nimm und gib ihnen für mich und dich“
(V. 25–27).
Ist es nicht sehr schön, wenn wir sehen, dass Er, der sofort seine göttliche
Herrlichkeit bewies, uns mit sich verbindet? Wer, außer Gott, konnte nicht nur
den Wellen, sondern auch den Fischen des Sees gebieten? Selbst die großzügigste
Gabe, die Gott jemals dem gefallenen Menschen auf der Erde gegeben hatte, und
zwar dem goldenen Haupt der Nationen (Dan
2), umfasste nicht die Tiefe der Wasser und ihre ungezähmten Bewohner.
Wenn
Psalm 8 weiter geht, dann gewiss für den Sohn des Menschen, der, weil Er
den Tod erlitten hatte, erhöht wurde. Ja, es ist sein Teil, genauso das Meer zu
beherrschen und ihm und seinen Geschöpfen zu befehlen wie dem Land und allem,
was darauf lebt. Er brauchte dazu auch nicht auf seine Erhöhung als Mensch zu
warten; denn Er war immer Gott und Gottes Sohn, der darum, wenn man so sagen
darf, auf nichts – auf keinen Tag der Herrlichkeit – warten musste. Auch die Art
und Weise ist bemerkenswert. Eine Angel wurde in den See geworfen, und der
Fisch, der sie annahm, brachte das erforderliche Geld für Petrus und seinen
gnädigen Lehrer und Herrn. Einen Fisch würde wohl kein Mensch zu seinem Bankier
machen. Bei Gott sind alle Dinge möglich. Er wusste, wie Er in
bewunderungswürdiger Weise in einer einzigen Handlung sowohl göttliche
Herrlichkeit, die unwiderlegbar verteidigt wurde, als auch demütigste Gnade in
einem Menschen verschmelzen konnte. Und so dachte Er, dessen Herrlichkeit von
seinem Jünger vergessen wurde, Jesus, an gerade jenen Jünger und sagte:
„Für mich und dich.“
Das
18. Kapitel nimmt die beiden Gedanken bezüglich des Reiches und der
Versammlung wieder auf. Es zeigt die Bedingung für den Eintritt in das Reich und
die Entfaltung der göttlichen Gnade und ihre Anwendung in lieblichster Weise –
und zwar in der Praxis. Das Vorbild ist der Sohn des Menschen, wie Er Verlorene
rettet. Er führt nicht das Gesetz ein, um das Reich zu regieren oder die
Versammlung (Kirche) zu leiten. Die beispiellose Gnade des Heilandes muss
hinfort die Heiligen formen und gestalten. Am Ende des Kapitels wird im
Gleichnis die unbegrenzte Vergebung, die dem Reich angemessen ist, vorgestellt.
Ich kann nicht anders, als hier in die Zukunft zu schauen, wo diese Wahrheit in
Vollkommenheit erfüllt wird; aber sie hat auch ihre besondere Bedeutung für die
sittlichen Bedürfnisse der Jünger damals und immer. Im Königreich wird die
Vergeltung umso schonungsloser sein, je mehr die Gnade verachtet oder
missbraucht wurde. Alles dreht sich darum, was zu einem solchen Gott, dem Geber
seines eigenen Sohnes, passt. Wir brauchen dabei nicht zu verweilen.
Kapitel 19 bringt eine andere wichtige Belehrung. Wie erhaben auch immer die
Kirche oder das Königreich sein mögen – genau zu der Zeit, als der Herr seine
neue Herrlichkeit in beiden entfaltete, hielt Er die natürliche Sittsamkeit in
ihren Rechten unantastbar aufrecht. Es gibt keinen größeren Fehler als die
Annahme, dass Gott wegen der reichen Entwicklung seiner Gnade in den neuen
Dingen die natürlichen Beziehungen und ihre Autorität an ihren Plätzen aufgibt
oder abschwächt. Das ist, denke ich, eine große Lektion, die zu oft vergessen
wird. Beachten wir, dass das Kapitel damit beginnt, die Heiligkeit der Ehe zu
verteidigen! Zweifellos ist es ein Band der Natur, das nur für dieses Leben
gilt. Nichtsdestoweniger hält der Herr es aufrecht und reinigt es von allen
Zusätzen, die hinzugekommen sind und seinen ursprünglichen und besonderen
Charakter verdunkeln. So beeinträchtigen die neuen Offenbarungen der Gnade in
keinster Weise das, was Gott früher in der Natur eingesetzt hatte. Im Gegenteil,
sie verleihen diesen Beziehungen eine neue und größere Bedeutung, indem sie den
wahren Wert und die Weisheit der Wege Gottes sogar in diesen geringsten
Umständen bestätigen.
Ein ähnlicher Grundsatz wird auch auf die kleinen Kinder, die als nächstes
eingeführt werden, angewandt. Ja, er gilt im Wesentlichen für alle natürlichen
oder sittlichen Beziehungen hienieden. Gerade weil die Gnade das ausdrückt, was
Gott für eine ruinierte Welt ist, wird den Eltern, den Jüngern und in gleicher
Weise den Pharisäern gezeigt, dass die Gnade Kenntnis von dem nimmt, was der
Mensch in seiner eingebildeten Würde für völlig bedeutungslos hält. Bei Gott ist
nicht nur alles möglich, sondern es wird auch niemand, ob klein oder groß,
verachtet. Alles wird an seinem rechten Platz gesehen und dorthin gestellt; und
die Gnade, welche den Stolz des Geschöpfes zurechtweist, kann es sich leisten,
sowohl mit dem Kleinsten als auch mit dem Größten göttlich zu handeln.
Ein Vorrecht sollte uns ganz besonders offenbar geworden sein, nämlich jenes,
welches wir bei und in Jesus gefunden haben. So können wir jetzt sagen: Nichts
ist für uns zu groß und nichts für Gott zu klein. Außerdem finden wir dort Raum
für die tiefste Selbstverleugnung. Die Gnade formt die Herzen derjenigen, die
das verstehen, entsprechend der großen Offenbarung dessen, was Gott und auch was
der Mensch ist, wie es sich in der Person Jesu gezeigt hat. Das sehen wir ganz
deutlich in der Annahme der kleinen Kinder. In dem Folgenden wird es gewöhnlich
nicht so leicht erkannt. Der reiche junge Oberste (Lk
18,18) war nicht bekehrt. Weit davon entfernt, konnte er in der Probe,
auf die Christus ihn in seiner Liebe stellte, nicht bestehen. Zuletzt, wird uns
erklärt,
„ging er betrübt weg“ (V. 22).
Er war unwissend über sich selbst, weil er unwissend über Gott war. Er bildete
sich ein, dass das Problem nur darin bestände, was der Mensch für Gott Gutes
tue. Daran hatte er, wie er sagte, von Jugend an gearbeitet.
„Was fehlt mir noch?“ (V. 20).
Er hatte das Empfinden, irgendetwas Gutes nicht getan zu haben. Wegen dieses
Makels wandte er sich an Jesus, damit ihm abgeholfen werde. Wenn man alles um
des himmlischen Schatzes willen aufgibt, um zu dem verachteten Nazarener zu
kommen und Ihm nachzufolgen – was ist das im Vergleich zu dem, was Jesus auf die
Erde herab führte? Das war jedoch viel zu viel für den jungen Mann. Wir sehen
das Geschöpf, wie es sein Bestes tut, aber dabei beweist, dass es das
Geschaffene mehr liebt als den Schöpfer. Jesus erkannte nichtsdestoweniger alles
Anerkennenswerte in ihm an.
Nach diesem wird in unserem Kapitel aufgezeigt, wie sehr das, was der Mensch gut
nennt, ein Hindernis darstellt.
„Wahrlich, ich sage euch: Schwerlich wird ein Reicher in das Reich der Himmel
eingehen“ (V. 23).
Das stellt klar, dass diese Schwierigkeit nur von Gott gelöst werden kann. Dann
rühmte sich Petrus, und zwar nicht nur für sich selbst, sondern auch für alle
anderen Jünger. Der Herr bestätigte völlig, dass Er nichts vergisst und alles,
was durch die Gnade in Petrus oder den anderen hervorgebracht worden war,
anerkennt. Er öffnete jedoch dieselbe Tür für einen jeden, der seine eigene
Natur um des Herrn willen verleugnet. Schließlich fügte Er die ernsten Worte
hinzu:
„Aber viele Erste werden Letzte, und Letzte Erste sein“ (V. 30).
Zum Abschluss des Kapitels erfahren wir also, dass jede Sinnesart und das Maß
all dessen, was wir um Seinetwillen aufgeben, seine würdige Belohnung und die
entsprechenden Resultate finden wird. Doch der Mensch kann das genauso wenig
beurteilen, wie er seine Errettung bewirken kann. Es treten für uns
unerklärliche Veränderungen in der Reihenfolge auf:
„Viele Erste werden Letzte, und Letzte Erste sein.“
Am Anfang des nächsten Abschnitts
(Kap. 20,1–28) steht nicht der Lohn im Vordergrund, sondern das Recht und
der Anspruch Gottes, nach seiner Güte zu handeln. Er ist nicht bereit, sich zu
einem menschlichen Maßstab herabzulassen. Der Richter der ganzen Erde wird recht
handeln (vgl.
1. Mo 18,25). Aber wie wird Er handeln, der doch der Geber alles Guten
ist?
„Denn das Reich der Himmel ist gleich einem Hausherrn, der frühmorgens ausging,
um Arbeiter für seinen Weinberg anzuwerben. Nachdem er aber mit den Arbeitern
über einen Denar den Tag einig geworden war, sandte er sie in seinen Weinberg. […] Und
als die um die elfte Stunde Angeworbenen kamen, empfingen sie je einen Denar.
Und als die ersten kamen, meinten sie, dass sie mehr empfangen würden; doch
empfingen auch sie je einen Denar“ (V. 1–10).
Der Herr behauptet sein souveränes Recht, Gutes zu tun und mit seinem Eigentum
zu verfahren, wie Er es will. Die erste dieser Lektionen besteht darin:
„Viele Erste werden Letzte und Letzte Erste sein“ (Mt
19,30).
Damit wird eindeutig auf ein Versagen der menschlichen Natur angespielt, das zur
Umkehrung dessen führt, was man erwarten konnte. Die zweite Lektion ist:
„So werden die Letzten Erste und die Ersten Letzte sein. [Denn viele sind
Berufene, wenige aber Auserwählte]“ (V. 16).
Das ist die Macht der Gnade. Gott erfreut sich daran, die Letzten für den ersten
Platz auszuwählen, um die Ersten nach der eigenen Kraft herabzusetzen.
Zuletzt tadelte der Herr den Ehrgeiz der Söhne des Zebedäus und damit in
Wirklichkeit auch den der zehn anderen Jünger; denn warum sonst entstand eine
solch lebhafte Entrüstung gegen die beiden Brüder? Warum nicht Kummer und Scham
darüber, dass sie so wenig die Empfindungen ihres Lehrers kannten? Wie oft
verrät sich das Herz nicht nur durch das, was wir erbitten, sondern auch durch
unsere unpassenden Gefühle gegen andere Leute und ihre Fehler! Tatsächlich
richten wir uns selbst, wenn wir andere richten.
Hier schließe ich heute Abend. Ich komme jetzt zur endgültigen Krise, das ist
die letzte Vorstellung unseres Herrn an Jerusalem. Ich habe, wenn auch nur
flüchtig – und, wie ich fühle, sehr unvollkommen – versucht, die Beschreibung
des Heilandes zu erläutern, zu welcher der Heilige Geist Matthäus befähigt hat.
Im nächsten Vortrag hoffe ich, den Rest seines Evangeliums zu behandeln.
In Kapitel 20,29–34 wird uns von der letzten Präsentation des Herrn an Jerusalem
berichtet. Sie begann bei der Stadt Jericho, der einstigen Festung der Macht der
Kanaaniter. Der Herr Jesus offenbarte sich in Gnade und besiegelte nicht den
Fluch, der über sie ausgesprochen worden war (Jos
6,26). Im Gegenteil, Er machte sie zu einem Zeugen seiner Barmherzigkeit
gegen jene, die in Israel glaubten. Dort saßen zwei Blinde (denn Matthäus zeigt,
wie wir gesehen haben, häufig diese doppelten Erweise von der Gnade des Herrn)
am Wegrand und riefen der Situation angemessen aus:
„Erbarme dich unser, Herr, Sohn Davids!“ (V. 30).
Sie waren von Gott angeleitet und belehrt. Es ging hier nicht um das Gesetz,
sondern um seine Fähigkeit als Messias. Ihr Appell stimmte völlig mit der Szene
überein. Sie fühlten, dass die Nation kein Empfinden für ihre eigene Blindheit
hatte und wandten sich folglich an den Herrn, der sich an dem Ort vorstellte, wo
in alten Tagen die Macht Gottes gewirkt hatte. Es ist auffallend, dass trotz der
in Israel von Zeit zu Zeit geschehenen Zeichen und Wunder, in denen Kranke
geheilt und sogar Tote auferweckt und Aussätzige gereinigt wurden, wir niemals
vor dem Auftreten des Messias davon hören, dass Blinde das Sehvermögen geschenkt
bekamen. Die Rabbiner sind der Auffassung, dass dies dem Messias vorbehalten
sei; und ich weiß von keinem Fall, der ihrer Ansicht widerspricht. Sie scheinen
ihre Meinung auf die bemerkenswerte Prophezeiung Jesajas (Jes
35,6) zu gründen. Ich möchte nicht bestätigen, dass diese Prophezeiung
einen Grund liefert, diese Art des Wunders von den übrigen abzusondern. Aber es
ist ganz offensichtlich, dass der Geist Gottes nachdrücklich die Öffnung von
blinden Augen mit dem Sohn Davids verbindet als Teil des Segens, den Er
ausgießen wird, wenn Er kommt, um über die Erde zu herrschen.
Hier fällt auch auf, dass Jesus die Segnung nicht bis zur Zeit seiner Herrschaft
zurückhält. Zweifellos gab der Herr in jenen Tagen Zeichen und Wunder des
zukünftigen Zeitalters (Heb
6,5); und seine Knechte setzten später dieses Werk fort, wie wir am Ende
des Markusevangeliums, in der Apostelgeschichte usw. sehen. Die Wunderkräfte,
die Er ausübte, waren Muster von der Macht, welche die Erde mit der Herrlichkeit
Jahwes erfüllen, den Feind austreiben und die Spuren seiner Macht auslöschen
wird, um die Erde zum Schauplatz der Offenbarung seines Königreiches hienieden
zu machen. So bewies unser Herr, dass die Macht in Ihm schon anwesend war und
dass die Bedürftigen dadurch, dass das Reich im vollsten Sinn des Wortes noch
nicht gekommen war, keinen Mangel leiden mussten; denn das Reich war in seiner
Person gewissermaßen schon da, wie es von Matthäus (Mt
12,28) und auch Lukas (Lk
17,21) gesagt wird. Auch wurde der Segen für die Söhne der Menschen nicht
zurückgehalten. Von seiner königlichen Berührung ging Kraft aus. Diese war auf
jeden Fall nicht von der Anerkennung seiner Rechte seitens seines Volkes
abhängig. Er führte jenes Zeichen der messianischen Gnade – das Öffnen der
blinden Augen – aus. Es war in sich selbst kein geringes Zeichen von dem wahren
Zustand der Juden, wenn sie es nur gefühlt und anerkannt hätten! Ach, sie
fragten nicht nach Barmherzigkeit und Heilung von seiner Hand! Aber wenn in
Jericho irgendjemand war, der Ihn anrief, dann wollte der Herr hören. Hier
antwortete der Messias also auf den Ruf des Glaubens dieser beiden Blinden. Als
die Volksmenge sie bedrohte, damit sie schwiegen, schrieen sie umso mehr.
Schwierigkeiten, die dem Glauben gemacht werden, lassen die Stärke seines
Verlangens nur noch mehr anwachsen. Und so riefen sie:
„Erbarme dich unser, Herr, Sohn Davids!“ (V. 31).
Jesus blieb stehen, rief die Blinden und fragte:
„Was wollt ihr, dass ich euch tun soll?“
„Herr, dass unsere Augen aufgetan werden!“ (V. 32.33).
Und es geschah so nach ihrem Glauben. Darüber hinaus wird angemerkt, dass sie
Ihm folgten. Das ist ein Unterpfand von dem, was geschehen wird, wenn das Volk
einst seine Blindheit anerkennt und sich an Ihn wendet, um Augenlicht von dem
wahren Sohn Davids zu empfangen, um Ihn am Tag seiner irdischen Herrlichkeit
sehen zu können.
Der Herr zog dann nach den Voraussagen der Prophetie in Jerusalem ein. Das
geschah jedoch nicht mit dem äußeren Pomp und der Pracht, welche die Nation
erwartete, sondern in der buchstäblichen Erfüllung der Worte des Propheten (Sach
9,9).
Jahwes König saß im Geist der Demut auf einem Esel. Doch selbst darin wurde
aufs völligste erwiesen, dass Er Jahwe war. Vom Anfang bis zum Ende war Er, wie
wir gesehen haben, der Jahwe-Messias. Die Antwort an den Besitzer von Esel und
Füllen lautete:
„Der Herr benötigt sie“ (V. 3).
Dass Jahwe der Heerscharen den Esel beanspruchte, ließ alle Schwierigkeiten
verschwinden, obwohl der Unglaube hier seinen Stein des Anstoßes findet. Es war
wirklich die Macht des Geistes Gottes, die das Herz des Besitzers beherrschte;
denn für Christus gilt:
„Diesem öffnet der Türhüter“ (Joh
10,3).
