Offenbarung 12 Satans Sturz Gerhard Meier
Quelle: Gerhard Meier
IV Zusammenfassung
1.
Offb 12,7–12 gehört zu den „Kernstücken“ der Offenbarung.
Der hier berichtete „Satanssturz“ oder „Drachensturz“
bedeutet eine tiefe Zäsur in der Heils- und Weltgeschichte.
Der Satanssturz hat drei hauptsächliche Konsequenzen:
a) der Teufel und seine Engel bleiben fortan vom Himmel
ausgeschlossen,
b) der Teufel kann die Gläubigen wegen ihrer Sünden nicht
mehr anklagen,
c) er muss sich jetzt auf die Erde konzentrieren.
2.
Was in Offb 12,7–12 steht, hat Johannes tatsächlich gesehen
und gehört. Es kann keine Rede davon sein, dass hier „zwei
Mythen aus der Urzeit … zusammengezogen seien“. Auch
Parallelen zur Austreibung Ischtars als Morgenstern, wie sie
hinter Jes 14,12 und Offb 12,9 angenommen werden, bleiben
in Äußerlichkeiten stecken.
Für die Erklärung von Offb 12,7–12 genügen vollkommen das
Alte Testament und die Jesusüberlieferung.
3.
Damit stimmt überein, dass Offb 12,7–12 einen auffallend hebräischen und
alttestamentlichen Sprachcharakter aufweist.
4.
Damit stimmt auch überein, dass die Aussage vom Sieg der Gläubigen über
den Teufel nicht nur in anderen johanneischen Schriften
vertreten wird (vgl. 1Joh 2,13.14; 4,4; 5,4.5), sondern auch
sonst im NT (z.B. 1Kor 15,57; 1Petr 5,9; Jak 4,7).
5.
Insgesamt bestätigt sich auch in unserem Abschnitt, dass das
Johannesevangelium bzw. die anderen johanneischen Schriften
und die Offenbarung eng zusammengehören.
6.
Offb 12,7–12 bringt unter anderem wichtige Einsichten zur
Realität des Bösen und zur Person des Bösen schlechthin, des
Teufels.
Es ist beinahe eine Satanologie in nuce. Offb 12,9
identifiziert für den Geltungsbereich der Heiligen Schrift
die Schlange von Gen 3 mit dem Teufel, dem Satan und dem
großen Drachen und zieht damit eine Gesamtlinie durch die
Schrift.
Offb 12,9 bekräftigt ferner Jesu Aussage vom
Satanssturz in Lk 10,18 und lässt uns erkennen,
dass dieser Satanssturz im historischen Augenblick des
Kreuzestodes Jesu eintrat.
Im Schriftvergleich ergibt sich außerdem, dass der Teufel
bzw. Satan ein von Gott geschaffener guter Engel war,
der von Gott abfiel und durch diese Rebellion gegen Gott zum
„Mörder und Lügner“ wurde (Joh 8,44).
So hat mit Recht schon Irenäus im 2. Jh. n.Chr. gedeutet.
7.
In Offb 12,7–12 setzt sich der hymnologische Charakter der Offenbarung
fort.
Den Hymnus in Offb 12,10–12 als „Akklamation“ zu
bezeichnen, führt zu Missverständnissen.
Denn es geht weder um eine Akklamation bei einer Art
Thronbesteigung Christi oder gar Gottes noch um irgendeinen
Akt der Anerkennung.
Sondern es geht um den Jubel der Beschenkten und Staunenden,
die aus tiefer geistlicher Betrübnis und Not befreit sind
(vgl. Röm 8,22; Offb 6,9ff) – einen echten Befreiungsjubel.
8.
Einer Reihe von Deutungsversuchen konnten wir nicht folgen.
Dazu gehörte die Reduzierung von Offb 12,7ff auf einen
Rechtsstreit, die z.B. G.B. Caird vornimmt. So wichtig die
rechtliche Seite des Sieges Jesu am Kreuz und die
Herstellung des göttlichen Rechts auch ist, so wichtig ist
doch andererseits die Lösung der Machtfrage.
Nicht folgen konnten wir der Tendenz, den teuflischen Gegner
von Offb 12,7ff wenigstens teilweise auf Rom bzw. das
Römische Reich zu deuten.
Denn Offb 12,7ff geht weit über solche zeitgeschichtlichen
Bezüge hinaus und schildert das, was die Zeitgeschichte
übergreift und die ganze Schöpfung betrifft.
Ebenso führen Bengels chronologische Berechnungen, die das
dritte Wehe auf die Zeit von 947 bis 1836 n.Chr. ansetzten,
in die Irre. Einen Fehlweg sehen wir auch in der Deutung,
die z.B. Luther, Vitringa und Bengel auf Vorgänge der Welt-
und Kirchengeschichte vornahmen:
etwa das damalige Papsttum (Luther), die Zeit von
Diokletian, Konstantin und Maxentius (Vitringa) oder die
Zeit des Swatopluk, Vratislaw, Wenzeslaw und Boleslaw
(Bengel).
9.
Schließlich ist festzuhalten, dass Offb 12,10–12 nicht nur
proleptischen (vorwegnehmenden) Charakter hat. Vielmehr
ereignet sich der Sieg der Gläubigen aufgrund des
Kreuzestodes und des Satanssturzes „schon jetzt und
fortlaufend“. Der Aorist νίκησαν [enikesan] („sie haben
gesiegt“) ist nur gewählt, um das Endresultat der ganzen
Geschichte zum Ausdruck zu bringen.
Herzliche Grüsse, Urs
Offenbarung 12 – Satans Absicht enthüllt:
Offenbarung 13 – Die Marionetten Satans beschrieben:
Offenbarung 14 – die Macht Satans besiegt:
Ausführlicher (gleiche Quelle)
Offenbarung 12,7–12 (HTA Re 12–22): 6.2 Der Kampf im
Himmel, 12,7–12
I Übersetzung
7
Und es kam zu einem Krieg im Himmel: Michael und
seine Engel kämpften mit dem Drachen. Und auch der
Drache kämpfte und seine Engel,
8
aber sie konnten nicht standhalten, und ihre Stätte wurde nicht mehr
gefunden im Himmel.
9
Und der große Drache, die alte Schlange, der Teufel genannt wird und der
Satan, der den ganzen Erdkreis verführt, wurde
geworfen, ja geworfen auf die Erde, und seine Engel
wurden mit ihm geworfen.