Gott vernachlässigte nichts auf irgendeiner Seite und ließ das Herz dieses
Israeliten ein Zeugnis davon ablegen, dass die Gnade wirkte trotz der
beklagenswerten Kälte, die das Volk betäubte. Welch eine Güte, dass Er ein
Zeugnis bewirkte und es an diesem nicht fehlen ließ, selbst auf der Straße nach
Jerusalem – ach, der Straße zum Kreuz Christi!
„Dies aber ist geschehen, damit erfüllt würde, was durch den Propheten geredet
ist, der spricht: „Sagt der Tochter Zion: Siehe, dein König kommt zu dir,
sanftmütig [diese Sanftmut war kennzeichnend für
sein damaliges Kommen]
und auf einer Eselin reitend, und zwar auf einem Fohlen, einem Jungen des
Lasttiers“ (V. 4–5).
Alles musste mit dem Charakter des Nazareners übereinstimmen. Die Jünger gingen
hin und taten so, wie Jesus ihnen befohlen hatte. Auch die Volksmenge – es war
eine sehr große Volksmenge – wurde beeinflusst. Das war natürlich nur eine
vorübergehende Einwirkung, durch welche der Heilige Geist die Herzen bewegte;
Gott benutzte sie aber als Zeugnis. Sie blieb nur oberflächlich und war wie eine
Welle, die über die Herzen der Menschen hinweg fuhr und dann verschwand. Doch
einen Moment lang folgten sie ihr und riefen:
„Hosanna dem Sohn Davids! Gepriesen sei, der da kommt im Namen des Herrn!
Hosanna in der Höhe!“ (V. 9).
Sie riefen dem Herrn die Segenswünsche von
Psalm 118 zu.
Nach dem Bericht unseres Evangelisten kam Jesus zum Tempel und reinigte ihn.
Beachten wir die Reihenfolge und den Charakter der Ereignisse! Im
Markusevangelium (Kap. 11) ist die Reinigung des Tempels nicht die erste
Handlung des Herrn, die aufgezeichnet wird, sondern zuvor verfluchte Er den
unfruchtbaren Feigenbaum. Diese Tat stand zwischen seiner Musterung aller Dinge
im Tempel und seiner Vertreibung derjenigen, die ihn entweihten. Die Lösung des
Problems besteht darin: Es gab nach dem Markusevangelium zwei Tage oder
Gelegenheiten, an denen der Feigenbaum Beachtung fand. Denn Markus zeigt uns,
trotz der Kürze seines Evangeliums, mehr als die anderen Evangelisten
insbesondere die Einzelheiten. Dagegen schildert uns Matthäus die Handlungsweise
des Herrn sowohl mit dem Feigenbaum als auch dem Tempel als ein Ganzes. Das ist
auffallend, weil er uns so häufig mit einem doppelten Zeugnis der gnädigen Wege
des Herrn mit seinem Land und Volk versieht. Vom ersten Evangelisten erfahren
wir also nicht, dass es in beiden Fällen eine Unterbrechung gab. Aus dem ersten
sowie aus dem dritten Evangelium (Lk
19) können wir nicht ersehen, dass die Reinigung des Tempels nicht bei
seinem ersten Besuch erfolgte. Aber wir erfahren von Markus, der einen genauen
Bericht über beide Tage erstattet, dass in beiden Fällen nicht alles auf einmal
geschah. Dies ist umso bemerkenswerter, weil in den Ereignissen mit den beiden
Besessenen oder den beiden Blinden bei Matthäus, sowohl Markus als auch Lukas
nur von einem sprechen. Diese Besonderheiten können nur durch eine dahinter
stehende Absicht erklärt werden, zumal man annehmen muss, dass jeder der
aufeinanderfolgenden Evangelisten den Bericht seines Vorgängers über das Leben
des Herrn kannte. Es ist offensichtlich, dass Matthäus die beiden Handlungen im
Tempel und mit dem Feigenbaum in jeweils eine zusammenfasst. Sein Themenkreis
schloss Einzelheiten aus; und ich bin überzeugt, dass das richtig war und nach
den Gedanken des Geistes Gottes. Die Angelegenheit wird noch bedeutungsvoller,
wenn wir beachten, dass Matthäus dabei war und Markus nicht. Ein normaler
menschlicher Augenzeuge, der die Ereignisse wirklich gesehen hat, hätte sich
sicherlich bei den Details aufgehalten. Der persönliche Gefährte des Herrn
handelte nicht so. Wenn es nur darum gegangen wäre, alle Einzelheiten durch
einen Menschen, der den Herrn liebte, zu sammeln, dann wäre Matthäus, menschlich
gesprochen, derjenige von den drei ersten Evangelisten gewesen, welcher am
genauesten und ausführlichsten die Umstände beschrieben hätte. Markus, der
bekanntermaßen kein Augenzeuge war, hätte sich dann mit den allgemeinen
Gesichtspunkten begnügen müssen. Zweifellos ist es umgekehrt. Dies sollten wir
sehr beachten, und zwar nicht nur hier, sondern auch anderswo. Für mich ist das
der Beweis, dass die Evangelien die Frucht einer göttlichen Absicht in ihnen
allen ist; doch diese ist in jedem Evangelium anders. Gott hat als Grundsatz
festgesetzt, dass Er sich nie auf Augenzeugen beschränkt, auch wenn Er sich
herablässt, sie zu benutzen. Er weist im Gegenteil sorgfältig und ausreichend
nach, dass Er über solchen kreatürlichen Hilfsquellen der
Informationsvermittlung steht. So finden wir bei Markus und Lukas einige der
wichtigsten Einzelheiten, jedoch nicht bei Matthäus und Johannes, obwohl beide
Augenzeugen waren, im Unterschied zu Markus und Lukas.
In dem Abschnitt, den wir jetzt erreicht haben, erkennen wir einen doppelten
Beweis dafür. Für Matthäus, der das schrieb, was der Heilige Geist ihm
anvertraut hatte, gab es keinen ausreichenden Grund, sich mit Dingen zu
beschäftigen, die keinen Bezug auf Israel in Hinsicht auf seine Haushaltungen
aufwiesen. Er stellt also, wie so oft, den Besuch im Tempel in aller
Vollständigkeit dar, als sei diese Darstellung sein einzig wichtiges Ziel. Jeder
denkende Mensch muss, wenn ich nicht gewaltig irre, zugeben, dass das Eingehen
auf Einzelheiten vom Ernst einer Handlung ablenkt. Auf der anderen Seite hat
natürlich ein genauer Bericht dort seinen rechten Platz, wo es sich um die
Handlungsweise des Herrn handelt und wo man sich mit seinem Dienst und Zeugnis
beschäftigt. Hier möchte ich die Besonderheiten wissen; und jede Spur und
Schattierung ist für mich voller Belehrung. Wenn ich Ihm dienen will, dann
sollte ich jedes seiner Worte und jede Verhaltensweise dem Gedächtnis einprägen
und darüber nachsinnen. Dafür hat die Darstellungsart des Markusevangeliums
einen unschätzbaren Wert. Wer empfindet nicht, dass die Bewegungen, das
Schweigen, die Seufzer, das Stöhnen, ja, sogar die Blicke des Herrn voller Segen
für die Seele sind? Wenn indessen Matthäus als Thema den großen Wechsel der
Haushaltung als Folge der Verwerfung des göttlichen Messias darstellen soll,
dann begnügt sich der Geist Gottes mit einer allgemeinen Notiz von jener
peinlichen Szene und lässt sich nicht auf einen umständlichen Bericht darüber
ein. Das gilt vor allem, wenn, wie hier, nicht die zukünftige Barmherzigkeit,
sondern das feierliche und ernste Gericht über Israel enthüllt wird. Die
augenfälligen Unterschiede an dieser Stelle zwischen Matthäus- und
Markusevangelium führe ich hierauf zurück sowie auch die zum Lukasevangelium,
welches die Verfluchung des Feigenbaums völlig weglässt und die knappste
Schilderung der Reinigung des Tempels gibt (Lk
19,45). Die Ansicht einiger Männer, insbesondere einiger Gelehrter, dass
die Unterschiede auf die Unwissenheit des einen oder anderen oder aller
Evangelisten zurückgeführt werden muss, ist die schlechteste von allen
Erklärungen und die unvernünftigste. Es ist der klare Beweis ihrer Unwissenheit
und eine Wirkung positiven Unglaubens.
Was ich vorzustellen wagte, könnte nach meinem Dafürhalten ein Beweggrund, und
zwar ein hinreichender Beweggrund, für die Unterschiede sein. Wir müssen jedoch
beachten, dass die göttliche Weisheit in ihren Ratschlüssen Tiefen enthält, die
unsere Fähigkeit, sie zu ergründen, unendlich übersteigen. Gott erlaubt gern,
dass wir etwas von dem erkennen, was in seinem Herzen ist, falls wir demütig,
sorgfältig und von Ihm abhängig sind. Andererseits lässt Er uns in vielem
unwissend, wenn wir nachlässig sind oder auf uns selbst vertrauen. Ich bin
jedoch sicher, dass gerade die Stellen, die gewöhnlich von den Menschen als
Makel und Fehler im inspirierten Wort angegriffen werden, wenn richtig
verstanden, die stärksten Beweise für die anbetungswürdige Leitung durch den
Heiligen Geist Gottes liefern. Dabei spreche ich nicht mit solcher Sicherheit,
weil mir diese Erkenntnis zur Genugtuung gereicht, sondern weil jede Lektion,
die ich aus dem Wort Gottes gelernt habe und lerne, mich zu der ständig größer
werdenden Überzeugung führt, dass die Schrift vollkommen ist. Für das Problem
vor uns genügt allerdings völlig, dass wir genug Beweise haben, dass Matthäus,
Markus und Lukas nicht aus Unwissenheit, sondern mit vollem Wissen so schrieben,
wie sie es getan haben. Ich gehe noch weiter und sage, dass es so die göttliche
Absicht war; denn ich glaube nicht, dass der Evangelist einen bestimmten Plan
und den vollen Überblick über das hatte, was der Heilige Geist ihm zu schreiben
aufgab. Wir müssen nicht notwendigerweise annehmen, dass Matthäus bedachtsam
einen Plan ersann, um die Ergebnisse seines Evangeliums hervorzubringen. Wie
Gott alles bewirkte, ist eine andere Frage, die wir natürlich nicht zu
beantworten haben. Tatsache bleibt jedoch, dass der Evangelist, der anwesend und
folglich ein Augenzeuge der Einzelheiten war, diese nicht mitteilt. Dagegen
schreibt ein anderer, der nicht dabei war, von ihnen mit größter
Ausführlichkeit. Dabei besteht vollkommene Harmonie zwischen seinem Bericht und
dem des Augenzeugen. Und doch gibt es bemerkenswerte Unterschiede sowie
gegenseitige Bestätigungen. Wenn wir in diesem Fall das Wort „Ursprünglichkeit“
richtig gebrauchen, dann ist das zweite Evangelium durch Ursprünglichkeit
gekennzeichnet.
Ich behaupte also fest, dass jedem Evangelium ein göttlicher Plan aufgeprägt ist
und dass an der göttlichen Absicht überall und in jedem Evangelium festgehalten
wird.
Der Herr ging also direkt zum Heiligtum – der königliche Sohn Davids,
ausersehen, um als der Priester auf seinem Thron zu sitzen, das Haupt von allem,
seien es die heiligen Dinge oder die, welche zum Staatswesen Israels gehören.
Wir können gut verstehen, warum Matthäus Ihn beschreibt, wie Er den Tempel in
Jerusalem besuchte. Wir können ebenfalls verstehen, warum diese ganze Szene ohne
Unterbrechung geschildert wird, anders als bei Markus, der seinen geduldigen
Dienst bezeugt. Den gleichen Grundsatz fanden wir in der Zusammenfassung der
Einzelheiten seines Dienstes am Ende des vierten Kapitels und in der
zusammenhängenden Bergpredigt, obwohl letztere nach genauerer Untersuchung mit
vielen und erheblichen Unterbrechungen gehalten wurde. Denn zweifellos wurden
die Ereignisse zusammengefasst. Und so geschah es auch, wie ich glaube, mit den
einzelnen Teilen jener Predigt. Diese Verfahrensweise, nämlich alle
Zwischenereignisse völlig zu übergehen, stimmt jedoch mit dem Thema unseres
Evangeliums überein; und so konnte der Geist Gottes das Ganze zu dem
wunderschönen Gespinst des Matthäusevangeliums verweben. In diesem Licht dürfen
und sollen wir, wie ich annehme, auch die Unterschiede zwischen Matthäus- und
Markusevangelium in den Versen vor uns sehen. Dabei lassen wir allerdings nicht
den geringsten Verdacht einer Unvollkommenheit auf den einen oder auf den
anderen fallen. Andererseits darf ein Augenzeuge, wie wir schon nachdrücklich
betont haben, in keinster Weise, wenn er als Diener benutzt wird, die
Zusammenstellung eines Evangeliums planen. Es verrät deutlich, dass die Menschen
den wahren Autor vergessen, wenn sie den Plan in den Schreibern, die Er
benutzte, suchen. Der einzige Schlüssel zu allen Schwierigkeiten besteht in der
einfachen, aber wichtigen Wahrheit, dass Gott seine Gedanken über Jesus in
gleicher Weise durch Matthäus wie Markus mitteilt.
Als nächstes handelte der Herr nach dem Wort Gottes: Er fand Menschen, die im
Tempel (das heißt in seinen Gebäuden) kauften und verkauften, warf ihre Tische
um, trieb sie hinaus und sprach dabei die Worte der Propheten Jesaja (Jes
56,7) und Jeremia (Jer
7,11) aus. Danach wird ein anderer Charakterzug erwähnt, den wir
ausschließlich hier finden. Die Blinden und Lahmen finden in Ihm einen Freund
anstatt einen Feind. Sie waren „der Seele Davids verhasst“ (2.
Sam 5,8); doch Davids großer Sohn und Herr hatte Mitleid mit ihnen und
liebte sie, die wahren Geliebten Gottes. Während Er seinen Hass und gerechten
Unwillen gegen die habgierige Entweihung des Tempels offenbarte, floss
gleichzeitig seine Liebe zu den Elenden in Israel aus. Dann lesen wir, wie das
Schreien der Volksmenge und Kinder die Hohenpriester und Schriftgelehrten
störte, so dass sie sich tadelnd an den Herrn wandten, der zuließ, dass man Ihm
eine solche königliche Begrüßung darbrachte. Der Herr nahm jedoch ruhig seinen
Platz nach dem bestimmten Wort Gottes ein. Jetzt stand nicht das Fünfte Buch
Mose vor Ihm. Daraus zitierte Er, als Er am Anfang seines Weges von Satan
versucht wurde. Die Worte der Kinder waren aus
Psalm 118 entnommen – und wer könnte sagen, dass das falsch war? So
wandte nun der Herr Jesus die Aussagen des achten Psalms auf die Kinder und sich
selbst an – und ich weise darauf hin, wie vollkommen passend das war. Die
Zentralwahrheit dieses Psalms spricht von der Einführung des verworfenen
Messias, des Sohnes des Menschen, durch Erniedrigung und Leiden bis zum Tod in
die himmlische Herrlichkeit und die Herrschaft über alle Dinge. Diese Wahrheit
stand vor der Seele des Herrn. Die kleinen Kinder handelten folglich nach der
Wahrheit und dem Geist jener Prophezeiung. Es waren Säuglinge, aus deren Mündern
Lob für den verachteten Messias verordnet war. Er sollte bald im Himmel erhöht
sein, während Er auf der Erde als der einst gekreuzigte und jetzt verherrlichte
Sohn des Menschen gepredigt würde. Was konnte zu jener Zeit passender sein? Was
bedeutsamer zu aller Zeit, ja, für die Ewigkeit?
Matthäus vereinigt, wie wir schon gesehen haben, alle Ereignisse um den
unfruchtbaren Feigenbaum (V. 18–22), ohne den Fluch an dem einen und die
Offenbarung seiner Erfüllung am nächsten Tag voneinander zu trennen. Hat das
keine moralische Bedeutung? Unmöglich! Finden wir irgendetwas in diesem Kapitel,
das von einer herzlichen und wahren Aufnahme des Messias und Früchten für
seine Hand, die Israel so lange gepflegt und mit aller Sorgfalt kultiviert
hatte, sprach? Gab es irgendetwas, das durch die Begrüßung der kleinen Kinder,
die
„Hosanna“ riefen und ein Muster von dem waren, was die Gnade am Tag seiner
Rückkehr bewirken wird, angesprochen wurde? Zu jener Zeit wird die Nation
zufrieden und dankbar den Platz von Kindern und Säuglingen einnehmen und ihre
ganze Weisheit darin finden, denjenigen anzunehmen, den ihre Vorväter verworfen
hatten und der daraufhin als Mensch während der Nacht des Unglaubens seines
Volkes im Himmel erhöht wurde. In der Zwischenzeit passt ein anderes Bild besser
auf sie: Der Zustand und das Verderben des unfruchtbaren Feigenbaums. Warum
verachteten sie die jubelnde Volksmenge und die frohlockenden Kinder? In welchem
Zustand befanden sie sich vor den Augen dessen, der alles sah, was in ihren
Herzen vorging? Sie waren nicht besser als jener Feigenbaum – jener einsame
Feigenbaum, auf den das Auge des Herrn fiel, als Er von Bethanien kommend wieder
nach Jerusalem zurückkehrte. Wie er sahen auch sie vielversprechend aus. Er war
voller Blätter. Auch bei ihnen fehlte es nicht an einem schönen Bekenntnis; aber
es gab keine Frucht. Die Unfruchtbarkeit wurde dadurch besonders offenbar, dass
es noch nicht die Zeit der Feigen war; denn er hätte unreife Feigen, die
Vorboten der Ernte, tragen müssen. Zur Zeit der Feigenernte hätten die Feigen
schon abgenommen sein können. Da diese Zeit noch nicht gekommen war, wäre ohne
Zweifel die Verheißung auf die kommende Ernte am Baum zu sehen gewesen, wenn er
überhaupt irgendeine Frucht getragen hätte. Dieser Baum lieferte also ein sehr
wirklichkeitsnahes Bild von dem, was die Juden, was die Nation Israel, in den
Augen des Herrn waren. Er kam und suchte Frucht; es gab jedoch keine; und der
Herr sprach diesen Fluch aus:
„Nie mehr komme Frucht von dir in Ewigkeit!“ (V. 19).
Und so geschah es. Von jenem Geschlecht kam niemals Frucht. Ein anderes
Geschlecht muss aufstehen. Ein völliger Wechsel muss stattfinden, damit es zum
Fruchttragen kommt. Nur durch Jesus können Früchte der Gerechtigkeit zur
Verherrlichung Gottes reifen. Und sie verwarfen jetzt Jesus. Der Herr wird
Israel nicht aufgeben; doch Er wird ein zukünftiges Geschlecht erwecken, das
ganz anders ist als das gegenwärtige, welches Ihn verwarf. Zu diesem Ergebnis
kommen wir, wenn wir den Fluch unseres Herrn mit dem Rest des Wortes Gottes
vergleichen, welches von besseren Dingen redet, die für Israel aufbewahrt
werden.
Dem fügte der Herr noch etwas hinzu. Das damalige Israel sollte nicht nur
hinweggetan werden, um Raum für ein anderes Geschlecht zu geben, welches den
Messias ehren und damit Frucht für Gott bringen wird. Er sagte auch den
staunenden Jüngern, dass, wenn sie Glauben hätten, der Berg ins Meer geworfen
würde. Das scheint noch weiter zu gehen als die Beiseitesetzung Israels in
seiner Verantwortung als fruchttragendes Volk. Er deutete an, dass ihr ganzes
Staatswesen aufgelöst werden sollte; denn der Berg ist genauso das Symbol einer
Macht auf der Erde, einer etablierten Weltmacht, wie der Feigenbaum ein
besonderes Sinnbild von Israel in seiner Verantwortlichkeit, für Gott Frucht zu
bringen. Es ist offensichtlich, dass beide Bilder voll verwirklicht worden sind.
Zurzeit
ist Israel verschwunden. Schon nach kurzer Zeit sahen die Jünger, wie Jerusalem
nicht nur eingenommen, sondern auch sozusagen mit seiner Wurzel ausgerissen
wurde. Die Römer kamen als Vollstrecker des Urteils Gottes entsprechend der
gerechtfertigten Vorahnung des ungerechten Hohenpriesters Kajaphas, der nicht
ohne den Heiligen Geist weissagte (Joh
11,51). Sie nahmen ihnen Stadt und Nation weg – aber nicht deshalb, weil
sie Jesus, ihren Messias, nicht getötet, sondern gerade weil sie Ihn getötet
hatten. Bekanntlich geschah diese totale Vernichtung des jüdischen Staatswesens,
als die Jüngerschaft zu einem öffentlichen Zeugnis in der Welt herangewachsen
war. Noch vor der Hinwegnahme aller Apostel von der Erde versank und verschwand
Israels nationales Staatswesen gänzlich. Titus nahm Jerusalem ein und verkaufte
und zerstreute das Volk bis an das Ende der Erde. Ich habe keinen Zweifel, dass
der Herr uns diese Wahrheit in dem Herausreißen des Berges sowie dem Verdorren
des Feigenbaums zeigen wollte. Das letzte Bild mag einfacher in seiner Anwendung
und auch den herkömmlichen Vorstellungen bekannter sein. Es gibt jedoch keinen
vernünftigen Grund, warum das andere Bild nicht genauso symbolisch in seiner
Aussage ist. Wie es auch sein mag – diese Worte des Herrn schließen jenen Teil
des Gegenstands.
Im letzten Abschnitt dieses Kapitels und dem folgenden betreten wir eine neue
Serie von Ereignissen. Zunächst traten die religiösen Führer vor den Herrn und
stellten die erste Frage, die immer in den Herzen solcher Männer auftaucht:
„In welchem Recht tust du diese Dinge?“ (V. 23). Keine Frage wird leichter
gestellt von Menschen, die ihr eigenes Recht für unangreifbar halten. Unser Herr
antwortete ihnen mit einer anderen Frage, die sofort ihren Mangel an moralischer
Kompetenz in einer unvergleichlich ernsteren Angelegenheit aufdeckte. Wer waren
sie, um nach seiner Autorität zu fragen? Sie sollten gewiss als religiöse Führer
fähig sein, das zu beurteilen, was von tiefster Bedeutung für ihre eigenen
Seelen und die Seelen derjenigen war, über die sie die geistliche Aufsicht
beanspruchten. Die Frage, die Er stellte, beinhaltete auch die Antwort auf ihre;
denn hätten sie Ihm der Wahrheit entsprechend geantwortet, dann hätte das auch
sofort entschieden, durch welche und wessen Autorität Er handelte.
„Die Taufe des Johannes'“, fragte Er,
„woher war sie, vom Himmel oder von Menschen?“ (V. 25).
Diese Männer waren nicht ehrlich; sie fürchteten Gott nicht. Aber sie waren voll
schwülstiger Worte und angemaßter Autorität. Anstatt also die Frage nach ihrem
Gewissen zu beantworten und die Wahrheit auszusprechen, überlegten sie nur, wie
sie aus dieser Klemme heraus kommen konnten. Sie stellten sich nur die eine
Frage: Welche Antwort ist diplomatisch? Wie entkommen wir am besten dieser
Schwierigkeit? Vor Jesus war das eine vergebliche Hoffnung. Sie mussten sich mit
der niederträchtigen Schlussfolgerung zufrieden geben:
„Wir wissen es nicht“ (V. 27).
Das war Unaufrichtigkeit. Aber was bedeutete das für sie, wenn die Interessen
der Religion und ihres Standes betroffen waren? Ohne rot zu werden, antworteten
sie also dem Heiland:
„Wir wissen es nicht“; und der Herr gab ihnen mit ruhiger Würde seine
Entgegnung. Er sagte nicht: „Ich weiß es nicht“, sondern:
„So sage auch ich euch nicht, in welchem Recht ich diese Dinge tue.“ Jesus
kannte die geheimen Quellen des Herzens und legte sie bloß; und der Geist Gottes
berichtet es hier zu unserer Belehrung. Dies ist das allgemeine, wahre Bild
weltlicher Führer in religiösen Dingen im Konflikt mit der Macht Gottes.
„Wenn wir sagen: vom Himmel, so wird er zu uns sagen: Warum habt ihr ihm denn
nicht geglaubt? Wenn wir aber sagen: Von Menschen – wir fürchten die Volksmenge,
denn alle halten Johannes für einen Propheten“ (V. 25.26). Wenn sie Johannes
anerkannten, mussten sie sich vor der Autorität Jesu beugen. Wenn sie Johannes
ablehnten – sie fürchteten das Volk. So wurden sie zum Schweigen gebracht; denn
sie wollten ihren Einfluss beim Volk nicht verlieren. Und sie waren
entschlossen, die Autorität Jesu um jeden Preis zu leugnen. Sie sorgten nur für
sich selbst.
Der Herr ging weiter und begegnete in Gleichnissen einer umfassenderen Frage als
jener der Führer, indem Er schrittweise den Blickwinkel vergrößerte, bis Er
diese Belehrungen in
Matthäus 22,14 abschloss. Zuerst behandelte Er sündige Menschen, in denen
das natürliche Gewissen noch wirkte, und andere, die es schon verloren hatten.
Das finden wir nur bei Matthäus.
„Ein Mensch hatte zwei Kinder; und er trat hin zu dem ersten und sprach: Mein
Sohn, geh heute hin, arbeite im Weinberg. Er aber antwortete und sprach: Ich
will nicht. Danach aber reute es ihn, und er ging hin. Und er trat hin zu dem
zweiten und sprach ebenso. Der aber antwortete und sprach: Ich gehe, Herr, und
ging nicht. Wer von den beiden hat den Willen des Vaters getan? Sie sagen: Der
Erste. Jesus spricht zu ihnen: Wahrlich, ich sage euch, dass die Zöllner und die
Huren euch vorangehen in das Reich Gottes. Denn Johannes kam zu euch auf dem Weg
der Gerechtigkeit, und ihr glaubtet ihm nicht; die Zöllner aber und die Huren
glaubten ihm; euch aber, als ihr es saht, reute es auch danach nicht, so dass
ihr ihm geglaubt hättet“ (V. 28–32).
Der Herr gab sich nicht damit zufrieden, allein das Gewissen in einer für das
Fleisch sehr schmerzlichen Weise zu treffen. Deshalb mussten sie erfahren, dass
– trotz Autorität und dergleichen – jene, deren Bekenntnis am größten ist, wenn
sie ungehorsam sind, als böser angesehen werden als die verworfensten Menschen,
die Buße tun und dem Willen Gottes folgen.
Als nächstes betrachtete unser Herr das ganze Volk, beginnend bei dem Anfang
seiner Beziehungen zu Gott. Mit anderen Worten: Er gibt uns in diesem Gleichnis
die Geschichte der Handlungsweise Gottes mit demselben. Es handelte sich in
keinster Weise um die zufälligen Umstände im Verhalten einer besonderen
Generation. Der Herr stellte klar heraus, was dieses Volk die ganze Zeit über
und auch damals, als Er anwesend war, kennzeichnete. Im Gleichnis vom Weinberg
wird es in Hinsicht auf seine Verantwortlichkeit geprüft. Gott, der es von
Anbeginn mit außerordentlich reichen Privilegien gesegnet hatte, besaß Anrechte
an ihm. Danach, im Gleichnis von der Hochzeit des Königssohns, sehen wir, wie
die Gnade des Evangeliums Gottes das Volk erprobte. Das sind demnach die Themen
der beiden folgenden Gleichnisse.
Der Hausherr, der seinen Weinberg an Weingärtner verpachtete, zeigt Gott, wie Er
die Juden auf der Grundlage von Segnungen, die Er in Fülle über sie ausgegossen
hatte, prüfte. So sehen wir, wie zuerst Knechte zu ihnen gesandt wurden – und
dann mehr. Es war alles vergeblich. Die Beschimpfung und das Böse nahmen ständig
zu. Dann, zuletzt, sandte Er seinen Sohn, indem Er sagte:
„Sie werden sich vor meinem Sohn scheuen“ (V. 37). Das lieferte ihnen die
Gelegenheit für ihre krönende Sünde. In der Ermordung des Sohnes und Erben
lehnten sie alle seine göttlichen Anrechte ab; denn
„sie nahmen ihn, warfen ihn zum Weinberg hinaus und töteten ihn. Wenn nun der
Herr des Weinbergs kommt, was wird er jenen Weingärtnern tun? Sie sagen zu ihm:
Er wird jene Übeltäter auf schlimme Weise umbringen, und den Weinberg wird er an
andere Weingärtner verpachten, die ihm die Früchte abliefern werden zu ihrer
Zeit“ (V. 39–41).
Der Herr überließ die Sache jedoch nicht nur der Antwort des Gewissens, sondern
sprach auch sein Urteil nach den Schriften aus:
„Habt ihr nie in den Schriften gelesen: „Der Stein, den die Bauleute verworfen
haben, dieser ist zum Eckstein geworden. Von dem Herrn her ist er dies geworden,
und er ist wunderbar in unseren Augen“? (V. 42). Dann verband Er diese
Vorhersage über den Stein aus
Psalm 118 anscheinend mit der Prophezeiung von
Daniel 2. Auf jeden Fall wird der Grundgedanke dieser Stelle auf das
gegenwärtige Problem angewandt. Ich brauche kaum zu sagen, wie treffend und mit
welcher Schönheit Er das tut. Denn an jenem fernen Tag werden die abtrünnigen
Juden mit den heidnischen Mächten zusammen gerichtet und zermalmt. Der Stein
wird in zwei Stellungen gefunden. Die eine befand sich auf der Erde, nämlich in
der Erniedrigung des Messias. Über diesen Stein, der sich so erniedrigt hatte,
stolperte und fiel der Unglaube. Doch dann, wenn der Stein erhöht ist, folgt ein
anderes Ergebnis. Denn „der Stein Israels“ (1.
Mo 49,24), der verherrlichte Sohn des Menschen, wird in schonungslosem
Gericht herniederkommen und seine Feinde zermalmen. Als die Hohenpriester und
Pharisäer seine Gleichnisse gehört hatten, erkannten sie, dass Er von ihnen
sprach.
Fußnoten
Im Gleichnis des
22. Kapitels wendet sich der Herr dem Ruf der Gnade zu. Es ist ein Gleichnis
vom Reich der Himmel. Wir befinden uns jetzt auf neuem Boden. Es fällt auf, dass
das Gleichnis hier eingeführt wird. Im Lukasevangelium (Lk
14) gibt es ein ähnliches; doch wir sagen wohl zu viel, wenn wir es als
dasselbe bezeichnen. Offensichtlich finden wir dort ein verwandtes Gleichnis;
aber es steht in einem ganz anderen Zusammenhang. Außerdem fügt Matthäus
verschiedene, ihm eigene Einzelheiten hinzu, die völlig mit der Absicht des
Heiligen Geistes in seinem Evangelium übereinstimmen. Auch bei Lukas sehen wir
besondere Kennzeichen. Im Lukasevangelium erblicken wir eine bemerkenswerte
Entfaltung von Gnade und Liebe gegen die verachteten Armen in Israel. Danach
vergrößert die Liebe ihre Reichweite und geht hinaus an die Wege und Zäune, um
die Armen – die Armen in der Stadt, die Armen überall – von dort
hereinzubringen. Ich brauche kaum zu sagen, wie charakteristisch diese
Beschreibung ist. Im Matthäusevangelium hingegen finden wir nicht nur Gottes
Gnade, sondern auch eine Art Geschichtsschreibung, die auffallend die Zerstörung
Jerusalems mit einschließt. Lukas schweigt davon.
„Das Reich der Himmel ist einem König gleich geworden, der seinem Sohn die
Hochzeit ausrichtete“ (V. 2).
Es war also nicht, wie bei Lukas, einfach ein Mensch, der ein Fest für solche
geben wollte, die nichts hatten. Hier im Matthäusevangelium ging es dem König
vielmehr um die Verherrlichung seines Sohnes.
„Und er sandte seine Knechte aus, die Geladenen zur Hochzeit zu rufen; und sie
wollten nicht kommen. Wiederum sandte er andere Knechte aus und sprach: Sagt den
Geladenen: Siehe, mein Mahl habe ich bereitet, meine Ochsen und das Mastvieh
sind geschlachtet, und alles ist bereit; kommt zur Hochzeit“ (V. 3–4). Wir
lesen in unseren Versen von zwei Aussendungen der Knechte des Herrn. Die eine
geschah zu seinen Lebzeiten, die andere nach seinem Tod. Bei der zweiten, und
nicht bei der ersten, wird gesagt:
„Alles ist bereit.“ Die Botschaft wurde, wie immer, verworfen.
„Sie aber kümmerten sich nicht darum und gingen hin“ (V. 5). Bei der zweiten
Aussendung erfolgte diese ausführliche Einladung, die dem Menschen keine Ausrede
mehr ließ. Aber sie wollten nicht kommen, indem der eine auf seinen Acker und
der andere zu seinem Handel ging.
„Die Übrigen aber ergriffen seine Knechte, misshandelten und töteten sie“
(V. 6). So wurden die Apostel nicht zu Lebzeiten des Herrn aufgenommen. Das
widerfuhr ihnen erst nach seinem Tod. Daraufhin wurde der Gerichtsschlag in
wunderbarer Geduld jahrelang zurückgehalten; nichtsdestoweniger kam zuletzt das
Gericht.
„Der König aber wurde zornig und sandte seine Heere aus, brachte jene Mörder um
und setzte ihre Stadt in Brand“ (V. 7). Das schließt diesen Teil des
Gleichnisses, welcher ein Handeln Gottes durch die Vorsehung voraussagt. Doch
neben diesem richterlichen Charakter, zu dem wir keine Parallele im
Lukasevangelium finden, wird, wie üblich, der große Wechsel der Haushaltung viel
nachdrücklicher als bei Lukas herausgestellt. Bei Letzterem bemerken wir vor
allem das Motiv der Gnade, die damit begann, dass ein Hausherr aussandte, um
Geladene zum Festmahl zu rufen. Deren Entschuldigungen werden in sittlicher
Hinsicht voll herausgestellt. Darauf folgte die zweite Aussendung auf die
Straßen und Gassen der Stadt an die Armen, Krüppel, Lahmen und Blinden. Die
letzte Mission ging an die Wege und Zäune, um die dortigen Menschen
hereinzunötigen, damit sein Haus voll werde.
Das Matthäusevangelium stellt viel ausgeprägter die Seite der Haushaltungen vor
uns. Deshalb wird die Handlungsweise mit den Juden, sowohl in Barmherzigkeit als
auch in Gericht, zuerst als ein Ganzes dargestellt, wie es für Matthäus typisch
ist, der sozusagen auf einen Schlag ein vollständiges Bild liefert. Das fällt
hier umso mehr auf, weil niemand leugnen kann, dass die Mission an die Heiden
lange vor der Zerstörung Jerusalems stattfand. Erst danach wird ganz für sich
das Teil der Nichtjuden hinzugefügt.