10
Und ich hörte eine laute Stimme im Himmel sagen:
Jetzt ist das Heil und die Kraft und die Herrschaft
unseres Gottes gekommen und auch die volle Macht
seines Messias, denn der Verkläger unserer Brüder,
der sie Tag und Nacht vor unserem Gott verklagte,
wurde verworfen. 11
Und sie haben ihn besiegt durch das Blut des Lammes
und durch das Wort ihres Zeugnisses. Und sie haben
ihr Leben nicht geliebt bis zum Tod. 12 Darum freut
euch, ihr Himmel und die darin wohnen! Wehe der Erde
und dem Meer! Denn der Teufel ist zu euch
hinabgestiegen mit großem Zorn, weil er weiß, dass
er nur wenig Zeit hat.
II Struktur
Der Einschnitt zwischen 12,6 und 12,7 ist
unübersehbar.
Die erste Hälfte von 12,1–6 wurde noch ganz durch
das doppelte φθη [ophthe], also die prophetische
Schau, bestimmt. Dagegen wechselt in 12,7–12 das
prophetische Erleben zum Hören, vgl. das κουσα
[ekusa] in V. 10. Mehr als die Hälfte des Abschnitts
12,7–12 wird durch den himmlischen Hymnus der Verse
10–12 gefüllt.
Die Frau von 12,1ff ist in 12,7ff in den Hintergrund
getreten.
Stattdessen dominiert jetzt das Motiv des Kampfes
zwischen den Engelheeren, an deren Spitze Michael
und der Drache stehen.
Erst mit V. 13 tritt die Frau wieder vor unsere
Augen.
Gewechselt hat auch der Schauplatz des Geschehens.
In V. 4b–6 war es die Erde gewesen. Jetzt befinden
wir uns im Himmel, „in heaven itself“, wie Mounce
betont, und nicht nur „in the sky“.
Die Eigenart unseres Abschnitts wird auch dadurch
bestimmt, dass hier der einzige Ort der Offenbarung
ist, wo Johannes einen Engel mit Namen nennt. Wir
werden der Bedeutung dieses Umstands im Kommentar
nachzugehen haben.
Zur Bedeutung unseres Abschnitts trägt ferner bei,
dass hier der Gegenspieler der Frau und der Gemeinde
mehrfach identifiziert wird. Offb 12,9 beinhaltet
wenigstens ansatzweise so etwas wie eine
Satanologie. In Offb 20,2 werden wir Ähnliches
erleben.
Die Abgrenzung zu V. 13ff wird doppelt markiert:
durch das Ende des Hymnus und durch den erneuten
Themenwechsel zur Frau von V. 1.
III Einzelexegese
Trotz der Bedeutsamkeit der Vorgänge behält Johannes
seinen knappen Stil bei:
Und es kam zu einem Krieg im Himmel (Καγένετο
πόλεμος ν τ οραν [Kai egeneto polemos en to urano]),
V. 7. Die Satzkonstruktion ist hier so ungewöhnlich,
dass Bousset „eine völlig irreguläre Konstruktion“
annahm. Düsterdieck schlug wegen dieser
Schwierigkeiten vor, die Worte πόλεμος ν τ οραν
[polemos en to urano] (Krieg im Himmel) zu
streichen.
Er konnte für seine Konjektur freilich nicht eine
einzige Handschrift anführen, sie war also ein
reiner Verzweiflungsschritt. Ganz ungewöhnlich ist
übrigens die Satzkonstruktion in V. 1 nicht, wenn
man mit Blass-Debrunner zweierlei in Rechnung
stellt:
a) die Neigung des Verfassers, „den Nom. statt
anderer Kasus zu gebrauchen“. So kommt es zur
Fortsetzung Μιχαλ [ho Michael] nach οραν
[urano].
b) Die auch in der LXX vorkommende Konstruktion mit
το [tu] vertritt den hebräischen Inf. cstr. mit לְ
[le].
Sie drückt „die Bereitschaft oder Verpflichtung zu
einer Handlung“ aus.
So kommt es zu der Fortsetzung το πολεμσαι [tu
polemesai] usw.
Wir sollten also in V. 1 bei dem jetzt von
Nestle-Aland abgedruckten Text bleiben.
Wieso es gerade jetzt zu einem Krieg im Himmel kam,
wird nicht näher erläutert. Wir können nur aus dem
Zusammenhang schließen, dass der Drache durch die
Geburt und Entrückung des Messias (12,4–6) aufs
Äußerste erregt war und auch aufs Äußerste gehen
wollte, um den Fortgang des Heils zu verhindern.
Sonst hätte er sich unmöglich auf einen Krieg im
Himmel eingelassen. Begonnen hat er diesen Krieg
freilich nicht.
γένετο [egeneto] sollte man nicht mit „entbrannte“
übersetzen, sondern bei der Wortbedeutung „es
geschah“, „es entstand“, „es kam zu“ (= hebr.
וַיְהִי [wajehi]) bleiben. So viel Widerstand, dass
ein Kampf „entbrannte“, war dem Drachen gar nicht
möglich.
Dass im Himmel ein Krieg sein soll, ist für
uns befremdlich.
Himmel und Krieg passen in der postmodernen Romantik nicht zusammen.
Bousset wollte 2Makk 5,2f und Josephus B. J. VI,
296ff zur Erklärung heranziehen.
Aber dort ist nur von Erscheinungen „am Himmel“ (sky) und nicht von einem
Krieg „im Himmel“ (heaven) die Rede. Auch Ass Mo
10,1ff taugt hier nicht, weil hier nur die
Geisterwelt angerufen wird. Viel näher liegen
biblische Stellen wie Sach 3,2; Dan 10,13.20f; 12,1;
Jud 9, die zeigen, dass die Engelwelt in die Kämpfe
des Gottesvolkes hineingezogen ist. Schlatter wollte
Jes 27,1 als Erklärungsbasis heranziehen. Aber in
Jes 27,1 ist es Jahwe selbst, der zum Schwert
greift, sodass diese Stelle nur eine sehr entfernte
Parallele darstellt. Die genannten biblischen
Stellen spiegeln sich übrigens auch in der
Qumranliteratur, sodass wir dort ebenfalls
Parallelen zu Offb 12,7 finden (vgl. 1QM IX, 15;
XVII, 5ff). Alle Parallelen dürfen jedoch nicht
darüber hinwegtäuschen, dass der Vorgang in Offb
12,7 einzigartig ist. Denn hier wird der Himmel, der
Ort des Heiligen, entweiht und gespalten durch den
Kampf der Engelheere. Man versteht von da aus, warum
„selbst die Himmel nicht rein sind vor“ Gott (Hiob
15,15; vgl. 4,18; 25,5).
Im Folgenden nennt V. 7 die Gegner: Michael und
seine Engel (Μιχαλ κα ο γγελοι ατο [ho Michael kai
hoi anggeloi autu]) und der Drache und seine Engel (
δράκων καo γγελοι ατο [ho drakon kai hoi anggeloi
autu]).
Michael, hebr. מִיכָאֵל [michael], ist niemand
anders als der aus dem AT und dem frühen Judentum,
aber auch dem NT wohlbekannte Engelfürst (vgl. Dan
10,13.21; 12,1; Jud 9; ä Hen 9,1; 10,11; 20,5; 24,6;
40,9; 68,2; 69,14ff; 1QM XVII, 6ff). Zwar gibt es
auch den menschlichen Personennamen Michael (Num
13,13 u. ö.), aber hier kann kein Zweifel sein, dass
der Engel Michael gemeint ist. „Michael“ heißt: „Wer
ist wie Gott?“ Seine Persönlichkeit tritt also ganz
hinter seinem Zeugnis zurück.
Im Danielbuch wird er „Fürst“ (שַׂר [sar]) genannt,
in Jud 9 „Erzengel“ (ρχάγγελος [archanggelos]).
Außer Michael findet sich im AT nur noch „Gabriel“
als Engelname (Dan 8,16; 9,21), ebenso im NT (Lk
1,19.26), hinzu kommt in den Apokryphen „Rafael“
(Tobit 3,17; 12,15).
Vermutlich hat Hadorn recht mit seiner Annahme, dass
Johannes nur deshalb in Offb 12,7 ausnahmsweise
einen Engelnamen nennt, „weil dieser Name in der
Schrift bezeugt ist“.
Sonst befleißigt sich Johannes den Engeln gegenüber
äußerster Zurückhaltung. Ein Engelkult wird in der
Offenbarung ebenso schroff abgelehnt wie im übrigen
NT
(vgl. Offb 22,8f; Röm 8,38; 1Kor 6,3; Gal 1,8; Kol
2,18).
Neben Michael stellt Johannes seine Engel. Das
erstaunt. Denn es können ja nur Gottes Engel sein.
Sein drückt also kein Besitzverhältnis aus, sondern
nur die Zugehörigkeit: Es sind die zu Michael
gehörenden, an seiner Seite kämpfenden Engel. Ein
Name fällt hier nicht mehr. Allerdings ist klar,
dass Michael dieses Heer der guten Engel Gottes
anführt. Spätestens jetzt ergibt sich eine weitere
wichtige Beziehung: „Michael und seine Engel“ treten
wie in Dan 10,13; 10,20f; 12,1 für das Volk Gottes =
die Gemeinde ein.
Deshalb heißt Jahwe auch „Jahwe Zebaoth“ = „Jahwe
der Heerscharen“.
Wir wenden uns der Gegenseite zu. Hier stehen der
Drache und seine Engel. Der Drache (δράκων [drakon])
erhält keinen Namen. In V. 9 aber wird er
identifiziert. Seine Engel bedeutet: Es gibt ein
Engelheer, das von Gott abgefallen ist und jetzt
seinem Anführer, dem Drachen, anhängt. Auch Jesus
spricht in Mt 25,41 vom „Teufel und seinen Engeln“.
Vgl. zum Abfall einer unbekannten Zahl von Engeln
Gen 6,1ff; Hiob 1,6ff; 2,1ff; 4,18; 15,15; 25,5; Jes 14,12ff; Sach 3,1ff;
1Kor 6,3; 2Kor 12,7; 2Petr 2,4; Jud 1,6ff.
Es zieht sich ein tiefer Riss durch die
unsichtbare Welt.
Kein Zweifel: Michael
und sein Heer beginnen diesen Krieg im Himmel.
Denn dort, wo wir übersetzten: kämpften mit dem
Drachen, ist der Sinn zugleich: „Sie mussten mit dem
Drachen kämpfen“. Letzten Endes geht es also um
einen Krieg auf Anordnung und im Auftrag Gottes.
Sein Ziel ist eine erste Reinigung des Himmels,
darüber hinaus aber auch die Verweisung des Drachen
in seine Grenzen. Wenn Bousset schreibt, in Offb
12,7 begegne uns die „Vorstellung, dass der Drache
hier mit Gewalt den Himmel zu stürmen sucht“, dann
stellt er die Verhältnisse auf den Kopf. Das wird in
der Fortsetzung noch deutlicher.
Noch einmal sei das Erstaunliche unterstrichen:
Der Drache nimmt den Kampf an: Und auch der Drache kämpfte und seine
Engel. Welche Vermessenheit!
Allerdings hatte schon in Offb 11,7 „das Tier aus
dem Abgrund“ mit der christlichen Gemeinde in
Gestalt der zwei Zeugen gekämpft und sie besiegt.
Und auch in Jud 9 wagt sich der Drache = Teufel in
einen Streit mit Michael. Sehr vorsichtig kann man
vermuten, dass der Drache seine Sache noch nicht
verloren gibt, solange er es mit „untergeordneten“
Wesen zu tun hat: mit der Gemeinde, mit anderen
Engeln, mit dem Mensch gewordenen und „niedrigen“
Gottessohn (vgl. Joh 14,30).
Aber gerade dadurch fällt Licht auf einen
elementaren Umstand: Nicht Christus, nicht „der
Erhöhte selbst tritt hier … in Aktion“, geschweige
denn Gott der Vater. Sondern nur ein Engel, wie es
der Drache selbst ja ist: nur Michael. Das genügt.
Der knappen Art des Johannes entspricht es, auch das
Resultat des Krieges so knapp wie möglich zu
formulieren: aber sie (= der Drache und seine Engel)
konnten nicht standhalten, und ihre Stätte wurde
nicht mehr gefunden im Himmel (V. 8).
In den Handschriften gibt es zwei ernsthafte
Möglichkeiten beim dritten Wort des Verses:
σχυσεν [ischysen] oder σχυσαν [ischysan]. Die beiden
sonst verlässlichsten Textzeugen, A und C, sind
hier gespalten.
Da nach dem vorausgehenden πολέμησεν [epolemesen]
eine Änderung in σχυσεν [ischysen] leichter denkbar
ist, wird wohl σχυσαν [ischysan] (= sie konnten
standhalten) als lectio difficilior vorzuziehen
sein.
Das griechische οδέ [ude] bedeutet „auch nicht“,
„nicht einmal“.