„Dann sagt er zu seinen Knechten: Die Hochzeit ist zwar bereit, aber die
Geladenen waren nicht würdig; so geht nun hin auf die Kreuzwege der Landstraßen,
und so viele irgend ihr findet, ladet zur Hochzeit. Und jene Knechte gingen
hinaus auf die Landstraßen und brachten alle zusammen, die sie fanden, sowohl
Böse als Gute. Und der Hochzeitssaal füllte sich mit Gästen“ (V. 8–10). Noch
eine andere Einzelheit wird nachdrücklich herausgestellt. Im Lukasevangelium
lesen wir nicht, dass am Ende das Gericht über einen Menschen, der ohne
passendes Hochzeitskleid zur Hochzeit kommt, ausgesprochen und vollstreckt wird.
Wir sahen soeben bei Matthäus das Handeln Gottes mit den Juden durch die
Vorsehung. Am Ende dieses Gleichnisses wird jedoch auch besonders beschrieben,
wie der König an einem zukünftigen Tag individuell richtet. Es ist nicht
ein äußerer oder nationaler Schlag als ein Ereignis der Vorsehung in Verbindung
mit Israel, obwohl wir auch diesen hier finden. Ganz anders, doch in
Übereinstimmung hiermit, finden wir vonseiten Gottes eine persönliche
Beurteilung der Bekenner aus den Nationen, das heißt, derjenigen, die jetzt
Christi Namen tragen, ohne Ihn wirklich angezogen zu haben. Damit schließt das
Gleichnis. Nichts könnte zudem passender sein als dieses Bild, welches nur bei
Matthäus gefunden wird und die bevorstehende große Wende für die Heiden und
Gottes individuelle Handlungsweise mit ihnen wegen ihres Missbrauchs seiner
Gnade schildert. Das Gleichnis veranschaulicht den damals zukünftigen Wechsel
der Haushaltung. Das passt eher zum Ziel des Matthäus- als des Lukasevangeliums;
denn letzteres beschäftigt sich gewöhnlich mehr mit sittlichen Gesichtspunkten.
Wenn der Herr die Gelegenheit dazu gibt, werden wir es später sehen.
Danach kamen die verschiedenen Klassen der Juden zu Jesus. Zuerst nahten die
Pharisäer mit – welch erstaunliche Allianz! – den Herodianern. Normalerweise
waren sie, wie die Menschen so sagen, natürliche Feinde. Die Pharisäer bildeten
die hohe geistliche Partei, die Herodianer dagegen die niedrige weltliche
Höflingspartei. Jene waren die Eiferer für Überlieferung und Gerechtigkeit nach
dem Gesetz, diese die Gefolgsleute der damals herrschenden Mächte um eines
Gewinnes auf der Erde willen. Solche Verbündeten hatten sich heuchlerisch gegen
den Herrn zusammengeschlossen. Unser Herr begegnete ihnen mit der Weisheit, die
immer aus seinen Worten und Werken hervorschien. Sie fragten, ob es erlaubt sei,
dem Kaiser Steuern zu geben. Er antwortete:
„Zeigt mir die Steuermünze …
Und er spricht zu ihnen: Wessen ist dieses Bild und die Aufschrift? Sie sagen zu
ihm: Des Kaisers. Da spricht er zu ihnen: Gebt denn dem Kaiser, was des Kaisers
ist, und Gott, was Gottes ist“ (V. 19–21). Der Herr nahm die Dinge so, wie
sie damals waren. Das Geldstück, das sie vorzeigten, bewies ihre Unterwerfung
unter die Nationen. Ihre Sünde hatte sie dorthin gebracht. Sie litten unter
ihren Herren. Aber es waren fremde Herren, und zwar wegen ihrer Sünde. Der Herr
trat ihnen nicht nur mit dem unleugbaren Zeugnis ihrer Unterwerfung unter die
Römer entgegen, sondern auch mit einer schwerwiegenderen Verpflichtung, die sie
völlig übersehen hatten, nämlich dass Gott auch Anrechte an sie hatte genauso
wie der Kaiser.
„Gebet denn dem Kaiser, was des Kaisers ist.“ „Das Geld, das ihr liebt,
verkündet, dass ihr Sklaven des Kaisers seid. Zahlt also dem Kaiser, was ihm
zusteht! Doch vergesst nicht: ,Gebt …
Gott, was Gottes ist!‘“ Tatsächlich hassten sie den Kaiser weniger als den
wahren Gott. Der Herr überließ sie den Überlegungen und der Verwunderung ihrer
schuldigen Gewissen.
Als nächstes wurde der Herr von einer anderen großen Partei angegriffen.
„An jenem Tag kamen Sadduzäer zu ihm“ (V. 23). Waren die Herodianer die
Gegner der Pharisäer in der Politik, so waren es jene in Hinsicht auf die Lehre.
Die Sadduzäer leugneten die Auferstehung und brachten einen Fall vor Ihn, der
nach ihrer Meinung mit unlösbaren Schwierigkeiten behaftet war. Wem gehörte jene
Frau im Auferstehungszustand, die hier nacheinander mit sieben Brüdern
verheiratet gewesen war? Der Herr zitierte nicht die klarsten Schriftstellen
zugunsten der Auferstehung. Er handelte in einer Weise, die in diesen Umständen
weit besser war. Er spielte auf das an, was sie ihrem Bekenntnis nach am meisten
verehrten. Kein Teil der Schrift war für die Sadduzäer von solcher Autorität wie
der Pentateuch oder die fünf Bücher Mose. Von Mose her bewies Er also die
Auferstehung, und zwar in der einfachsten Art. Jeder – ja, ihr eigenes Gewissen
– musste zugeben, dass Gott nicht der Gott der Toten, sondern der Lebendigen
ist. Deshalb war es nicht bedeutungslos, dass Gott sich der Gott Abrahams,
Isaaks und Jakobs nannte. Wenn Gott sich sehr viel später auf die Väter bezog,
die schon längst gestorben waren, dann sprach Er von ihnen als solchen, zu denen
Er eine Beziehung hatte. Waren sie denn nicht tot? War damit nicht alles vorbei?
Keineswegs! Doch es lag darin noch mehr verborgen. Er sprach als solcher, der
nicht nur in Verbindung mit ihnen stand, sondern ihnen auch Verheißungen gegeben
hatte, die bisher noch nicht erfüllt worden waren. Entweder musste Gott die
Väter aus den Toten auferwecken, um die Verheißungen an sie zu erfüllen, oder Er
war nicht gewissenhaft bei der Erfüllung seiner Verheißungen. War ihr Glaube an
Gott – oder vielmehr ihr Mangel an Glaube – zu diesem Ergebnis gekommen? Wenn
man die Auferstehung leugnet, leugnet man auch die Verheißungen, die Treue
Gottes und in Wirklichkeit Gott selbst. Der Herr tadelte sie also auf diesem
anerkannten Grundsatz, dass Gott der Gott der Lebendigen und nicht der Toten
ist. Wenn man Gott zum Gott der Toten macht, dann leugnet man in Wirklichkeit,
dass Er Gott ist. Gleichzeitig deutet man an, dass seine Verheißungen wertlos
und ohne Beständigkeit sind. Gott muss demnach die Väter auferwecken, um seine
Verheißungen an sie zu erfüllen; denn sie erhielten das Verheißene mit
Gewissheit nicht in diesem Leben. Die Torheit der Gedanken in den Sadduzäern
wurde auch dadurch offenbar, dass die Schwierigkeit, die sie vorbrachten, völlig
unrealistisch war; sie existierte nur in ihrer Phantasie. Die Ehe hat nichts mit
dem Auferstehungszustand zu tun. Dort heiraten sie nicht und werden auch nicht
verheiratet, sondern sind wie die Engel Gottes im Himmel. So befanden sie sich
auf dem Boden dessen, was sie leugneten, im Irrtum. Doch sie dachten auch
falsch, wie wir gesehen haben, in dem, was sie anerkannten (nämlich die
Verheißungen Gottes). Damit Gott seine Verheißungen erfüllen kann, muss Er die
Toten auferwecken. Heutzutage vermag ausschließlich das, was durch den Glauben
erkannt wird, in der Welt ein würdiges Zeugnis von Gott abzulegen. Falls wir
jedoch von der Offenbarung Gottes und der Entfaltung seiner Macht sprechen, dann
müssen wir bis zur Auferstehung warten. Die Sadduzäer besaßen keinen Glauben und
befanden sich folglich total in Irrtum und Finsternis.
„Ihr irrt, indem ihr die Schriften nicht kennt
noch die Kraft Gottes“ (V. 29). Da sie sich weigerten zu glauben, konnten
sie auch nicht verstehen. Wenn die Auferstehung geschieht, wird sie hingegen von
jedem Auge gesehen. Das war also der Kernpunkt in der Antwort unseres Herrn, und
die Volksmenge war erstaunt über seine Lehre.
Die Pharisäer waren natürlich nicht traurig darüber, dass die damals herrschende
Partei der Sadduzäer zum Schweigen gebracht worden war. Einer von ihnen, ein
Gesetzgelehrter, versuchte den Herrn in einer Frage, die für sie von großer
Wichtigkeit war.
„Lehrer, welches ist das große Gebot in dem Gesetz?“ (V. 36). Obwohl der
Herr voll Gnade und Wahrheit gekommen war, schwächte Er nie die Bedeutung des
Gesetzes ab und gab dem Fragenden sofort die Summe des Gesetzes und seinen
wesentlichen Inhalt in seinen beiden Teilen an, und zwar in Hinsicht auf Gott
und auf den Menschen.
Jetzt war allerdings auch die Zeit gekommen, dass Jesus seine Frage nach
Psalm 110 stellen konnte. Wenn Christus anerkanntermaßen der Sohn Davids
ist, warum nannte David Ihn dann im Geist
„Herr“, indem er sagte:
„Jahwe sprach zu meinem Herrn: Setze dich zu meiner Rechten, bis ich deine
Feinde hinlege unter deiner Füße“ (Ps
110,1). Darin lag die ganze Wahrheit seiner Stellung. Sie sollte bald
verwirklicht werden; und der Herr konnte von Dingen, die noch nicht waren, so
reden, als seien sie schon da. Das war die Sprache Davids, des Königs, in
Worten, die der Heilige Geist inspiriert hatte. Welche Sprache und welche
Gedanken erfüllten jetzt das Volk; und wer hatte sie inspiriert? Ach,
seien es Pharisäer, Gesetzgelehrte oder Sadduzäer – überall fand man den
Unglauben in seinen mannigfachen Formen. Dabei war die Herrlichkeit von Davids
Herrn noch bedeutungsvoller als die Auferstehung der Toten nach der Verheißung.
Sie mochten es glauben oder nicht – der Messias stand im Begriff, seinen Sitz
zur Rechten Jahwes einzunehmen. Es waren entscheidende Fragen; und sie sind es
heute noch. Wenn der Christus Davids Sohn ist, wie ist Er dann Davids
Herr? Wenn Er Davids Herr ist, wie ist Er dann sein Sohn? Das ist der Angelpunkt
des Unglaubens aller Zeiten – damals wie heute –, der beständige Gegenstand des
Zeugnisses des Heiligen Geistes und der gewöhnliche Stolperstein für den
Menschen. Der Mensch ist niemals so unwissend wie dann, wenn er sich am
weisesten vorkommt und versucht mit seinem eigenen Verstand das unergründliche
Geheimnis der Person Christi auszuloten bzw. zu leugnen, dass es da überhaupt
ein Geheimnis gebe. Genau das machte den jüdischen Unglauben aus. Die große
Hauptwahrheit im ganzen Matthäusevangelium besteht darin, dass der Sohn Davids
und Abrahams wirklich Emmanuel und Jahwe war. Diese Wahrheit wurde bei seiner
Geburt, in seinem ganzen Dienst in Galiläa und jetzt bei seiner letzten
Vorstellung an Jerusalem bewiesen.
„Und niemand konnte ihm ein
Wort antworten, noch wagte jemand von dem Tag an, ihn ferner zu befragen“
(V. 46). Das war ihr Standpunkt vor dem, der sich vorbereitete, seinen Platz zur
Rechten Gottes einzunehmen – und ist es heute noch. Was für ein schreckliches,
ungläubiges Schweigen des Volkes Israel, welches sein eigenes Gesetz und seinen
eigenen Messias, Davids Sohn und Davids Herrn, verwarf! Seine Herrlichkeit war
ihre Schande.
Aber wenn der Mensch schwieg, dann war jetzt die Zeit für den Herrn da – nicht
um zu fragen, sondern um sein Urteil kundzutun. Und in
Kapitel 23 sprach Er seinen ernsten Richterspruch über Israel aus. Er wandte
sich in seiner Rede sowohl an die Volksmenge als auch an die Jünger und
verkündete seine Weherufe über die Schriftgelehrten und Pharisäer. Dass diese
Rede damals ein solch gemischtes Publikum fand, war ganz nach dem Willen des
Herrn. Er traf damit nicht nur, wie mir scheint, Vorsorge für die Jünger,
sondern auch für den Überrest Israels in späterer Zeit; denn dieser wird eine
solch zwiespältige Stellung einnehmen. Er wird auf der einen Seite an Ihn
glauben, und auf der anderen Seite noch mit jüdischen Hoffnungen erfüllt sein
und mit jüdischen Einrichtungen in Verbindung stehen. Das scheint mir der Grund
dafür zu sein, warum unser Herr so bemerkenswert anders sprach, als wir es
gewöhnlich in der Bibel finden.
„Die Schriftgelehrten und die Pharisäer“, sagte Er,
„haben sich auf den Stuhl Moses gesetzt. Alles nun, was irgend sie euch sagen,
tut und haltet; aber tut nicht nach ihren Werken, denn sie sagen es und tun es
nicht. Sie binden aber schwere und schwer zu tragende Lasten zusammen und legen
sie auf die Schultern der Menschen, sie selbst aber wollen sie nicht mit ihrem
Finger bewegen. Alle ihre Werke aber tun sie, um sich vor den Menschen sehen zu
lassen, denn sie machen ihre Gebetsriemen breit und die Quasten groß“ (V.
2–5). Dieser Grundsatz wird, wie damals, in den letzten Tagen seine volle
Erfüllung finden; die Zeit der Kirche (Versammlung) ist nur ein Einschub. Es ist
offenkundig, wie gut diese Belehrung in das Matthäusevangelium passt, deshalb
wird sie auch nur hier gefunden. Außerdem scheuen wir uns davor, anzunehmen,
dass das, was unser Herr lehrte, nur eine kurzfristige Erfüllung haben sollte.
Nein, keineswegs! Die Belehrung hat für die, welche Ihm nachfolgen, eine
fortdauernde Bedeutung. Natürlich verändern die besonderen Vorrechte der Kirche,
welche sein Leib ist, und die zwischenzeitliche Beiseitesetzung des jüdischen
Volkes und seines Systems die ganze Angelegenheit. Seinerzeit galten diese Worte
jedoch buchstäblich; und so wird es auch in zukünftigen Tagen sein. Wenn es so
ist, dann wird erneut die Würde des Herrn als der große Prophet und Lehrer an
ihrem Platz aufrechterhalten. Im letzten Buch des Neuen Testaments haben wir,
nachdem die Kirche von der Erde weggenommen ist, eine ähnliche Vermischung der
Umstände. Die Gläubigen halten die Gebote Gottes und besitzen den „Glauben Jesu“
(Off
14,12). So werden hier die Jünger Jesu ermahnt, das zu halten, was von
denen, die auf Moses Stuhl saßen, auferlegt wurde. Sie sollten dem folgen, was
diese lehrten, nicht dem, was sie taten. Soweit sie die Gebote Gottes
herausstellten, war ihre Lehre verbindlich. Doch in der Praxis waren sie nur
eine Bake
und kein Vorbild. Die Hauptsache bestand für sie darin, von den Menschen gesehen
zu werden. Sie waren stolz auf ihre Stellung und suchten hochtönende Titel und
Ehre im öffentlichen und privaten Leben im Gegensatz zu Christus und seinem oft
wiederholten Wort:
„Wer aber sich selbst erhöhen wird, wird erniedrigt werden; und wer sich selbst
erniedrigen wird, wird erhöht werden“ (V. 12). Die Jünger hingegen hatten
natürlich den
„Glauben Jesu“.
Als nächstes schleuderte der Herr seine
„Wehe“ über
„Wehe“ gegen die Schriftgelehrten und Pharisäer.
Sie waren Heuchler. Sie schlossen das neue Licht Gottes in ihrem maßlosen Eifer
für ihre eigenen Ansichten aus. Sie untergruben mit ihrer Kasuistik
die Gewissen, während sie auf die genaueste Erfüllung in den Äußerlichkeiten
achteten. Sie bemühten sich um äußerliche Reinheit, während sie von Raub und
Unmäßigkeit erfüllt waren. Sie fürchteten sich nicht, voller Heuchelei und
Gesetzlosigkeit zu sein, wenn sie nur nach außen hin gerecht erschienen.
Schließlich bezeugten ihre Denkmäler zu Ehren erschlagener Propheten und
verdienstvoller Männer des Altertums eher ihre Verwandtschaft mit den Mördern
als mit den Gerechten. Ihre Väter töteten die Zeugen Gottes, die sie während
ihres Lebens verurteilten. Sie, die Söhne, bauten ihnen erst dann Denkmäler,
wenn es kein Zeugnis an ihr Gewissen mehr gab und die Totenehrung einen
Heiligenschein auf sie selbst zurückwarf.
Das ist die weltliche Religion mit ihren Häuptern! Ihre Führer hemmen die
göttliche Erkenntnis, obwohl sie doch nur dazu da sind, ihr als Kanäle der
Austeilung zu dienen. Sie sind kleinlich, wo sie großzügig sein sollten. Sie
sind kalt und lau für Gott, jedoch eifrig für sich selbst. Einerseits verraten
sie sich, wo die Verpflichtungen gegen Gott von großer Bedeutung sind, als kühne
Sophisten,
andererseits in den kleinsten Einzelheiten als pedantischste Haarspalter, indem
sie die Mücke aussieben und das Kamel verschlucken. Sie sorgen ängstlich für das
Äußere, ohne sich besonders um das, was unter der Oberfläche verborgen liegt, zu
kümmern. Die Ehren, welche sie denen erweisen, die in vergangenen Zeiten
gelitten haben, sind der Beweis, dass sie nicht deren Nachfolger sind, sondern
die ihrer Feinde. Sie sind die rechtmäßigen Nachfolger jener, welche die Freunde
Gottes erschlugen. Die Nachfolger solcher, die in alten Zeiten gelitten haben,
sind diejenigen, die jetzt leiden müssen. Dagegen bauen die Erben der Verfolger
den von jenen Verfolgten pompöse Grabstätten, errichten Standbilder, gießen
riesige Grabplatten und erweisen ihnen jede denkbare Ehre. Wenn das Zeugnis
Gottes das verstockte Herz nicht länger mehr durchbohrt und wenn diejenigen, die
es verkünden, nicht mehr da sind, dann dienen die Namen dieser gestorbenen
Heiligen oder Propheten als Mittel, um religiöses Ansehen zu gewinnen. Die
Wahrheit wird nicht mehr gegen sie angewandt; das Schwert des Geistes ist nicht
mehr in der Hand derer, die es so gut benutzen konnten. Das billigste Mittel für
die Menschen dieser Generation, um Einfluss für sich zu erringen, besteht darin,
die Verstorbenen zu ehren. Man bläht das Ansehen der Überlieferung mit denen
auf, die einst Gott gedient haben, aber jetzt gestorben sind, und deren Zeugnis
den Schuldigen nicht mehr sticht. Ihre Ehrung beginnt mit dem Tod, und trägt
somit ganz offensichtlich den Stempel des Todes aufgeprägt. Brüsteten sie sich
mit dem Fortschritt der Zeit? Dachten und sagten sie: „Wenn wir in den Tagen
unserer Väter gelebt hätten, dann hätten wir nicht an dem Vergießen des Blutes
von Propheten teilgenommen?“ Wie wenig kannten sie ihre Herzen! Sie standen
dicht vor ihrer Prüfung. Ihr wahrer Charakter würde sich bald zeigen. Sie waren
Heuchler, eine Schlangenbrut. Wie konnten sie dem Gericht der Hölle entfliehen?!
„Deswegen siehe“, sagte der Herr, nachdem Er sie so entlarvt und
angeprangert hatte,
„ich sende Propheten und Weise und Schriftgelehrte zu euch; und einige von ihnen
werdet ihr töten und kreuzigen, und einige von ihnen werdet ihr in euren
Synagogen geißeln und werdet sie verfolgen von Stadt zu Stadt“ (V. 34). Es
ist in den Einzelheiten vorwiegend eine jüdische Verfolgung; und am Ende droht
die Vergeltung,
„damit über euch komme alles gerechte Blut, das auf der Erde vergossen wurde:
von dem Blut Abels, des Gerechten, bis zu dem Blut Sacharjas, des Sohnes
Berekjas, den ihr zwischen dem Tempel und dem Altar ermordet habt. Wahrlich, ich
sage euch, dies alles wird über dieses Geschlecht kommen“ (V. 35–36). Der
gepriesene Herr wandte sich damals, als Er die
„Wehe“ über Chorazin, Bethsaida und Kapernaum, die seine Worte und
Werke verwarfen, ausgesprochen hatte, sofort den unendlichen Reichtümern der
Gnade zu (Mt
11,20–30); und Er holte aus der Tiefe seiner Herrlichkeit das Geheimnis
von höheren Segnungen für die Armen und Bedürftigen hervor. Genauso geschah es
auch hier und in diesem Augenblick. Aus
Lukas 19 wissen wir, dass der Herr, kurze Zeit bevor Er diese „Wehe“ mit
ihrem ernsten und verhängnisvollen Inhalt für die stolzen religiösen Führer
Israels aussprach, über die schuldige Stadt geweint hatte, in der
notwendigerweise nicht nur seine Knechte, sondern auch ihr Herr umkommen
mussten. Wie treu war auch hier sein Herz gegen sie!
„Jerusalem, Jerusalem, die da tötet die Propheten und steinigt, die zu ihr
gesandt sind! Wie oft habe ich deine Kinder versammeln wollen, wie eine Henne
ihre Küken versammelt unter ihre Flügel, und ihr habt nicht gewollt! Siehe, euer
Haus wird euch öde gelassen“ (V. 37–38). Hier steht nicht: „Ich lasse“,
sondern:
„Euer Haus wird euch öde gelassen; denn ich sage euch: Ihr werdet mich von jetzt
an nicht sehen [wie bitter ist ihre Not – der Messias, Jahwe selbst,
verwirft die, die Ihn verwerfen!],
bis ihr sprecht: ,Gepriesen sei, der da kommt im Namen des Herrn!‘“ (V. 39).
Fußnoten
So sahen wir also unseren Herrn, wie Er sich als Jahwe der König vorstellte. Wir
sahen die verschiedenen Sekten der Juden, die sich vordrängten, um Ihn zu
richten, aber in Wirklichkeit selbst von Ihm gerichtet wurden. Es blieb jetzt
noch eine andere wichtige Darstellung übrig, die mit seinem gerade betrachteten
Abschied von der Nation in Verbindung stand, nämlich seine letzte Mitteilung an
die Jünger hinsichtlich der Zukunft. Diese berichtet Matthäus sehr ausführlich
und reichhaltig. Der Versuch, eine Auslegung dieser prophetischen Predigt zu
geben, würde innerhalb der mir gesetzten Grenzen vergeblich sein. Ich möchte
deshalb bei dieser Gelegenheit nur ihre Oberfläche etwas abstreifen, und zwar
gerade genug, um ihre Grundzüge und insbesondere ihre unterscheidenden
Gesichtspunkte aufzuzeigen. Offensichtlich ist hier die größere Ausführlichkeit
über das hinaus, was wir in den anderen Evangelien finden, nicht ohne Absicht.
In dem Evangelium des anderen Apostels, nämlich Johannes, finden wir kein Wort
davon. Markus gibt seinen Bericht (Mk
13) insbesondere in Verbindung mit dem Zeugnis Gottes, wie ich zu zeigen
hoffe, wenn wir bis dahin gekommen sind. Im Lukasevangelium (Lk
21) werden in aller Deutlichkeit die Nationen und ihre Zeit der
Oberherrschaft während der langen Erniedrigungszeit Israels herausgestellt.
Zudem ist es ausschließlich Matthäus, der direkt auf das Ende des Zeitalters
anspielt. Der Grund dafür ist klar. Dieses Ende ist der große Wendepunkt für die
Juden. Matthäus, der unter der Leitung des Heiligen Geistes an Israel sowohl
hinsichtlich der Folgen seiner vergangenen Treulosigkeit als auch jenes
zukünftigen Wendepunkts schreibt, übermittelt uns die bedeutungsvolle Frage der
Jünger und die besondere Antwort des Herrn. Das ist auch der Grund, warum
Matthäus uns das eröffnet, was wir weder bei Markus noch Lukas, jedenfalls nicht
in diesem Zusammenhang, finden. Wir haben hier, wie mir scheint, den
christlichen Teil der Zukunft sehr umfassend dargestellt, das heißt das, was die
Jünger als Bekenner des Namens Christi während seiner Verwerfung durch Israel
kennzeichnet. Das passt aus gutem Grund zu Matthäus' Sicht der Prophetie.
Matthäus zeigt uns nicht nur die Folgen der Verwerfung des Messias für Israel,
sondern auch den Wechsel der Haushaltung bzw. das, was aus dem verhängnisvollen
Widerstand der Juden gegen den, der ihr König – aber nicht nur der Messias,
sondern auch Jahwe – war, hervorging. Die Folgen sollten, ja, mussten von
allumfassender Bedeutung sein. Und der Geist berichtet uns diesen Teil der
Prophezeiung des Herrn in einer Weise, die mit seiner Absicht im
Matthäusevangelium übereinstimmt. Würde Gott nicht die Verwerfung dieser
herrlichen Person durch die Juden in einen wunderbaren und angemessenen Segen
verwandeln? Das finden wir hier.
Die Zusammenstellung der Predigt weicht von der ab, die wir anderswo finden,
doch vollkommene Weisheit hat sie so geordnet. Zuerst werden die Juden bzw. die
Jünger, die sie zur damaligen Zeit noch repräsentierten, behandelt. Ihre
Gedanken gingen noch nicht über den Tempel und jene Gebäude, die ihre
Bewunderung und Ehrfurcht hervorriefen, hinaus. Der Herr kündete das
bevorstehende Gericht an. Es war ja auch schon in den zuvor gesprochenen Worten
–
„Siehe, euer Haus wird euch öde gelassen“ (Mt
23,38) – eingeschlossen. Es war ihr Haus. Der Geist war entwichen.
Es war jetzt nur noch ein toter Körper. Warum sollte er nicht schnell beerdigt
werden?
„Seht ihr nicht dies alles? Wahrlich, ich sage euch: Hier wird nicht ein Stein
auf dem anderen gelassen werden, der nicht abgebrochen werden wird“ (V. 2).
Schon bald sollte erst einmal alles vorbei sein.
„Als er aber auf dem Ölberg saß, traten die Jünger für sich allein zu ihm und
sagten: Sage uns, wann wird das sein, und was ist das Zeichen deiner Ankunft und
der Vollendung des Zeitalters?“ (V. 3). Als Antwort gibt der Herr ihnen
einen Überblick über die allgemeine Geschichte. Diese ist so allgemein
dargestellt, dass man zunächst nicht richtig weiß, ob der Herr nicht neben den
Juden auch die Christen betrachtet (V. 4–14). Die Jünger werden als ein
gläubiger, obschon jüdischer Überrest gesehen; das ist der Grund für die Weite
der Ausführungen. Vom 15. Vers an folgen die Einzelheiten der letzten Halbwoche
Daniels, auf dessen Prophezeiungen nachdrücklich hingewiesen wird. Die
Aufrichtung des Gräuels der Verwüstung am heiligen Ort soll das Signal für die
sofortige Flucht der dann in Jerusalem lebenden Gottesfürchtigen sein, welche
den Jüngern zur Zeit Christi gleichen würden. Denn es wird eine große Drangsal
folgen, die alle anderen Unheilszeiten vom Anfang der Welt an bis zu jenem Tag
übertrifft. Die Bedrängnisse werden jedoch nicht nur äußerlicher Art sein,
sondern verbunden mit beispiellosen Verführungen. Falsche Christi und falsche
Propheten würden große Zeichen und Wunder tun. Aber die Auserwählten werden hier
gnädig vom Heiland gewarnt in einer Ausführlichkeit, die jede Prophezeiung des
Alten Testaments weit hinter sich lässt.
„Sogleich aber nach der Drangsal jener Tage wird die Sonne sich verfinstern und
der Mond seinen Schein nicht geben, und die Sterne werden vom Himmel fallen, und
die Kräfte der Himmel werden erschüttert werden. Und dann wird das Zeichen des
Sohnes des Menschen am Himmel erscheinen; und dann werden alle Stämme des Landes
wehklagen, und sie werden den Sohn des Menschen kommen sehen auf den Wolken des
Himmels mit Macht und großer Herrlichkeit“
(V. 29–30). Die Erscheinung des
Sohnes des Menschen ist ein Hauptgegenstand des Matthäus- und tatsächlich eines
jeden Evangeliums. Der einstmals verworfene Christus wird als der ruhmreiche
Erbe aller Dinge in Herrlichkeit erscheinen. Nach seiner Ankunft in den Wolken
des Himmels wird Er nicht nur den Thron Israels, sondern auch den aller Völker,
Nationen und Sprachen einnehmen. Indem Er so zum Entsetzen und zur Schande
seiner Widersacher innerhalb und außerhalb des Landes wiederkommt, lesen wir
zunächst von der Aussendung der Engel, um seine Auserwählten von den vier Winden
her, von einem Ende des Himmels bis zum anderen Ende, zu sammeln. Wir finden
keinen Hinweis auf eine Auferstehung oder Entrückung in den Himmel. Es geht hier
um die Auserwählten Israels und seine Herrlichkeit als Sohn des Menschen. Von
dem Haupt oder der Kirche, seinem Leib, hören wir nichts. Wir finden hier das
Einsammeln der Auserwählten, und zwar nicht nur aus den Juden, sondern auch, wie
ich annehme, aus ganz Israel von den vier Winden des Himmels her. Falls nötig,
wird diese Auslegung durch das unmittelbar folgende Gleichnis gestützt (V.
32–33). Es handelt sich wieder um den Feigenbaum, aber diesmal zu einem ganz
anderen Zweck. Handle es sich um Fluch oder Segen – der Feigenbaum symbolisiert
Israel.
Dann folgt nicht das natürliche, sondern, wie man es nennen mag, das biblische
Gleichnis. Während das eine aus dem äußeren Bereich der Natur entnommen ist,
stammt das andere aus dem Alten Testament. Um das Kommen des Sohnes des Menschen
zu veranschaulichen, verwies der Herr auf die Tage Noahs. Genauso plötzlich
sollte der Schlag auf alle Gegenstände des Gerichts herniederfahren.
„Dann werden zwei auf dem Feld sein, einer wird genommen und einer gelassen;
zwei Frauen werden am Mühlstein mahlen, eine wird genommen und eine gelassen“
(V. 40–41). Die Jünger sollten nicht annehmen, dass es sich um ein
gewöhnliches Gericht durch die Vorsehung handelt, welches mal hier, mal da
hindurchfährt, ohne Unterschiede zu machen. Dabei leidet der Unschuldige mit dem
Schuldigen, ohne dass eine ausreichende persönliche Unterscheidung getroffen
wird. In den Tagen des Sohnes des Menschen, wenn Er zurückkehrt, um sich mit der
Menschheit am Ende des Zeitalters zu beschäftigen, wird es nicht so sein. Ob man
drinnen oder draußen ist – es gibt keinen Schutz. Von zwei Männern auf dem Feld,
von zwei mahlenden Frauen an der Mühle wird die eine Person genommen und die
andere gelassen. Die Unterscheidung ist bis ins Letzte genau und vollkommen.
„Wacht also“, sagte der Herr zum Abschluss,
„denn ihr wisst nicht, an welchem Tag euer Herr kommt. Das aber erkennt: Wenn
der Hausherr gewusst hätte, in welcher Wache der Dieb kommen würde, so hätte er
wohl gewacht und nicht erlaubt, dass sein Haus durchgraben würde. Deshalb auch
ihr, seid bereit! Denn in einer Stunde, in der ihr es nicht meint, kommt der
Sohn des Menschen“ (V. 42–44).
Nach meinem Urteil führt dieser Übergang von dem Teil, der sich mit dem
Schicksal des jüdischen Volkes beschäftigt, zum christlichen Bekenntnis. In dem
ersten dieser allgemeinen Bilder von der Christenheit fehlt jeder Hinweis auf
Jerusalem, den Tempel, das Volk und seine Hoffnung. Danach folgt das Gleichnis
von den zehn Jungfrauen und, als letztes, das von den Talenten. (…)
Als erstes im christlichen Abschnitt kommt das Gleichnis vom Hausverwalter vor
uns. Der treue und weise Hausverwalter handelt entsprechend den Wünschen seines
Herrn, der ihn über seinen Haushalt gesetzt hat, um ihm zur rechten Zeit die
Speise zu geben. Wenn der Herr ihn bei seiner Ankunft in dieser Arbeit
vorfindet, wird Er ihn über seine ganze Habe setzen. Der böse Knecht hingegen
beschließt in seinem Herzen, dass sein Herr nicht kommen wird, überlässt sich
anmaßender Gewalttätigkeit und pflegt bösen Umgang mit der gottlosen Welt. Er
wird vom Gericht überrascht und findet sein Teil bei den Heuchlern in
hoffnungsloser Schande und Pein. Das ist ein lehrreiches Bild vom Christentum
(V. 45–51).
Fußnoten
Kapitel 24
So sahen wir also unseren Herrn, wie Er sich als Jahwe der König vorstellte. Wir
sahen die verschiedenen Sekten der Juden, die sich vordrängten, um Ihn zu
richten, aber in Wirklichkeit selbst von Ihm gerichtet wurden. Es blieb jetzt
noch eine andere wichtige Darstellung übrig, die mit seinem gerade betrachteten
Abschied von der Nation in Verbindung stand, nämlich seine letzte Mitteilung an
die Jünger hinsichtlich der Zukunft. Diese berichtet Matthäus sehr ausführlich
und reichhaltig. Der Versuch, eine Auslegung dieser prophetischen Predigt zu
geben, würde innerhalb der mir gesetzten Grenzen vergeblich sein. Ich möchte
deshalb bei dieser Gelegenheit nur ihre Oberfläche etwas abstreifen, und zwar
gerade genug, um ihre Grundzüge und insbesondere ihre unterscheidenden
Gesichtspunkte aufzuzeigen. Offensichtlich ist hier die größere Ausführlichkeit
über das hinaus, was wir in den anderen Evangelien finden, nicht ohne Absicht.
In dem Evangelium des anderen Apostels, nämlich Johannes, finden wir kein Wort
davon. Markus gibt seinen Bericht (Mk
13) insbesondere in Verbindung mit dem Zeugnis Gottes, wie ich zu zeigen
hoffe, wenn wir bis dahin gekommen sind. Im Lukasevangelium (Lk
21) werden in aller Deutlichkeit die Nationen und ihre Zeit der
Oberherrschaft während der langen Erniedrigungszeit Israels herausgestellt.