σχύω [ischyo] geht auf hebr./aram. יכל [jachal]
zurück. יכל [jachal] hat wie σχύω [ischyo] die
Bedeutungen „können; vermögen; gelingen; überlegen
sein; siegen; fassen; ertragen; aushalten (können)“.
In Offb 12,8 liegt die gesamte Bandbreite vor. Vom
Kontext her empfiehlt sich nicht standhalten können.
Uns scheint, dass Offb 12,8 in bewusstem Gegensatz
zu Dan 7,21 formuliert ist, wo es heißt:
„Und dieses Horn führte Krieg mit den Heiligen und besiegte sie“
(וְיָכְלָה לְהוֹן [wejochlah lehon]).
Das „Horn“ = der Antichrist siegt also (vgl. Offb
13,7). Der Drache aber mit seinem Engelheer siegt
nicht!
In „sie konnten nicht standhalten“ steckt vielleicht
mehr als die trockene Notiz über eine Niederlage.
Nicht einmal ein Teilsieg, nicht einmal ein echter
Kampf ist dem Drachen möglich. Er hat schlichtweg
nichts aufzubieten gegen einen Michael, der durch
Gottes Gerechtigkeit den Kampf führt (vgl. Eph
6,11ff; 2Thess 2,8; Offb 19,15). Überhaupt darf man
sich bei diesen himmlischen Kämpfen nicht an
irdischen Schlachtenbildern und materialistischen
Vorstellungen orientieren.
Der folgende Satz und ihre Stätte wurde nicht mehr
gefunden im Himmel (οδ τόπος ερέθη ατν τι ν τ οραν
[ude topos heurethe auton eti en to urano]) hat
viele Diskussionen ausgelöst.
Er markiert zunächst den Gipfel der Niederlage:
Der Drache und sein Heer verlieren nicht nur den
Kampf, sondern auch die Heimstätte.
Im Gegensatz zur Frau, die nach V. 6 „einen Ort
(τόπον) hat, der von Gott vorbereitet ist“, haben
sie jetzt „im Himmel“ keinen Ort (τόπος), keine
Stätte mehr.
In Helmut Kösters Worten:
„Nur wer seinen Platz hat, kann wirklich bestehen.“ Hier kündigt sich das
Ende des Drachen und damit das Ende alles Bösen an.
Hatten demnach der Drache und seine Engel vorher
einen „Ort“, genauer: Aufenthaltsberechtigung und
Wohnort im Himmel? Gerade da setzt die Diskussion
an. Man kann die gestellte Frage aber nur bejahen,
trotz aller Rätsel, die sie mit sich bringt.
Schon im AT ist klar erkennbar, dass der Teufel =
Satan und Drache zusammen mit den anderen Engeln „im
Himmel“ weilt (Hiob 1,6ff; 2,1ff; Sach 3,1ff,
andeutungsweise auch Jes 14,12ff).
Jesus vertritt dieselbe Sicht (Lk 10,18).
Dann aber ist der Schluss unausweichlich, dass der
„Drache“ ehemals ein guter Engel Gottes war, wie die
anderen Engel von Gott geschaffen, vermutlich sogar
ein hochgestellter Engel, der aber von Gott abfiel,
weil er selbst wie Gott sein wollte (vgl. Jes 14,14;
Gen 3,5). Als solcher genoss er aus Gottes
unergründlicher Liebe noch lange ein Zutritts- und
Aufenthaltsrecht im Himmel. Wenn ihm verschiedene
Forscher aber einen Wohnort „im untersten Himmel“
zugewiesen haben, so ist das reine Spekulation.
V. 9 sagt wieder in ganz kurzen Worten, wie es mit
dem Drachen weiterging: Und der große Drache … wurde
geworfen, ja geworfen auf die Erde. Zweimal steht
hier das Verbum finitum βλήθη [eblethe], dazu
βλήθησαν [eblethesan] im Blick auf „seine Engel“.
Wenn der Drache auf die Erde geworfen wurde,
bedeutet dies, dass er aus dem Himmel ausgewiesen
wurde. „βάλλειν wird … im NT besonders im
Zusammenhang des Gerichtsgedankens … gebraucht“, wie
F. Hauck bemerkt. Ein Gericht vollzieht sich also.
Wir stehen hier vor dem berühmten „Drachensturz“
oder „Satanssturz“. Die nächste Parallele ist Lk
10,18. Dort sagt Jesus: „Ich sah den Satan vom
Himmel fallen wie einen Blitz“ (θεώρουν τν σατανν ς
στραπν κ το ορανο πεσόντα [etheorun ton satanan hos
astrapen ek tu uranu pesonta]). Wann geschah das,
was Jesus in Lk 10,18 und Johannes in Offb 12,9
prophetisch schauten? Diese Frage lässt sich durch
Joh 12,31 beantworten, die nächste wichtige
Parallele.
Dort sagt Jesus:
„Jetzt ergeht das Gericht über diese Welt; nun wird der Fürst dieser Welt
ausgestoßen werden“ (νν κρίσις στν το κόσμου τούτου,
νν ρχων το κόσμου τούτου κβληθήσεται ξω [nyn
krisis estin tu kosmu tutu, nyn ho archon tu kosmu
tutu ekblethesetai exo]). Der Drache = Teufel wird
also „ausgestoßen“ aus dem Himmel zum Zeitpunkt des
Kreuzestodes Jesu, durch den Sieg Jesu am Kreuz, den
Johannes seine „Erhöhung“ nennt (Joh 12,32). Erst
durch Jesu Kreuzestod erhält Michael im Himmel die
Vollmacht zum Hinaus-Werfen Satans. Erst so wird
Gottes Recht durchgesetzt.
Bei dieser Gelegenheit ist mit Jörg Frey
festzuhalten, dass „Offb 12 … in Joh 12,31 …
strukturparallel aufgenommen“ ist. Wieder
begegnet uns die engste Verwandtschaft zwischen
Offenbarung und Johannesevangelium.
Dieser Drachensturz markiert einen der tiefsten
Einschnitte in der Weltgeschichte. Denn bis dahin
konnte der Drache = Teufel seine Position mit „groß
Macht und viel List“ im Himmel vertreten. Ab jetzt
ist ihm seine Behausung im Himmel, die er seit
seiner Erschaffung innehatte, entzogen. Die Folgen
schildert gleich anschließend der Hymnus in V. 10ff.