Zudem ist es ausschließlich Matthäus, der direkt auf das Ende des Zeitalters
anspielt. Der Grund dafür ist klar. Dieses Ende ist der große Wendepunkt für die
Juden. Matthäus, der unter der Leitung des Heiligen Geistes an Israel sowohl
hinsichtlich der Folgen seiner vergangenen Treulosigkeit als auch jenes
zukünftigen Wendepunkts schreibt, übermittelt uns die bedeutungsvolle Frage der
Jünger und die besondere Antwort des Herrn. Das ist auch der Grund, warum
Matthäus uns das eröffnet, was wir weder bei Markus noch Lukas, jedenfalls nicht
in diesem Zusammenhang, finden. Wir haben hier, wie mir scheint, den
christlichen Teil der Zukunft sehr umfassend dargestellt, das heißt das, was die
Jünger als Bekenner des Namens Christi während seiner Verwerfung durch Israel
kennzeichnet. Das passt aus gutem Grund zu Matthäus' Sicht der Prophetie.
Matthäus zeigt uns nicht nur die Folgen der Verwerfung des Messias für Israel,
sondern auch den Wechsel der Haushaltung bzw. das, was aus dem verhängnisvollen
Widerstand der Juden gegen den, der ihr König – aber nicht nur der Messias,
sondern auch Jahwe – war, hervorging. Die Folgen sollten, ja, mussten von
allumfassender Bedeutung sein. Und der Geist berichtet uns diesen Teil der
Prophezeiung des Herrn in einer Weise, die mit seiner Absicht im
Matthäusevangelium übereinstimmt. Würde Gott nicht die Verwerfung dieser
herrlichen Person durch die Juden in einen wunderbaren und angemessenen Segen
verwandeln? Das finden wir hier.
Die Zusammenstellung der Predigt weicht von der ab, die wir anderswo finden,
doch vollkommene Weisheit hat sie so geordnet. Zuerst werden die Juden bzw. die
Jünger, die sie zur damaligen Zeit noch repräsentierten, behandelt. Ihre
Gedanken gingen noch nicht über den Tempel und jene Gebäude, die ihre
Bewunderung und Ehrfurcht hervorriefen, hinaus. Der Herr kündete das
bevorstehende Gericht an. Es war ja auch schon in den zuvor gesprochenen Worten
–
„Siehe, euer Haus wird euch öde gelassen“ (Mt
23,38) – eingeschlossen. Es war ihr Haus. Der Geist war entwichen.
Es war jetzt nur noch ein toter Körper. Warum sollte er nicht schnell beerdigt
werden?
„Seht ihr nicht dies alles? Wahrlich, ich sage euch: Hier wird nicht ein Stein
auf dem anderen gelassen werden, der nicht abgebrochen werden wird“ (V. 2).
Schon bald sollte erst einmal alles vorbei sein.
„Als er aber auf dem Ölberg saß, traten die Jünger für sich allein zu ihm und
sagten: Sage uns, wann wird das sein, und was ist das Zeichen deiner Ankunft und
der Vollendung des Zeitalters?“ (V. 3). Als Antwort gibt der Herr ihnen
einen Überblick über die allgemeine Geschichte. Diese ist so allgemein
dargestellt, dass man zunächst nicht richtig weiß, ob der Herr nicht neben den
Juden auch die Christen betrachtet (V. 4–14). Die Jünger werden als ein
gläubiger, obschon jüdischer Überrest gesehen; das ist der Grund für die Weite
der Ausführungen. Vom 15. Vers an folgen die Einzelheiten der letzten Halbwoche
Daniels, auf dessen Prophezeiungen nachdrücklich hingewiesen wird. Die
Aufrichtung des Gräuels der Verwüstung am heiligen Ort soll das Signal für die
sofortige Flucht der dann in Jerusalem lebenden Gottesfürchtigen sein, welche
den Jüngern zur Zeit Christi gleichen würden. Denn es wird eine große Drangsal
folgen, die alle anderen Unheilszeiten vom Anfang der Welt an bis zu jenem Tag
übertrifft. Die Bedrängnisse werden jedoch nicht nur äußerlicher Art sein,
sondern verbunden mit beispiellosen Verführungen. Falsche Christi und falsche
Propheten würden große Zeichen und Wunder tun. Aber die Auserwählten werden hier
gnädig vom Heiland gewarnt in einer Ausführlichkeit, die jede Prophezeiung des
Alten Testaments weit hinter sich lässt.
„Sogleich aber nach der Drangsal jener Tage wird die Sonne sich verfinstern und
der Mond seinen Schein nicht geben, und die Sterne werden vom Himmel fallen, und
die Kräfte der Himmel werden erschüttert werden. Und dann wird das Zeichen des
Sohnes des Menschen am Himmel erscheinen; und dann werden alle Stämme des Landes
wehklagen, und sie werden den Sohn des Menschen kommen sehen auf den Wolken des
Himmels mit Macht und großer Herrlichkeit“
(V. 29–30). Die Erscheinung des
Sohnes des Menschen ist ein Hauptgegenstand des Matthäus- und tatsächlich eines
jeden Evangeliums. Der einstmals verworfene Christus wird als der ruhmreiche
Erbe aller Dinge in Herrlichkeit erscheinen. Nach seiner Ankunft in den Wolken
des Himmels wird Er nicht nur den Thron Israels, sondern auch den aller Völker,
Nationen und Sprachen einnehmen. Indem Er so zum Entsetzen und zur Schande
seiner Widersacher innerhalb und außerhalb des Landes wiederkommt, lesen wir
zunächst von der Aussendung der Engel, um seine Auserwählten von den vier Winden
her, von einem Ende des Himmels bis zum anderen Ende, zu sammeln. Wir finden
keinen Hinweis auf eine Auferstehung oder Entrückung in den Himmel. Es geht hier
um die Auserwählten Israels und seine Herrlichkeit als Sohn des Menschen. Von
dem Haupt oder der Kirche, seinem Leib, hören wir nichts. Wir finden hier das
Einsammeln der Auserwählten, und zwar nicht nur aus den Juden, sondern auch, wie
ich annehme, aus ganz Israel von den vier Winden des Himmels her. Falls nötig,
wird diese Auslegung durch das unmittelbar folgende Gleichnis gestützt (V.
32–33). Es handelt sich wieder um den Feigenbaum, aber diesmal zu einem ganz
anderen Zweck. Handle es sich um Fluch oder Segen – der Feigenbaum symbolisiert
Israel.
Dann folgt nicht das natürliche, sondern, wie man es nennen mag, das biblische
Gleichnis. Während das eine aus dem äußeren Bereich der Natur entnommen ist,
stammt das andere aus dem Alten Testament. Um das Kommen des Sohnes des Menschen
zu veranschaulichen, verwies der Herr auf die Tage Noahs. Genauso plötzlich
sollte der Schlag auf alle Gegenstände des Gerichts herniederfahren.
„Dann werden zwei auf dem Feld sein, einer wird genommen und einer gelassen;
zwei Frauen werden am Mühlstein mahlen, eine wird genommen und eine gelassen“
(V. 40–41). Die Jünger sollten nicht annehmen, dass es sich um ein
gewöhnliches Gericht durch die Vorsehung handelt, welches mal hier, mal da
hindurchfährt, ohne Unterschiede zu machen. Dabei leidet der Unschuldige mit dem
Schuldigen, ohne dass eine ausreichende persönliche Unterscheidung getroffen
wird. In den Tagen des Sohnes des Menschen, wenn Er zurückkehrt, um sich mit der
Menschheit am Ende des Zeitalters zu beschäftigen, wird es nicht so sein. Ob man
drinnen oder draußen ist – es gibt keinen Schutz. Von zwei Männern auf dem Feld,
von zwei mahlenden Frauen an der Mühle wird die eine Person genommen und die
andere gelassen. Die Unterscheidung ist bis ins Letzte genau und vollkommen.
„Wacht also“, sagte der Herr zum Abschluss,
„denn ihr wisst nicht, an welchem Tag euer Herr kommt. Das aber erkennt: Wenn
der Hausherr gewusst hätte, in welcher Wache der Dieb kommen würde, so hätte er
wohl gewacht und nicht erlaubt, dass sein Haus durchgraben würde. Deshalb auch
ihr, seid bereit! Denn in einer Stunde, in der ihr es nicht meint, kommt der
Sohn des Menschen“ (V. 42–44).
Nach meinem Urteil führt dieser Übergang von dem Teil, der sich mit dem
Schicksal des jüdischen Volkes beschäftigt, zum christlichen Bekenntnis. In dem
ersten dieser allgemeinen Bilder von der Christenheit fehlt jeder Hinweis auf
Jerusalem, den Tempel, das Volk und seine Hoffnung. Danach folgt das Gleichnis
von den zehn Jungfrauen und, als letztes, das von den Talenten. (…)
Als erstes im christlichen Abschnitt kommt das Gleichnis vom Hausverwalter vor
uns. Der treue und weise Hausverwalter handelt entsprechend den Wünschen seines
Herrn, der ihn über seinen Haushalt gesetzt hat, um ihm zur rechten Zeit die
Speise zu geben. Wenn der Herr ihn bei seiner Ankunft in dieser Arbeit
vorfindet, wird Er ihn über seine ganze Habe setzen. Der böse Knecht hingegen
beschließt in seinem Herzen, dass sein Herr nicht kommen wird, überlässt sich
anmaßender Gewalttätigkeit und pflegt bösen Umgang mit der gottlosen Welt. Er
wird vom Gericht überrascht und findet sein Teil bei den Heuchlern in
hoffnungsloser Schande und Pein. Das ist ein lehrreiches Bild vom Christentum
(V. 45–51).
Fußnoten
„Dann wird das Reich der Himmel zehn Jungfrauen gleich werden, die ihre Lampen
nahmen und ausgingen, dem Bräutigam entgegen. Fünf von ihnen aber waren töricht
und fünf klug. Denn die Törichten nahmen ihre Lampen und nahmen kein Öl mit
sich; die Klugen aber nahmen Öl mit in den Gefäßen, zusammen mit ihren Lampen.
Als aber der Bräutigam noch ausblieb, wurden sie alle schläfrig und schliefen
ein“ (V. 1–5). So versagte die Christenheit völlig. Nicht nur die törichten
Jungfrauen schliefen ein, sondern auch die klugen. Alle versagten darin,
der Erwartung des Bräutigams den rechten Ausdruck zu geben. Alle wurden
schläfrig und schliefen ein. Gott sorgte jedoch dafür, wir wissen nicht wie,
dass ihr Schlaf unterbrochen wurde. Anstatt draußen zu warten, müssen sie zum
Schlafen irgendwo hineingegangen sein. Kurz gesagt, sie hatten ihre
ursprüngliche Stellung verlassen. Sie hatten nicht nur ihre Pflicht, die
Rückkehr des Bräutigams zu erwarten, versäumt, sondern befanden sich auch nicht
mehr auf ihrem richtigen Posten. Erst als die Hoffnung wieder auflebte, nahmen
sie erneut ihre rechte Stellung ein und nicht vorher. Um Mitternacht, als alle
schliefen, entstand ein Geschrei:
„Siehe, der Bräutigam! Geht aus, ihm entgegen!“ (V. 6). Dieses wirkte auf
beide Gruppen, auf die weisen wie auch auf die törichten Jungfrauen. Genauso ist
es heute.
Wer könnte leugnen, dass genug törichte Leute vom Kommen des Herrn sprechen und
schreiben? Durch alle Länder und Städte geht eine allgemeine geistige Bewegung.
Trotz heftigen Widerstands breitet sich die Erwartung seines Kommens mehr und
mehr aus. Das ist keineswegs auf die Kinder Gottes beschränkt. Auch diejenigen,
die auf der Suche nach Öl hin und her laufen, werden durch diesen Ruf
beunruhigt. Insbesondere aber jene, die Öl in ihren Gefäßen haben, werden
angespornt, sofort wieder hinauszugehen, um auf die Rückkehr des Bräutigams zu
warten. Doch was für ein Unterschied! Die Weisen hatten sich schon vorher mit Öl
versorgt. Die Übrigen zeigten ihre Torheit darin, dass sie auf den Bräutigam
warteten ohne Öl. Ich möchte insbesondere darauf eure Aufmerksamkeit lenken. Sie
unterschieden sich nicht in der Erwartung des Kommens des Herrn, sondern in dem
Besitz oder Fehlen des Öls, das heißt, in der Salbung von dem Heiligen (1.
Joh 2,20). Alle bekannten Christus. Sie waren alle Jungfrauen mit ihren
Lampen. Das Fehlen des Öls war indes verhängnisvoll. Wer Christi Geist nicht
hat, der ist nicht sein (Röm
8,9). Das waren die Törichten. Sie wussten nicht, wodurch die anderen
weise zur Errettung geworden waren (2.
Tim 3,15), was immer sie auch bekennen mochten. Ihre rastlose Suche nach
dem, was sie nicht hatten, trennte sie letztlich von der Gesellschaft derer, mit
denen sie bei der Erwartung des Herrn ausgegangen waren.
Etliche meinen, dass es sich bei den törichten Jungfrauen um Christen handelt,
die nicht über die Prophetie Bescheid wissen. Diese Meinung scheint mir nicht
nur falsch zu sein, sondern auch einer geistlichen Gesinnung gänzlich unwürdig.
Ist der Besitz Christi weniger kostbar als die Kenntnis eines richtigen
Zeitplans bezüglich der Zukunft? Ich kann mir einen Christen ohne Öl in seinem
Gefäß nicht vorstellen. Es handelt sich doch ganz klar um den Heiligen Geist,
den jeder Heilige, der sich der Gerechtigkeit Gottes in Christus unterwirft, in
sich wohnen hat. Johannes lehrt uns (1.
Joh 2), dass sogar die geringsten Glieder der Familie Gottes – nicht nur
die Väter und Jünglinge, sondern ausdrücklich auch die Kindlein – diese Salbung
besitzen. Wenn die Jüngsten in Christus so bevorrechtigt sind, dann natürlich
erst recht die Jünglinge und Väter. Darum bestehe ich mit vollster Überzeugung
darauf, dass die Auslegung richtig ist, welche sagt, dass das Öl im Gleichnis
nicht prophetische Erkenntnis, sondern die Gabe des Geistes Gottes darstellt,
und dass jeder Christ, aber niemand sonst, den Heiligen Geist in sich wohnen
hat. Das sind also die klugen Jungfrauen, die sich für den Bräutigam bereit
machten und bei seinem Kommen mit Ihm zur Hochzeit gingen. Je näher diese Stunde
kam, desto unruhiger wurden die anderen Jungfrauen. Sie ruhten in Bezug auf ihre
Seelen nicht durch den Glauben in Christus. Sie besaßen nicht den Heiligen
Geist; und suchten die unschätzbare Gabe irgendwo zu kaufen. Sie baten um Hilfe
und fragten, bei wem sie das unbezahlbare Öl erwerben konnten. Inzwischen kam
der Herr. Diejenigen, welche bereit waren, gingen mit Ihm zur Hochzeit; und die
Tür wurde verschlossen. Die übrigen Jungfrauen blieben draußen. Der Herr kannte
sie nicht.
Im Vorbeigehen möchte ich anmerken, dass sich diese Jungfrauen von den
Gläubigen, die am Ende des Zeitalters berufen werden, in wichtigen Merkmalen
unterscheiden. Es gibt keinen Grund, anzunehmen, dass die Dulder in jener
Krisenzeit jemals vom Schlaf beschwert werden wie die Heiligen während des
langen Hinziehens des Christentums. Diese kurze Zeit einer unvergleichlichen
Erprobung und Gefahr lässt einen Schlaf nicht zu. Außerdem finden wir in der
Schrift keinen Beweis dafür, dass die Dulder der letzten Tage den Heiligen Geist
besitzen. Das ist das besondere Vorrecht der Gläubigen, seitdem der verworfene
Christus seinen Platz als Haupt im Himmel eingenommen hat. Ohne Zweifel wird im
1000-jährigen Reich der Heilige Geist über alles Fleisch ausgegossen. Aber keine
Prophezeiung deutet an, dass der Überrest, bevor er Jesus sieht, so
bevorrechtigt ist. Als dritten Punkt des Unterschiedes weise ich darauf hin,
dass nirgendwo gesagt wird, dass diese Dulder hinausgehen, um dem Bräutigam zu
begegnen. Sie sollen vor dem Gräuel der Verwüstung fliehen; das ist allerdings
eher ein Gegensatz als eine Übereinstimmung.
Das dritte Gleichnis zeigt wieder ein anderes Stadium. Während der Abwesenheit
des Herrn, bevor Er erscheint, um die Herrschaft über die Welt einzunehmen, gibt
Er den Menschen Gaben, und zwar unterschiedliche Gaben und in unterschiedlichem
Maß. Dieses Kennzeichen gehört insbesondere zum Christentum und seinem aktiven
Zeugnis in der ihm eigenen Mannigfaltigkeit. Ich wüsste nicht, dass irgendetwas
in den letzten Tagen dem Geschilderten in seinem Charakter genau entspricht;
denn dann wird es nur ein kurzes, aber kräftiges Zeugnis von dem Reich geben.
Die Gaben von
Matthäus 25 scheinen mir die Tätigkeit der Gnade, die hinausgeht und für
einen verworfenen und abwesenden Herrn in der Höhe arbeitet, vollständig
deutlich zu machen. Ich darf jedoch nicht bei weniger wichtigen Einzelheiten
verweilen. Dadurch würde ich meiner Absicht schaden, einen zusammenfassenden
Überblick von geringem Umfang zu geben.
Die letzte Szene des Kapitels ist sowieso für jede einsichtige Seele klar genug.
„Alle Nationen“ oder Heiden stehen im Blickfeld. Darüber kann es keinen
Irrtum geben. Am Anfang der Rede unseres Herrn wurden uns die Juden vorgestellt,
und zwar, weil die Jünger damals Juden waren. Da die Jünger später aus dem
Judentum in das Christentum übertraten, finden wir natürlich der Reihenfolge
nach die christliche Einschaltung an zweiter Stelle. Wir sehen dann als Drittes
„alle Nationen“, die einfach als solche bezeichnet werden und sich in der
eindeutigsten Weise sowohl in ihrer Bezeichnung als auch in den Dingen, die von
ihnen gesagt werden, von den anderen beiden Gruppen unterscheiden. Sie werden
vor dem Herrn versammelt; und der Sohn des Menschen handelt am Ende mit ihnen
sichtlich als Nationen, wenn Er als König über die Erde regiert. Die Frage, die
vor seinem Thron geklärt wird und die ihr ewiges Los entscheidet, betrifft nicht
die Geheimnisse des Herzens, die ohnehin nicht offengelegt werden, oder ihr
allgemeines Leben, sondern ihr Verhalten gegen seine Boten. Wie hatten sie
gewisse Menschen behandelt, die der König seine Brüder nennt? Sie werden also
danach beurteilt, wie sie sich zu einem kurzen Zeugnis am Ende der gegenwärtigen
Haushaltung gestellt haben. Dieses Zeugnis wird zweifellos durch jüdische Brüder
des Königs abgelegt in einer Zeit, während der sich die ganze Welt über das Tier
verwundert und die Menschheit im Allgemeinen wieder den Götzen zuwendet und in
die Hände des Antichristen fällt. Das Zeugnis passt zu der Krise, nachdem der
christliche Leib in den Himmel aufgenommen worden ist und die Erde wieder im
Mittelpunkt steht. So werden diese Nationen oder Heiden nach ihrem Verhalten
gegen die Boten des Königs in der Zeit vor und bis zu dem Augenblick, wo Er sie
vor den Thron seiner Herrlichkeit ruft, behandelt. Denn in der Zeit einer sehr
ernsten Verführung benötigt man das lebensspendende Werk des Heiligen Geistes,
um seine verachteten Herolde anzuerkennen. Das gilt natürlich für die Annahme
eines jeden Zeugnisses Gottes. Der Herr handelt hier also nicht auf der
Grundlage einer sittlichen Wirkung auf die Seele, wie sie für ein Zeitalter (z.
B. dem des Gesetzes oder dem der Predigt der Gnade Gottes) kennzeichnend ist und
sich im normalen Ablauf eines Menschenlebens zeigen muss. Nichts dieser Art
scheint mir der Ausgangspunkt für die Handlungsweise des Herrn mit den Schafen
und Böcken zu sein.
Fußnoten
Das Lehren über praktische und prophetische Themen ist jetzt zu Ende. Die Szene
über alle Szenen naht heran, über die ich, so gesegnet sie auch ist, jetzt nicht
viel sagen kann. Der Herr Jesus war dem Volk vorgestellt worden. Er hatte
gepredigt, Wunder gewirkt und die Jünger belehrt. Er war all den verschiedenen
Klassen seiner Widersacher begegnet und hatte seine Jünger einen Blick in die
Zukunft bis zum Ende des Zeitalters werfen lassen. Jetzt bereitete Er sich vor,
um zu leiden – zu leiden in absoluter Übergabe an seinen Vater. Folglich
richteten Ihn jetzt nicht mehr die Menschen mit Worten, sondern Gott in seiner
Person am Kreuz. Gnade und Wahrheit sind durch Jesus Christus gekommen (Joh
1,17). So sehen wir es hier. Aber seine Zuneigungen in ihrer Fülle wurden
nicht eingeschränkt. Hier, abseits der Volksmenge, genoss der Herr eine Weile
jegliche Rast, die seinem Geist gewährt wurde. Die aktive Arbeit war getan. Es
blieb nur noch das Kreuz – diese wenigen Stunden von ewigem Wert und
unergründlicher Bedeutung, mit denen wirklich nichts zu vergleichen ist.
Jesus wird jetzt im Haus in Bethanien gefunden. Es ist eine der wenigen Szenen,
die in fast allen Evangelien, außer bei Lukas, vom Heiligen Geist vorgestellt
wird. Sie steht im Gegensatz zum Kreuz, ja, ist die Vorbereitung darauf. Der
Geist Gottes wirkte mächtig in dem Herzen einer Frau, die den Heiland liebte.
Zur gleichen Zeit trieb Satan das Herz des Menschen an, das Schlimmste gegen
Jesus zu wagen. Um diese beiden Mittelpunkte herum waren die verschiedenen
Menschengruppen versammelt. Was für ein Augenblick für Himmel, Erde und Hölle!
Wie sehr – oder besser gesagt, wie wenig – sah man den Menschen! Denn wenn eine
Eigenschaft bei seinen Feinden besonders ins Auge fällt, dann ist es ihre
Machtlosigkeit selbst zu der Zeit, als Jesus, wie es schien, ihr Opfer und jedem
feindlichen Hauch ausgesetzt war. Und doch vollendete Er alles, obwohl Er
freiwillig den Platz des Leidenden einnahm, während sie nichts ihrer Vorstellung
entsprechend ausführen konnten. Sie waren frei, alles zu tun; denn es war ihre
Stunde und die Gewalt der Finsternis. Sie vollendeten jedoch nur ihre
Ungerechtigkeit. Selbst in ihrer Ungerechtigkeit taten sie ausschließlich den
Willen Gottes, obwohl sie es nicht wollten und es ihren Plänen widersprach. Sie
handelten nach ihrem Willen in Hinsicht auf ihre Schuld; sie führten ihn jedoch
nie so aus, wie sie es sich gewünscht hatten. Wie uns gesagt wird, waren sie
zunächst besorgt, dass die Tat, nach der sie verlangten, nämlich die Tötung
Jesu, nicht am Passah stattfinden sollte. Aber ihr Beschluss war vergeblich. Von
Anfang an hatte Gott entschieden, dass es an diesem Tag, und an keinem anderen,
geschähe. Sie kamen zusammen, sie ratschlagten,
„damit sie Jesum mit List griffen und töteten.“ Das Ergebnis ihrer
Beratung war nur:
„Nicht an dem Fest, damit kein Aufruhr unter dem Volk entsteht“ (V. 5). Sie
konnten den Verrat eines Jüngers und das öffentliche Urteil eines römischen
Landpflegers nicht voraussehen. Außerdem gab es entgegen ihren Befürchtungen
keinen Aufruhr unter dem Volk. Jesus starb an jenem Tag nach dem Wort Gottes.
Wenden wir uns nun einen kurzen Augenblick zur Seite, wo die Menschengruppe um
unseren Herrn sich im Haus Simons, des Aussätzigen, aufhielt. Dort wurde
die Anbetung eines Herzens, das Ihn liebte – wenn es jemals ein solches gab –
ausgegossen. Es wartete nicht auf die Verheißung des Vaters (Lk
24,49). Aber die göttliche Person, die kurze Zeit später im Überfluss
mitgeteilt wurde, wirkte schon damals in den Trieben einer neuen Natur. Es
„kam eine Frau zu ihm, die ein Alabasterfläschchen mit sehr kostbarem Salböl
hatte, und goss es aus auf sein Haupt, als er zu Tisch lag“ (V. 7). Johannes
sagt uns (Kap. 12), dass sie die Salbe aufbewahrt hatte. Sie hatte diese nicht
für diese besondere Gelegenheit gekauft. Es war das Beste, was sie hatte, und
sie goss es über Jesus aus. Wie gering erschien dies in ihren Augen; wie kostbar
war es in seinen, indem sie es für den gebrauchte, welchen sie liebte und dessen
drohende Gefahr sie fühlte. Denn die Liebe fühlt schnell und fühlt genauer als
die geschärfteste menschliche Klugheit. So sprengte also diese Frau ihre Salbe
auf sein Haupt. Johannes spricht von seinen Füßen. Es wurde sicherlich über
beides ausgeschüttet. Matthäus hat jedoch den König vor Augen; und es war
üblich, nicht die Füße, sondern den Kopf eines Königs zu salben. So berichtet er
natürlicherweise von dem Teil der Handlung, der zum Messias passte. Johannes
hingegen, dessen Thema darin besteht zu zeigen, dass Jesus unendlich mehr als
ein König war – obwohl in Liebe demütig, um alles über sich ergehen zu lassen –,
berichtet ganz passend, dass Maria seine Füße salbte. Es ist auch interessant,
wenn wir sehen, dass die Liebe und das tiefe Gefühl für die Herrlichkeit Jesu
sie zu dem anleitete, was auch in dem Herzen einer Sünderin, die in der
Gegenwart seiner Gnade völlig zusammengebrochen war, bewirkt wurde. Denn Lukas
erwähnt eine andere Person. In
Lukas 7,37 kam
„eine Frau in die Stadt, die eine Sünderin war“. Es handelte sich um
eine ganz andere Person, zu einer ganz anderen, früheren Zeit und im Haus eines
anderen Simon, eines Pharisäers. Auch sie salbte die Füße Jesu mit einer
Alabasterflasche voll Salbe. Aber sie stand hinten zu seinen Füßen, weinte und
begann seine Füße mit Tränen zu waschen; dann trocknete sie diese mit den Haaren
ihres Hauptes und küsste sie sehr. Es werden viele Einzelheiten genannt, die mit
diesem Fall harmonieren. Ich möchte nur herausstellen, wie die Gefühle einer
armen Sünderin, die seine Gnade angesichts ihrer erwiesenen Unwürdigkeit spürte,
und einer liebenden Anbeterin, die von der Herrlichkeit seiner Person erfüllt
war und die Bosheit seiner Feinde empfand, verwandt sind.
Wie dem auch sei – der Herr verteidigte sie angesichts der unzufriedenen und
murrenden Jünger. Darin liegt eine ernste Lehre; denn wir sehen, wie eine
verderbte Seele andere beschmutzen kann, die unvergleichlich besser sind als
sie. Das ganze Kollegium der Apostel, der Zwölf, wurde für einen Augenblick
durch das Gift, das einer verspritzte, beeinflusst. Was für Herzen haben
wir – selbst zu einer solchen Zeit und angesichts einer solchen Liebe! Aber so
war und, leider, ist es. Ein böses Auge kann sehr schnell seine
schändlichen Empfindungen mitteilen; und davon werden viele verunreinigt. Judas
war die Ursache. Doch in den übrigen Jüngern lag ebenfalls etwas, was sie für
eine ähnliche Selbstsucht auf Kosten Jesu empfänglich machte. Sie erlaubten
allerdings nicht jenen teuflischen Einfluss, der Judas seine Gedanken eingab.
Sicherlich enthält dieses Beispiel auch für uns eine ernste Warnung. Wie oft
hüllt sich Satan in die Sorge um die Lehre wie hier in die Sorge für die Armen!
In sittlicher Hinsicht stand dieses Ereignis in direkter Verbindung mit den
folgenden Leiden Christi. Die Hingabe der Frau wurde von Satan benutzt, um Judas
zu seiner letzten Schlechtigkeit anzutreiben, indem ihr Herzenserguss, den sein
Herz nicht im Geringsten würdigen konnte, seinen Entschluss förderte. Danach
ging er hin, um Jesus zu verkaufen. Wenn er das Fläschchen mit der kostbaren
Salbe oder seinen Gegenwert nicht bekommen konnte, dann wollte er, solange es
noch möglich war, sich einen kleinen Gewinn sichern, indem er Jesus an seine
Feinde verkaufte.
„Was wollt ihr mir geben“, sagte er zu den Hohenpriestern,
„und ich werde ihn euch überliefern?“ So wurde der Bund geschlossen –
ein Bund mit dem Tod und ein Vertrag mit der Hölle.
„Sie aber stellten ihm dreißig Silberstücke fest“ – des Menschen, Israels,
würdiger Preis für Jesus (V. 14–16).
Die Frau hatte Jesus ihr Geschenk gegeben und damit sich selbst ein Gedächtnis
bereitet, wo immer und wann immer das Evangelium des Reiches auf der ganzen Erde
verkündigt wird. Jetzt setzte Jesus das beständige, unvergängliche Andenken
seiner sterbenden Liebe ein. Er stiftete das neue Fest, sein Mahl, für seine
Jünger. Beim Passahfest nahm Er Brot und Wein und weihte sie dazu, auf der Erde
das beständige Erinnerungszeichen an Ihn inmitten der Seinen zu sein. In den
Einsetzungsworten finden wir einige Unterschiede, mit denen wir uns beschäftigen
wollen, wenn wir bei Gelegenheit die anderen Evangelien betrachten. Von diesem
Tisch ging unser Herr nach Gethsemane und in seine Todesangst dort. Welcher
Kummer, welche Pein, welche Leiden auch immer über Ihn hereinbrachen – unser
Herr beugte sich niemals den äußerlichen Leiden vonseiten der Menschen, bevor er
sie nicht in seinem Herzen allein mit seinem Vater getragen hatte. Er durchlebte
sie im Geist, bevor Er sie wirklich erduldete. Und das, glaube ich, ist hier der
Hauptpunkt. Ich sage nicht, dass das alles ist, was wir hier finden; denn hier
begegnete Er den Schrecken des Todes – und was für eines Todes! –, die der Fürst
dieser Welt auf Ihn lud; aber er fand nichts in Ihm (Joh
14,30). So konnte in der Stunde, als die Leiden wirklich über Ihn kamen,
Gott in Ihm, dem Sohn des Menschen, verherrlicht werden. Daraufhin verkündigte
Er, nachdem Er aus den Toten auferweckt worden war durch die Herrlichkeit des
Vaters, hinfort seinen Brüdern den Namen seines Vaters und ihres Vaters, und
seines Gottes und ihres Gottes, und zwar sowohl der Natur als auch
der Beziehung nach. Hier betete Er noch zum Vater, während Er am Kreuz, wenn
auch nicht ausschließlich,
„Mein Gott“ rief. Diese Einzelheiten sind tiefgründig in ihrer Lehre.
Im Garten forderte unser Herr die Jünger auf, zu wachen und zu beten; doch genau
das war für sie zu schwer. Sie schliefen – und beteten nicht. Welch ein
Unterschied zu Jesus zeigte sich später, als die Versuchung kam! Dabei waren die
Umstände für sie nur ein bloßer Widerschein von dem, wodurch Er gehen musste.
Entweder erträgt die Welt den Tod mit der Verstocktheit, die allem trotzt, weil
sie an nichts glaubt, oder sie empfindet ihn als Ende ihrer gegenwärtigen
Vergnügungen wie einen plötzlichen Schmerz, ein dunkles Tor, von dem sie nicht
weiß, was dahinter liegt. Für den Gläubigen, für den jüdischen Jünger vor der
Erlösung, war der Tod in einem Sinn noch bitterer; denn er hatte eine richtigere
Vorstellung von Gott und dem sittlichen Zustand des Menschen. Jetzt ist jedoch
durch den Tod des Herrn, den die Jünger so wenig schätzten, alles verändert,
während damals der bloße Schatten seines Todes sie alle zu Fall bringen und
jedes Bekenntnis ihres Glaubens auslöschen konnte. Jener von ihnen, der am
meisten von allen auf die Kraft seiner Liebe vertraute, bewies, wie wenig er
bisher, trotz seiner voreiligen Prahlerei, von der Wirklichkeit des Todes
wusste. Und doch, was wäre, im Vergleich zum Tod Jesu, der Tod in seinem Fall
gewesen!? Selbst dieser war indessen viel zu schwer für die Kraft des Petrus.
Alles erwies sich als kraftlos bis auf den Einen, der sogar in seiner größten
Schwachheit zeigte, dass Er allein der Geber aller Kraft und der Offenbarer
aller Gnade war, sogar als Er unter einem solchen Gericht zermalmt wurde, wie es
kein Mensch jemals gekannt hat, noch kennen lernen wird.
Danach sehen wir unseren Herrn nicht mehr bei seinen versagenden, treulosen oder
verräterischen Jüngern, sondern, als seine Stunde gekommen war, in der Gewalt
der feindlichen Welt der Priester, Statthalter, Söldner und des Volkes. Alles,
was der Mensch versuchte, brach zusammen. Sie hatten ihre Zeugen; diese stimmten
hingegen nicht überein. Überall sehen wir Versagen, sogar in der Bosheit. Nicht
der Wille des Menschen versagte, sondern seine Ausführung. Ausschließlich Gott
leitete alles. So wurde Jesus nicht aufgrund ihres Zeugnisses verurteilt,
sondern seines eigenen. Wie wunderbar! Sogar um Ihn zu töten, benötigten sie das
Zeugnis Jesu. Sie konnten Ihn nur wegen seines guten Bekenntnisses (1.
Tim 6,13) zum Tod verurteilen. Sein doppeltes Zeugnis – nämlich vor den
Hohenpriestern und vor dem Statthalter – von der Wahrheit erlaubte ihnen, ihre
böseste Tat auszuführen. Nachdem Pilatus durch seine Frau gewarnt worden war,
denn der Herr sorgte dafür, dass es einen Hinweis durch die Vorsehung gab, und
weil ersterer zu weitblickend war, um die Bosheit der Juden und die Unschuld des
Angeklagten zu übersehen, erklärte Pontius Pilatus seinen Gefangenen für
schuldlos. Trotzdem erlaubte er, dass man ihn zwang, gegen sein Gewissen und
nach den Wünschen derer, die er von Herzen verachtete, zu handeln.