Man darf allerdings diesen Drachensturz nicht
verwechseln mit dem endgültigen Sieg Gottes am Ende
der Zeiten. Er ist ein wichtiger Schritt auf dem
Wege zu diesem Ziel, aber noch nicht das Heil. Das
ergibt sich allein schon durch die Tatsache, dass
sich der Drachensturz vor ca. 2000 Jahren unserer
Zeitrechnung ereignete, aber das Wüten des Drachen
auf Erden durch diese ganze Zeit hindurch
weiterging.
V. 9 bringt nun weiterhin eine fünffache
Identifikation:
1)
Es handelt sich um den „großen Drachen“ mit den
sieben Häuptern und zehn Hörnern von V. 3. Näheres
siehe in der Erklärung zu diesem Vers.
2)
Es handelt sich zugleich um die „alte Schlange“ (φις ρχαος [ho ophis ho
archaios]). So heißt er auch in Offb 20,2. In V. 13
und 14 ist ebenfalls von der „Schlange“ die Rede.
Nach G. Delling ist φις ρχαος [ho ophis
ho archaios] „übernommen aus dem (an Gen 3
entstandenen) rabbinischen Sprachgebrauch.“
Jedenfalls ist der Bezug auf die „Schlange“ von Gen
3,1ff sicher. Die „alte Schlange“ ist also die seit
Urzeiten auftretende Schlange, die uns schon im
Paradies begegnet.
3) Gleichzeitig wird er „Teufel genannt“ (
καλούμενος Διάβολος [ho kalumenos Diabolos]). Das
deutsche Wort „Teufel“ kommt von diesem griechischen
„Diabolos“. Johannes formuliert so, als ob „Teufel“
ein Zuname wäre („genannt“). Vermutlich empfand er
den Begriff „Diabolos“ = „Teufel“, der erst von der
griechischen Bibelübersetzung geschaffen wurde,
noch immer als etwas Fremdsprachliches. „Diabolos“
geht zurück auf διαβάλλω [diaballo], das folgende
Bedeutungen hat: „auseinanderbringen; abbringen;
anklagen, verleumden; täuschen“. Deshalb bedeutet
„Diabolos“: „Auseinanderbringer“, „Ankläger“ (vgl.
V. 10), „Widersacher“, „Verführer“.
4)
Außerdem ist er „der Satan“ ( Σατανς [ho Satanas]).
Hier stoßen wir auf einen biblisch-hebräischen
Begriff. Das hebräische שָׂטָן [satan] bedeutet
„Widersacher“, „Gegner“ und wird öfters auf Menschen
angewandt, in Num 22,22.32 sogar auf den Engel
Gottes, der zum „Widersacher“ Bileams wird. „Der
Satan“ schlechthin ist aber ein bestimmter Engel,
der im Himmel auftritt und als Ankläger oder
Verführer die Menschen Gottes quälen und zu Fall
bringen will (1Chron 21,1; Hiob 1,6ff; 2,1ff; Sach
3,1ff). Auch er wird mit dem großen Drachen
identifiziert. Das NT hat die Aussagen des AT über
den Satan sinngemäß aufgenommen (vgl. Mt 16,23; Lk
10,18; 22,31f).
5)
Schließlich ist der große Drache derjenige, „der den
ganzen Erdkreis verführt“ ( πλανν τν οκουμένην λην
[ho planon ten oikumenen holen]). Das Verführerische
klang schon beim Namen „Satan“ an. Jetzt aber tritt
es in den Vordergrund. Da im Griechischen hier kein
Name mehr steht, wie es von 1) bis 4) der Fall war,
sondern ein Partizip (πλανν [planon]), könnte sich
die Bemerkung der … verführt grammatikalisch auch
auf alle vier zuvor genannten Identifikationsfiguren
beziehen. Wir betrachten es jedoch als fünfte,
selbstständige Identifikation.
Die Auslegung bleibt dieselbe
. πλανάω [planao] heißt „irreführen“, d.h. auf den
falschen Weg führen, oder „täuschen“. οκουμένη
λη [he oikumene hole] (der ganze Erdkreis) bedeutet
„die ganze bewohnte Erde“. Es darf nicht auf die
Heiden eingegrenzt werden, denn der große Drache
versucht auch, die Christusgläubigen zu verführen
(vgl. Mt 24,24; 1Petr 5,8). „Verführen“ muss als die
Absicht verstanden werden, die Menschen in seinen
eigenen Irrweg hineinzuziehen und zur Anbetung des
Drachen statt zur Anbetung des dreieinigen Gottes zu
bewegen (vgl. Mt 4,9; Offb 13,4ff).
Betrachtet man
Offb 12,9, dann wird die Deutung des großen Drachen
auf Rom ganz unmöglich. Schon menschlich weiß
Johannes als gebürtiger Jude, dass das Reich der
Römer nicht der ganze Erdkreis ist:
Er kennt Nachrichten genug über die Länder jenseits der römischen Grenzen
mit ihrer machtvollen Kultur, über Äthiopien,
Arabien, Persien, Indien, über Skythen, Germanen,
Afrikaner.
Wenn er vom „ganzen Erdkreis“ spricht, hat er wie
Lukas in Apg 2,5ff und wie die Völkertafel in Gen 10
die ganze Völkerwelt vor Augen. Erst recht ist der
„Satan“, der „Teufel“ und Versucher eine universale
antigöttliche Macht. Eine Einengung auf das
vergängliche Römerreich wird der Wucht und Größe der
Aussage von Offb 12 nicht gerecht. Schon der
alttestamentliche Sprachgebrauch lässt dies nicht
zu.
Und seine Engel wurden mit ihm geworfen:
Das dreimalige geworfen hat den Charakter des
Endgültigen. Wer dem Teufel anhängt, teilt sein
Schicksal.
Der folgende Hymnus der V. 10–12 besingt die Folgen
des Satanssturzes: Und ich hörte eine laute Stimme
im Himmel sagen (V. 10). Schon öfters begegnete uns
die laute Stimme als eine Stimme mit Autorität (vgl.
Offb 1,10; 5,2.12 usw.). Sie bringt in Offb 12,10–12
das zum Ausdruck, was Gottes Engel bewegt. Ab V. 10
dominiert das Hören bei Johannes, ab V. 13 wieder
das „Sehen“.
Ein Jubelruf erschallt: Jetzt (ρτι [arti]) ist das
Heil (σωτηρία [soteria]) und die Kraft (δύναμις
[dynamis]) und die Herrschaft (βασιλεία [basileia])
unseres Gottes gekommen. Ein unumstößliches Jetzt!
ἄρτι [arti] ist „nahezu synonym mit νν“. Es bedeutet
„in diesem Augenblick“, „in dieser
heilsgeschichtlichen Stunde“. Speziell zu Offb 12,10
bemerkt Gustav Stählin, es gehe hier um die
„Vorwegnahme der letzten Dinge“. Es ist also ein
entscheidender Schritt zur Vollendung getan. Doch
noch sind wir nicht ganz am Ziel!
Nebenbei sei notiert, dass der Sprachgebrauch von
νῦν [nyn] und ἄρτι [arti] wieder die engste
Verwandtschaft von Johannesevangelium und
Offenbarung zeigt.
Vom Heil unseres Gottes
ist auch in Offb 7,10; 19,1 die Rede. Heil, σωτηρία [soteria], geht auf
die hebräische Wortgruppe ישׁע [jascha] zurück und
bedeutet „Hilfe“ und „Rettung“. „Heil unseres
Gottes“ meint mehr, als „daß Gott die σωτηρία
zukommt und daß sie sein geworden ist“. In Offb
12,10 ist vielmehr gemeint, dass Gott das Heil, das
nur er schenken und durchsetzen kann, für die ihm
anvertrauten Menschen erreicht hat. Hier ist in der
Tat der Endzustand schon vorweggenommen. γένετο
[egeneto] muss hier als „entstand“, „kam zustande“,
„ist gekommen“ verstanden werden. Mit Recht wird der
„Klang des Sieges“ an dieser Stelle notiert.
Hinzu kommt die Kraft unseres Gottes.
Auch dazu gibt es Parallelen in Offb 4,11; 7,12;
11,17; 19,1. δύναμις [dynamis] bedeutet Gottes
endzeitliche Kraft als „Geschichtskraft, die die
Welt und Geschichte zu ihrem Ziele bringt“. Durch
den Sturz Satans ist ein Haupthindernis für ihre
volle Entfaltung aus dem Weg geräumt. Mit Recht
können wir jetzt mit dem Vaterunser bekennen: „Denn
dein ist das Reich und die Kraft.“
Hinzu kommt als Drittes die Herrschaft unseres
Gottes. βασιλεία [basileia] geht zurück auf hebr.
מַמְלָכָה [mamlachah] oder מַלכוּת [malchut], die
beide sowohl die Königswürde als auch das Reich
eines Königs bezeichnen. Das AT betont, dass letzten
Endes Gott der König schlechthin ist (vgl. Ps 93–99;
Jes 33,22). Seine Herrschaft wird gepriesen (1Chron
29,11; Dan 2,44; 3,33; 4,31; 7,27; Ob 21).
Sie wird am Ende der Zeiten erwartet. Bei den
jüdischen Rabbinen zur Zeit Jesu und des Johannes
ist viel von der מַלְכוּת הַשָּׁמַיִם [malchut
haschschamajim] = der „Königsherrschaft der Himmel“
die Rede, wobei „die Himmel“ als Umschreibung für
„Gott“ dienen. Es verwundert, dass Johannes nicht
wie Matthäus oder die Rabbinen βασιλεία τν ορανv
[basileia ton uranon] = „Königsherrschaft der
Himmel“ formuliert, sondern wie Markus und Lukas
βασιλεία το θεο [basileia tu theu] =
„Königsherrschaft Gottes“. Aber das tut er auch im
Evangelium (Joh 3,3.5)! Wieder zeigt sich, dass
Johannesevangelium und Offenbarung sprachlich eng
zusammengehören. Wenn jetzt … die Herrschaft unseres
Gottes gekommen ist, dann besingt der Hymnus erneut
den Wegfall der satanischen Gegenwirkung im Bereich
des Himmels (vgl. 11,15).
Auffallenderweise wird der Dreitakt „Heil“ –
„Kraft“ – „Herrschaft“ unseres Gottes durch
eine vierte Komponente ergänzt: und auch die volle
Macht (ξουσία [exusia]) seines Messias (το χριστο
ατο [tu christu autu]) (ist jetzt gekommen). Wir
haben das griechische Wort ξουσία [exusia] hier als
volle Macht wiedergegeben – nicht als „Vollmacht“ –,
um dem Sinn etwas näherzukommen. ξουσία [exusia],
hebr. מֶמְשָׁלָה [memschalah] oder der Wortstamm
שׁלט [schalat], umfasst „Recht“, „Macht“ und
„Vollmacht“.
Die Rabbinen sprechen hier meistens von רְשׁוּת
[reschut]. Dem erhöhten Jesus ist nach Mt 28,18
„alle ξουσία im Himmel und auf Erden gegeben“. Das
heißt, er hat die „Macht“, sie zu regieren, und es
ist sein „Recht“, dies zu tun, weil ihm der Vater
dazu die Vollmacht gab. Nimmt man Offb 12,7ff ernst,
dann erwarb er diese volle, rechtmäßige Macht durch
seinen gehorsamen Kreuzestod. Sein Kreuzestod
erlaubte Michael und seinen Engeln die Austreibung
Satans aus dem Himmel (s. oben). Das Jetzt in Offb
12,10 meint also tatsächlich das „Jetzt“ des
Kreuzestodes und Satanssturzes (vgl. Joh 12,31).
Die Bahn wird frei für das Wirken und Herrschen
Jesu, das nichts anderes ist als eine Form der
Herrschaft Gottes des Vaters. Das geht auch aus Offb
11,15 hervor. Alttestamentlich ist dies in Dan
7,14.27 angekündigt (vgl. Joh 3,35).
Der Hymnus nennt nun ausdrücklich den speziellen
Grund für die Veränderung in der Heils- und
Weltgeschichte, denn der Verkläger unserer Brüder,
der sie Tag und Nacht vor unserem Gott verklagte,
wurde verworfen (βλήθη [eblethe]).
Der Verkläger ist der Teufel, der Drache. Der
„Verkläger“ oder „Ankläger“ heißt hier κατήγωρ
[kategor] – das einzige Mal, dass dieser Begriff im
NT vorkommt. Bousset erblickte darin eine
„Hebraisierung“ des griechischen Wortes κατήγορος
[kategoros], doch Bauer-Aland und Blass-Debrunner
ziehen eine Ableitung „vom Gen.Pl. auf -όρων“ vor.
Bleibt auch die Herleitung unsicher, so ist doch der
Wortsinn eindeutig. Gemeint ist jedenfalls die
anklagende Tätigkeit des Diabolos und Satan, wie sie
in Hiob 1,6ff; 2,1ff; Sach 3,1ff erkennbar wird. Sie
traf unsere Brüder, wie die Engel sagen.