Noch einmal, bevor Jesus zur Kreuzigung hinausgeführt wurde, zeigten die Juden
ihren sittlichen Zustand. Denn als der rohe Heide sie vor die Alternative
stellte, ihnen Jesus oder Barabbas freizulassen, gaben sie unter priesterlicher
Anstiftung einem Schuft, einem Räuber und Mörder den Vorzug. Diese Gefühle
hatten die Juden, Gottes Volk, für ihren König, weil Er der Sohn Gottes, Jahwe,
und nicht einfach ein Mensch war. Mit bitterer Ironie, doch nicht ohne Gott,
schrieb Pilatus die Beschuldigungsschrift:
„Dieser ist Jesus, der König der Juden“ (V. 37). Das war indessen nicht das
einzige Zeugnis vonseiten Gottes; denn von der sechsten Stunde an war eine
Finsternis über dem ganzen Land bis zur neunten Stunde. Und dann, als Jesus mit
lauter Stimme seinen Geist aufgab, geschah das, was insbesondere das Herz eines
Juden treffen musste. Der Vorhang des Tempels wurde von oben bis unten in zwei
Stücke zerrissen; die Erde erbebte und die Felsen zersprangen. Was kann man sich
ernster für Israel vorstellen? Sein Tod war der Todesstreich für das jüdische
System als Folge eines Schlages dessen, der unverkennbar der Schöpfer von Himmel
und Erde war. Nicht nur jenes System wurde aufgelöst, sondern sogar die Macht
des Todes. Denn die Gräber wurden geöffnet und viele Leiber von entschlafenen
Heiligen wurden auferweckt und kamen nach seiner Auferstehung aus ihren Grüften
als Zeugen von dem Wert seines Todes. Allerdings wurde der Wert dieses Todes
erst nach seiner Auferweckung verkündet.
Ich zögere nicht, es auszusprechen: Der Tod Jesu ist die einzige Grundlage einer
rechtmäßigen Befreiung von der Sünde. In der Auferweckung wird die gewaltige
Macht Gottes gesehen. Aber was bedeutet Macht für einen Sünder, dem Gott vor
seiner Seele steht, im Vergleich zur Gerechtigkeit? Im Vergleich zur Gnade? Und
genau das haben wir hier. Deshalb ist allein der Tod Jesu der wahre Mittel- und
Angelpunkt aller Ratschlüsse und Wege Gottes in Gerechtigkeit und Gnade. Ohne
Zweifel ist es die Auferstehung, welche alles offenbar und bekannt macht. Sie
verkündet hingegen die Macht seines Todes, weil dieser allein Gott sittlich
gerechtfertigt hat. Ausschließlich der Tod Jesu hat bewiesen, dass nichts seine
Liebe überwältigen konnte. Sogar Verwerfung und Tod waren nur die Gelegenheiten,
seine Liebe bis zum Äußersten zu zeigen. Selbst in der Person Jesu bietet nichts
einen solchen gemeinsamen und vollkommenen Ruheplatz für Gott und den Menschen
wie Jesu Tod. Wenn wir uns jedoch mit den Begriffen Kraft, Freiheit und Leben
beschäftigen, müssen wir uns zweifellos zur Auferstehung wenden. Deswegen wird
sie notwendigerweise in der Apostelgeschichte besonders herausgestellt. Denn
hier ging es auf der einen Seite darum, einen Beweis von der offenbarten und
verworfenen Gnade zu liefern. Auf der anderen Seite erfahren wir, wie Gott die
Entehrung Jesu durch den Menschen in ihr Gegenteil umkehrte, indem Er Ihn von
den Toten auferweckte und zu seiner Rechten im Himmel erhöhte. Das zeigte sich
nicht im Tod Jesu. Im Gegenteil! Im Tod Jesu schienen die Menschen zu
triumphieren. Sie waren Ihn losgeworden. Aber die Auferstehung bewies, wie
vergeblich und kurzlebig ihr Sieg war und dass Gott gegen sie auftrat. Gott
wollte deutlich machen, dass der Mensch sich in grenzenloser Feindschaft gegen
Ihn befand. Daraufhin erklärte Gott sein Urteil darüber. Die Auferweckung
dessen, den der Mensch erschlug, verkündet dies zweifelsfrei. Ich gebe zu: In
der Auferstehung Christi ist Gott für uns, die Gläubigen. Sünder und Gläubige
dürfen jedoch nicht verwechselt werden, da zwischen beiden ein gewaltiger
Unterschied besteht. Wie groß das Zeugnis von der vollkommenen Liebe in der Gabe
und dem Tod Jesu auch sein mag, für den Sünder kann in der Auferstehung Jesu
nichts als Verdammnis liegen. Ich weise umso nachdrücklicher hierauf hin, weil
die Wiederentdeckung der herrlichen Wahrheit von der Auferstehung Christi manche
in einer Art Reaktion dazu führt, den Wert, den sein Tod in den Augen Gottes hat
und in unserem Glauben haben sollte, abzuschwächen. Mögen also jene, welche die
Auferstehung hochschätzen, darauf achten, dass sie auch den rechten Wert des
Kreuzes eifersüchtig festhalten!
Beide Gesichtspunkte werden hier in bemerkenswerter Weise beachtet. Nicht die
Auferstehung, sondern der Tod Jesu zerriss den Vorhang des Tempels. Nicht seine
Auferstehung öffnete die Gräber, sondern sein Kreuz, obwohl die Heiligen erst
nach Ihm auferstanden. Genauso ist es bei uns in praktischer Hinsicht.
Tatsächlich erkennen wir niemals den vollen Wert des Todes Christi, wenn wir ihn
nicht von der Macht und den Ergebnissen der Auferstehung her ansehen. Doch wir
betrachten von dort her nicht die Auferstehung selbst, sondern den Tod Jesu.
Folglich verkündigen wir in den kirchlichen Versammlungen und ganz besonders am
Tag des Herrn durch das Brotbrechen nicht die Auferstehung, sondern den Tod des
Herrn. Andererseits verkündigen wir seinen Tod nicht an seinem Todestag, sondern
an dem der Auferstehung. Wenn ich vergesse, dass es der Auferstehungstag ist,
dann verstehe ich meine Freiheit und Freude nur wenig. Wenn aber der
Auferstehungstag nicht mehr vor mich bringt als die Auferstehung, dann zeigt das
nur zu klar, dass der Tod Christi seine unendliche Gnade für meine Seele
verloren hat.
Auch die Ägypter wollten das Rote Meer passieren. Sie sorgten jedoch nicht
dafür, dass ihre Türen mit dem Blut des Lammes besprengt waren. Sie versuchten
an den Wasserwällen vorbei zu ziehen, um Israel zur anderen Seite zu folgen. Wir
lesen indessen nicht, dass sie jemals Schutz hinter dem Blut des Passahlammes
gesucht hatten. Zweifellos ist das ein extremer Fall und entspricht der
Urteilsfähigkeit des natürlichen Menschen. Wir dürfen nichtsdestoweniger sogar
von einem Feind lernen, dass wir die Auferstehung nicht gering schätzen sollen.
Noch größer ist dagegen der Wert des Todes und des Blutvergießens unseres
kostbaren Heilandes. In Hinsicht auf Gott und den Menschen ist nichts so
bedeutungsvoll wie der Tod Christi.
Im Gegensatz zu den armen, aber hingebungsvollen Frauen aus Galiläa, die das
Kreuz umgaben, sehen wir die Befürchtungen, die berechtigten Befürchtungen
derer, die den Tod Jesu herbeigeführt hatten. Diese schuldigen Männer gingen
voller Angst zu Pilatus. Sie fürchteten
„jenen Verführer“ und bekamen ihre Wache, ihren Stein und ihr Siegel – aber
alles vergeblich! Der Herr, der im Himmel sitzt, spottete ihrer. Jesus hatte die
Seinen darauf vorbereitet (und seine Feinde wussten es), dass Er am dritten Tag
auferstehen würde.
Am Abend vorher kamen Frauen, um sich den Ort anzusehen, wo Jesus begraben lag.
An jenem Morgen, sehr früh noch, als dort nur die Wächter waren, stieg ein Engel
des Herrn hernieder. Es wird uns nicht gesagt, dass unser Herr zu jener Zeit
auferstand. Noch weniger wird gesagt, dass der Engel des Herrn den Stein
für Ihn wegrollte. Er, der durch Türen gehen konnte, die aus Furcht vor den
Juden verschlossen waren, konnte genauso leicht durch den versiegelten Stein
gehen, trotz aller Söldner des Römischen Reiches. Wir wissen, dass sich der
Engel, nachdem er den großen Stein, der die Grabstätte verschloss, weggerollt
hatte, auf diesen setzte. Obwohl nämlich unser Herr von den Menschen verachtet
und verworfen war, erfüllte Er doch die Prophezeiung Jesajas, indem Er sein Grab
bei einem Reichen fand (Jes
53). Unser Herr erhielt noch ein weiteres Zeugnis, indem sogar die Hüter,
verhärtet und kühn wie diese normalerweise sind, zitterten und wie Tote wurden.
Die Frauen wurden jedoch vom Engel aufgefordert, sich nicht zu fürchten; denn
dieser Jesus, der Gekreuzigte,
„ist nicht hier, denn er ist auferstanden, wie er gesagt hat. Kommt her, seht
die Stätte, wo der Herr gelegen hat, und geht eilends hin und sagt seinen
Jüngern: ... Siehe, er geht euch voraus nach Galiläa“ (V. 6–7).
Letzteres ist ein wichtiger Punkt, um das Thema seiner Verwerfung, bzw. ihrer
Folgen in seiner Auferstehung, zu vervollständigen. Deshalb weist Matthäus
sorgfältig darauf hin, obwohl auch Markus für seinen Zweck davon berichtet.
Matthäus spricht nämlich nicht von den verschiedenen Erscheinungen des Herrn in
Jerusalem nach seiner Auferstehung. Aber er besteht ganz besonders, und
natürlich aus einem guten Grund, darauf, dass der Herr nach seiner Auferstehung
an dem Ort festhielt, wohin Ihn der Zustand der Juden gewöhnlich geführt hatte
und wo Er sein Licht nach der Prophetie hatte ausstrahlen lassen. Der Herr nahm
in Galiläa seine Beziehungen zum Überrest, der durch die Jünger verkörpert
wurde, nach seiner Auferstehung von den Toten wieder auf. Es war der Platz der
Verachtung seitens der Juden. Dort wohnten die unwissenden Armen der Herde, die
von den stolzen Schriftgelehrten und Führern aus Jerusalem vernachlässigt
wurden. Es gefiel dem auferstandenen Herrn, vor seinen Knechten her dorthin zu
gehen, um ihnen dort zu begegnen.
Als die Frauen aus Galiläa mit dieser Botschaft den Engel verließen, traf sie
der Herr.
„Sie aber traten herzu, umfassten seine Füße und huldigten ihm“ (V. 9).
Bemerkenswerterweise wird ihnen dies in unserem Evangelium erlaubt. Als Maria
Magdalene in ihrem Wunsch, Ihm die gewohnte Ehrerbietung zu erweisen,
möglicherweise ähnlich handeln wollte, lehnte Er das entschieden ab. Das wird
jedoch im Johannesevangelium erwähnt (Kap. 20). Wie kommt es, dass die beiden
apostolischen Berichte uns zeigen, wie zum einen die Huldigung der Frauen
angenommen und zum anderen die der Maria Magdalene abgelehnt wurde? Und das
geschah an demselben Tag und vielleicht zu derselben Stunde. Die Handlung selbst
ist in beiden Berichten bedeutungsvoll. Ich nehme an, der Grund liegt darin,
dass Matthäus uns nicht nur vorstellt, wie der verworfene Messias auch als
Auferstandener seine Beziehungen zu seinen Jüngern in jenem verachteten Teil des
Landes wieder aufnahm. Er gab auch durch die Entgegennahme der Huldigung seitens
der Töchter Galiläas ein Pfand seiner besonderen Verbindung zu den Juden in den
letzten Tagen. Denn gerade das werden die Juden von dem Herrn erwarten. Das
heißt, ein Jude rechnet mit der körperlichen Anwesenheit des Herrn. Im
Johannesevangelium ist es genau umgekehrt; denn hier wird das Muster eines
gläubigen Juden aus seinen jüdischen Beziehungen herausgenommen und in
Verbindung mit Ihm gebracht, der im Begriff stand, in den Himmel aufzufahren. Im
Matthäusevangelium wurde Er angerührt. Sie durften ohne Einwände seine Füße
umfassen und huldigten Ihm in körperlicher Gegenwart. Im Johannesevangelium sagt
Er: „Rühre mich nicht an“ – und aus welchem Grund? – „denn ich bin noch nicht
aufgefahren zu meinem Vater. Geh aber hin zu meinen Brüdern und sprich zu ihnen:
Ich fahre auf zu meinem Vater und eurem Vater und zu meinem Gott und eurem Gott“
(Joh
20,17). Hinfort sollte Ihm droben die Anbetung dargebracht werden. Er ist
jetzt unsichtbar, doch dem Glauben dort bekannt. Bei den Frauen im
Matthäusevangelium stellte Er sich hienieden der Anbetung dar. Die Frau im
Johannesevangelium sollte Ihn jetzt nur noch als den Himmlischen kennen. Die
körperliche Gegenwart war bedeutungslos; denn der Herr fuhr in den Himmel auf
und verkündigte von dorther unsere neuen Beziehungen zu seinem Vater und Gott.
So sehen wir in dem einen Fall, wie die jüdischen Hoffnungen auf seine Gegenwart
auf der Erde als Voraussetzung für die Huldigung Israels anerkannt werden. Im
anderen Evangelium führte seine persönliche Abwesenheit und Himmelfahrt die
Seelen in eine höhere und passendere Verbindung mit Ihm sowie auch mit Gott.
Selbst solche, die Juden gewesen waren, wurden aus ihrer alten Stellung
herausgenommen, um den Herrn nicht mehr nach dem Fleisch zu kennen (2.
Kor 5,16).
In völliger Übereinstimmung damit finden wir in diesem Evangelium nicht die
Himmelfahrt. Wenn wir nur das Matthäusevangelium besäßen, wüssten wir nichts von
diesem wunderbaren Geschehen. Die Weglassung ist so auffällig, dass ein gut
bekannter Kommentar (die erste Auflage von Alford) die vorschnelle und
unehrerbietige Hypothese vorbringt, dass unser Matthäusevangelium eine
unvollständige griechische Version eines hebräischen Originals sei, weil dieser
Bericht fehlt. Denn es war nach Ansicht jenes Schreibers unmöglich, dass ein
Apostel die Schilderung dieses Ereignisses weglassen konnte. Es ist aber so,
dass jede Hinzufügung der Himmelfahrt zum Matthäusevangelium dasselbe überladen
und verdorben hätte. Das schöne Ende des Matthäusevangeliums liegt gerade darin,
dass unser Herr entsprechend der Verabredung seine Jünger auf einem Berg in
Galiläa traf, während die Hohenpriester und Ältesten ratschlagten, wie sie ihre
Bosheit mit Falschheit und Bestechung verbergen konnten – und ihre Lüge
„wurde bei den Juden bekannt bis auf den heutigen Tag“ (V. 15). Der Herr
sandte seine Jünger aus, um alle Nationen zu Jüngern zu machen. Wie groß der
Wechsel der Haushaltung ist, sehen wir bei einem Vergleich mit seinem früheren
Auftrag an dieselben Männer in
Matthäus 10. Jetzt sollten sie die Nationen auf den Namen des Vaters,
usw. taufen. Er sprach nicht von Gott dem Allmächtigen der Erzväter oder vom
Jahwe-Gott Israels. Der Name des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes
kennzeichnet das Christentum. Erlaubt mir zu sagen, dass dies die wahre Formel
der christlichen Taufe ist. Jedes Weglassen dieses Bildes gesunder Worte scheint
mir so verderblich für die Gültigkeit der Taufe zu sein wie jede Änderung in
anderer Hinsicht, auf die man sonst noch hinweisen könnte. Alles Jüdische ist
verdrängt worden. Anstatt einfach das Überbleibsel einer älteren Haushaltung,
die verändert oder vielmehr beiseitegesetzt worden ist, zu sein, sehen wir im
Gegenteil die volle Offenbarung des Namens Gottes, wie er erst jetzt, und nicht
früher, bekannt gemacht worden ist. Dieser konnte frühestens nach dem Tod und
der Auferstehung Christi offenbart werden. Die jüdische Umzäunung, in die Er
während der Tage seines Fleisches eingetreten war, gab es nicht mehr. Der
Wechsel der Haushaltung dämmerte herauf. Wir sehen, wie streng der Geist Gottes
vom Anfang bis zum Ende an seinem Thema festhält.
Folglich schließt der Herr dann mit den Worten:
„Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis zur Vollendung des Zeitalters“ (V.
20). Wie sehr wäre die Form der Wahrheit abgeschwächt, wenn nicht sogar zerstört
worden, wenn wir jetzt noch von seiner Himmelfahrt läsen! Es ist klar
ersichtlich, wie sehr die sittliche Kraft dieser Worte in dem Zusammenhang, in
dem sie hier stehen, bewahrt wird. Er beauftragte seine Jünger und sandte sie
auf ihre weltweite Mission mit den Worten:
„Siehe, ich bin bei euch alle Tage.“ Dadurch, dass wir danach nichts
mehr hören und sehen, wird die Kraft dieser Worte unermesslich groß. Er verhieß
ihnen seine Gegenwart bis zur Vollendung des Zeitalters; und danach fiel der
Vorhang. Wir hören und sehen mit den Augen des Glaubens, wie Er für immer bei
den Seinen auf der Erde ist, während sie auf ihren kostbaren, aber auch
gefährlichen Botengang hinausgehen. Mögen wir aus all dem, was Er uns gegeben
hat, wahren Nutzen ziehen!
|