Wer ist das? Wer die „Schar der Vollendeten“ den
Hymnus anstimmen lässt, muss die „Brüder“
selbstverständlich auf die noch lebenden Christen
beziehen. Autoren wie Kraft und Wikenhauser oder
schon Bengel grenzen die „Brüder“ noch enger ein auf
die christlichen Märtyrer. Aber auch, wenn man die
Engel als diejenigen betrachtet, die den Hymnus
singen, können die „Brüder“ sehr wohl Menschen sein.
Das ergibt sich ohne Weiteres aus der Beobachtung,
dass der Satan in Hiob 1,6ff; 2,1ff; Sach 3,1ff; Lk
22,31 nur Menschen anklagt. Es ergibt sich aber auch
aus Offb 22,9. Eine Eingrenzung auf die Märtyrer ist
angesichts der soeben genannten biblischen Stellen
und im Blick auf den universalen Duktus des ganzen
Kapitels nicht ratsam. Wir gehen also davon aus,
dass mit den „Brüdern“ in der Tat allgemein die
Christen gemeint sind. Auf der positiven Seite ist
zu vermerken, dass die christlichen Gläubigen im
gekreuzigten und auferstandenen Jesus Christus den
besten Fürsprecher besitzen (Röm 8,34; 1Joh 2,1f;
Hebr 7,25).
Der sie Tag und Nacht vor unserem Gott verklagte:
Das griechische κατηγορν [ho kategoron] wird von einigen Auslegern
mit dem Präsens übersetzt („der sie verklagt“). Aber
nach dem Satanssturz kann sein Verklagen – wie Aune
richtig argumentiert – ja gar nicht mehr im
früheren Sinne weitergehen. Unser Gott erscheint
jetzt das zweite Mal in unserem Vers: ein Ausdruck
der tiefen, liebevollen Beziehung der Engel zu
„ihrem“ Gott. Erstmals sagt die Bibel hier, dass
Satan Tag und Nacht als Verkläger tätig war. Bengel
kommentiert dies so: „Grosser Haß und Kühnheit des
Klägers! Unbegreiffliche Langmut Gottes!
Preiswürdige Gerechtigkeit und Weisheit! daß er dem
Kläger so lange zusiehet, und erst alsdenn, wenn das
Recht wider jenen ausgemacht ist, die Macht
ergreift.“
Vor unserem Gott weist wie Hiob 1,6ff; 2,1ff; Sach
3,1ff darauf hin, dass Satan seine Anklagen im
Himmel vorbrachte.
Er wurde verworfen (βλήθη [eblethe]) bezieht sich
deutlich zurück auf das dreimalige βλήθη [eblethe]
(βλήθησαν [eblethesan]) in V. 9. Der Sieg Gottes
tritt in den Vordergrund, denn das Passivum divinum
führt den Sturz Satans letztlich auf Gottes Handeln
zurück. Die universalen Folgen des Satanssturzes
werden uns bewusst gemacht.
Bisher war vom Sieg Christi am Kreuz und dem davon
abgeleiteten Sieg Michaels die Rede. Überraschend
wird in V. 11 noch ein dritter Sieger genannt. Das
sind die Gläubigen auf Erden.
Das „emphatische“ ατοί [autoi] kann sich ja auf
niemand anderen beziehen. Aber ist ein solcher Sieg
der Gläubigen auf Erden nicht „befremdlich“, nachdem
zuvor Michael im Himmel siegte, ja der entscheidende
Sieg durch Jesus Christus selbst am Kreuz errungen
wurde?
Vgl. das „Es ist vollbracht“ in Joh 19,30.
Bei der Antwort auf die gestellte Frage ist zunächst auf die
Überwinderaussagen der Sendschreiben hinzuweisen,
die mehrfach von einem „Siegen“ bzw. „Überwinden“
der Gläubigen sprechen (2,7.11.17.26; 3,5.12.21).
Sodann hat Roloff wohl recht mit der Bemerkung, dass
der Sieg der Gläubigen im Unterschied zum einmaligen
Sieg Christi und auch Michaels „sich in ihrer …
Existenz immer wieder aufs Neue verwirklicht“. Es
handelt sich also genau genommen um die Fortsetzung
des Sieges Christi im Leben der Gläubigen. Das wird
gleich noch deutlicher werden. Schließlich
beobachten wir, dass sich das Wort νικν [nikan]
(„siegen“, „überwinden“) vor allem im johanneischen
Schrifttum findet.
Es gehört also zu den typischen Merkmalen der
Sprache des Johannes.
Wie kommt es zum Sieg der Gläubigen über den Satan
(ihn, ατον [auton])? Erstens durch das Blut des
Lammes (δι ταμα το ρνίου [dia to haima tu arniu]).
διά [dia] gibt den Grund an. Aufgrund des von Jesus
als dem Lamm vergossenen Blutes kann der Satan die
Gläubigen nicht mehr verklagen und nicht mehr
unterwerfen. Hier zeigt sich ganz klar, dass der
Sieg der Gläubigen nur die Fortsetzung des Sieges
Jesu Christi ins Einzelleben hinein ist. Mit den
Worten von
Otto Bauernfeind:
Der Sieg der Gläubigen ist „sachlich nichts anderes
… als das νικν des Christus“.
Gegen Kraft braucht man nicht an den sakramentalen
Empfang des Blutes zu denken, sondern eher an die
grundsätzliche Reinheit, die die Glaubenden durch
den Opfertod Jesu und sein Wort empfangen haben
(vgl. Joh 13,10; 15,3; 1Joh 1,7ff; 1Kor 1,30 sowie
Offb 7,14).
Der Sieg der Gläubigen über den Satan kommt zweitens
durch das Wort ihres Zeugnisses zustande. Hier sind
zwei Auslegungsmöglichkeiten denkbar:
a)
gemeint ist das Zeugnis (μαρτυρία [martyria]), das
die Gläubigen über Jesus Christus ablegen; oder
b)
es ist das „Zeugnis“ gemeint, das sie von Gott
empfangen haben (vgl. 2,8ff; 3,7ff). – Wie in Offb
1,2.9 liegt die Annahme a) näher. Durch das
„Zeugnis“, das sie vor der Welt und trotz der
Drohungen Satans ablegten (das Wort ihres
Zeugnisses), dokumentierten sie Geist und Kraft
Christi und wurden deshalb Sieger. Man vgl. Joh
1,7.19; Offb 6,9; 19,10; Tit 1,13.
Drittens haben sie ihr Leben nicht geliebt bis zum
Tod. Offensichtlich nimmt hier der Hymnus ein
Jesuswort auf, das sich sowohl bei den Synoptikern
(Mt 16,25; Mk 8,35; Lk 17,33) als auch im
Johannesevangelium (12,25) findet.
Dieses Jesuswort zielt darauf ab, dass seine
Nachfolger lieber den Tod erleiden als ihre
Nachfolge aufgeben.
Sind also in Offb 12,11 die Märtyrer gemeint?
Antwort: Sicher sind die Märtyrer das anschaulichste
Beispiel für solche, die ihr Leben nicht geliebt
haben bis zum Tod. Dennoch darf der Vers nicht auf
die Märtyrer eingeschränkt werden. Vielmehr geht es
um alle Glaubenden, die in der Bereitschaft von Mt
16,25 parr; Joh 12,25 ihr Leben führen, und die ja –
vor allem in Verfolgungszeiten – alle mit dem
Martyrium rechnen müssen.
Besser spricht man hier nicht vom „bis zum Tode
getreue(n) Zeugenmut“, sondern von Jesu Treue und
Kraft in den dazu bereiten Gläubigen.
Der himmlische Jubel mündet in die Aufforderung:
Darum freut euch, ihr Himmel und die darin wohnen!
(V. 12). Wie Lohmeyer u.a. notieren, ist diese
Aufforderung „bewußt alttestamentlich gehalten“.
εφραίνεσθε ορανοί [euphrainesthe uranoi] findet sich
wörtlich in Jes 49,13 und ganz ähnlich in Jes 44,23;
Ps 96,11 (LXX 95,11); Dtn 32,43. Dass die Schöpfung
und die Himmel ins Lob Gottes einstimmen, bringt das
AT mehrfach zum Ausdruck (vgl. Ps 98; 148; 150). Die
Jesajastellen 49,13 und 44,23 haben es speziell mit
der endzeitlichen Erlösung zu tun. Diese
endzeitliche Erlösung hat nun begonnen, und das ist
es, was in Offb 12,12 zum Ausdruck kommt.
„Die Himmel“ = הַשָּׁמַיִם [haschschamajim] gehört ganz zur Sprache des AT
und ist hier auf die geschaffene Himmelswelt und
nicht etwa auf Gott zu beziehen. Und die darin
wohnen sind die Engel.
Ein Bezug auf die „vollendeten Christen“ bzw.
„Seligen“ kommt deshalb nicht infrage, weil bis
jetzt ja nicht einmal die verstorbenen Märtyrer
schlichtweg „im Himmel“ wohnen, sondern in einem
besonderen Warteraum „unten am Altar“ (6,9).
Auffallenderweise schließt sich an den Jubelruf in
V. 12 noch ein Weheruf an: Wehe der Erde und dem
Meer! Bengel ist darin Recht zu geben, dass es sich
hier nach 9,12 und 11,14 um das dritte Wehe handelt,
das in 8,13 angekündigt wurde. Das dritte ist das
schlimmste Wehe. Dargestellt wird es in Offb
12,13–13,18. Man sieht daraus, dass Schicks
Überschrift über 12,1–14,5, „Das Kernstück der
apokalyptischen Prophetie“, mindestens teilweise
berechtigt ist. Erde und Meer bezeichnen die gesamte
Fläche der Erde, zusammengesetzt aus Kontinenten und
Ozeanen (vgl. Offb 10,2.5.8).
Das „Meer“ bedeutet hier also nicht das Völkermeer.
Stattdessen ist zu beachten, dass das erste und
zweite Tier von Offb 13 aus dem „Meer“ und der
„Erde“ heraufsteigen (13,1.11) – auch wenn „Meer“ in
Offb 13,1 eine andere Bedeutung hat.
Der Wehe-Ruf erinnert an das prophetische Wehe im AT
(Jes 1,4.24; Ez 24,9; Hos 7,13; 9,12; Am 5,18).
Er gilt allen Erdenbewohnern, Christen und
Nichtchristen. Für die Christen bedeutet er
verschärfte Verführung und Verfolgung (vgl. Mt
24,21ff), für die Nichtchristen das kommende
Gericht.
Begründet wird der Weheruf mit dem Hinabkommen des
Teufels auf die Erde, nachdem er seinen Platz im
Himmel verloren hat. Er heißt hier in V. 12 nur noch
der Teufel ( διάβολος [ho diabolos]). Die anderen
Benennungen von V. 9 sind dabei inbegriffen. Denn
der Teufel ist zu euch hinabgestiegen: vgl. V. 9.
Euch sind die Menschen auf der Erde. κατέβη
[katebe], er ist hinabgestiegen, ist nicht dasselbe
wie „geworfen“ (βλήθη) in V. 9. Man kann auch nicht
sagen, „hinabgeworfen“ sei nach „semitische(r)
Redeweise“ dasselbe wie „hinabgestiegen“.
Vielmehr drückt das „hinabgestiegen“ den Entschluss
und die Verantwortlichkeit des Teufels aus, der sich
jetzt nach seinem Hinauswurf aus dem Himmel auf die
Erde konzentrieren will. Er kommt mit großem Zorn,
weil er weiß, dass er nur wenig Zeit hat: Diese
wenige Zeit (λίγον καιρόν [oligon kairon]) besteht
im Wesentlichen aus den 3½ Jahren von Offb 12,14;
13,5. Eine völlige Identifizierung mit den 3½ Jahren
oder Zeiten von Offb 12,14; 13,5 sollte man ebenso
wie Johannes in Offb 12,12 vermeiden, weil auch die
Ereignisse von 12,13; 19,17ff; 20,1ff Zeit brauchen.
Aber sicherlich ist seine Begrenzung auf kurze Zeit der Grund für den
gesteigerten Zorn des Teufels.
Für die Leser der Offenbarung jedoch ist dieser
Schluss des Hymnus mit dem er hat nur wenig Zeit
(λίγον καιρν χει [oligon kairon echei]) eine frohe
Botschaft! Zeit, griech. καιρός [kairos], heißt ja
von Gott gesetzte Frist, von Gott bestimmte Zeit.
Nur so lange, als es Gottes Plan und Weltregierung
zulässt, darf der Teufel wüten!
Herzliche Grüsse, Urs
Hebr 4,13 und es gibt
nichts Geschaffenes, das sich vor ihm (d.h. vor
Gott) verbergen könnte, nein, alles liegt entblößt
und aufgedeckt vor den Augen dessen, dem wir
Rechenschaft abzulegen haben.
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